Ein westliches Familientreffen im Wohlfühl-Modus statt eines offenen Austauschs über schwierige Beziehungen und drängende Probleme: Das war die Münchner Sicherheitskonferenz 2021. Seit Jahrzehnten stehen üblicherweise kontroverse Sicherheitsfragen im Mittelpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz. Auch Gespräche zwischen entfremdeten Nachbarn wie Israel und Palästina oder Kontrahenten wie den USA und Russland werden geboten – teils auf offener Bühne, teils hinter verschlossenen Türen.

Warum war in diesem Jahr alles anders? Sicher, die Pandemie verlangte ihren Tribut – aus der üblicherweise mehrere Tage umfassenden Konferenz wurde ein eintägiges virtuelles Treffen, live im Internet übertragen. Gespräche zu subtilen Themen und vertrauliche Überlegungen zu heiklen Problemen waren entsprechend kaum möglich.

Doch erklärt die Verlagerung in den virtuellen Raum nicht die überraschende Gästeliste. Erstaunlicherweise wurden nur Politikerinnen und Politiker aus dem transatlantischen Raum sowie aus westlichen Organisationen eingeladen. Einzige Ausnahme war UN-Generalsekretär Antonio Guterres; aber auch er ist ja ein Westler. Etwas selbstbezogen, wie in einem Kokon, konzentrierten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vornehmlich auf transatlantische Familienangelegenheiten.

Vergesst Trump! „Beyond Westlessness“, die Überwindung der selbstverschuldeten Schwäche des Westens, so lautete entsprechend das Motto der Konferenz.

Ähnlich verhielt es sich bei den Themen. Den größten Eindruck hinterließ ausgerechnet die Leerstelle – doch dazu später mehr. Die Konferenz deckte ein breites Spektrum von Themen ab, gewiss. Natürlich ließ niemand die Covid-19-Krise unerwähnt; es wurden Versprechungen gemacht, alles zu tun, was zu ihrer internationalen Bekämpfung möglich sei. Der Rest der Welt werde bei der Vergabe des Impfstoffs nicht vergessen. Gleichzeitig aber tobt ein erbitterter Wettbewerb unter den reichen Ländern, sich möglichst viel Impfstoff zu sichern – die Versprechungen klangen entsprechend etwas wohlfeil.

Auch über Klimapolitik wurde gesprochen. Die Auswirkungen des Klimawandels auf unsere Sicherheit zu bekämpfen ist immerhin Teil der Vision der NATO für das Jahr 2030. Der Klimawandel sei ein Krisenmultiplikator, erläuterte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Ideen zur Umkehr der katastrophalen Entwicklung wurden auf der Konferenz aber nicht geboten. Vielleicht werden wir erst dann Aktionen sehen, wenn der Meeresspiegel weiter steigt und die Marinestützpunkte der NATO betroffen sind.

Bedeutsamer aber waren andere Themen. Eines stand im Mittelpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz und eines fiel gerade deswegen auf, weil es komplett abwesend war: die Wiederbelebung des Westens oder die Wiedergeburt der transatlantischen Gemeinschaft einerseits und Abrüstung und Rüstungskontrolle andererseits. Niemand unter den Vortragenden verhehlte die Freude darüber, die letzten vier Jahre der erratischen Politik in diesem Bündnis hinter sich gelassen zu haben. Vergesst Trump! „Beyond Westlessness“, die Überwindung der selbstverschuldeten Schwäche des Westens, so lautete entsprechend das Motto der Konferenz.

Ein Dialog, ein nachdenkliches Gespräch oder auch eine kontroverse Begegnung mit führenden Politikern aus Russland, China, Indien standen nicht auf der Tagesordnung.

Diplomatie ist wieder möglich, die Zusammenarbeit wieder da und das transatlantische Bündnis kann die globalen Herausforderungen angehen: die neu entdeckte alte Normalität. „America is back“, lautete Joe Bidens Mantra. Angela Merkel versprach, das militärische Engagement in Afghanistan, Libyen oder Mali beizubehalten und weiter hart an der Erfüllung der Zusage für die NATO-Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent zu arbeiten.

Frankreichs Präsident Emanuel Macron will eine neue Sicherheitsarchitektur mit einer Schlüsselrolle für die EU schaffen, um „strategische Autonomie“ zu erreichen und sich um regionale Konflikte in der europäischen Nachbarschaft zu kümmern. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen signalisierte die Bereitschaft der EU, sich an den EU-Grenzen selbst zu verteidigen. Jens Stoltenberg versicherte, dass NATO und EU keine Konkurrenten, sondern Kooperationspartner seien. Und „global Britain“, seit Kurzem außerhalb der EU weilend, wird Premier Boris Johnson zufolge „unsere Werte“ mit dem höchsten Verteidigungshaushalt aller Zeiten verteidigen.

Ein Dialog, ein nachdenkliches Gespräch oder auch eine kontroverse Begegnung mit führenden Politikern aus Russland, China, Indien, Saudi-Arabien, Brasilien oder mit den kriegführenden Parteien des Jemen, entfremdeten Nachbarn am Horn von Afrika, Demonstrantinnen und Demonstratnen aus Myanmar etc., all dies stand dagegen nicht auf der Tagesordnung. Den Krieg in Afghanistan – der einzige wirkliche Krieg, den die NATO in ihrer Geschichte führte – erwähnte kaum jemand in München. Nach zwei Jahrzehnten Kampf geht es nur noch darum, das Land ohne großen Gesichtsverlust so schnell wie möglich zu verlassen. Wie das geschehen soll, bleibt offen.

Ist es wirklich die alleinige Antwort des Westens, mit militärischen Mitteln im geopolitischen Konkurrenzkampf die Oberhand zu behalten?

Niemand erwähnte Abrüstung und Rüstungskontrolle – abgesehen von einer kurzen Bemerkung von UN-Generalsekretär Guterres. Er wiederholte seine Forderung nach „Global Governance“ und seinen Vorschlag für einen weltweiten Waffenstillstand, um die Waffen unter Kontrolle zu bringen und Verhandlungen zwischen potenziellen Gegnern anzustreben. Die übrigen Rednerinnen und Redner unterstrichen derweil lieber die Notwendigkeit zur Stärkung der militärischen Kapazitäten.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg gab den Ton an, indem er die Herausforderungen aufführte: den Aufstieg Chinas, ausgeklügelte Cyberangriffe, disruptive Technologien, Klimawandel, Russlands disruptives Verhalten und die anhaltende Bedrohung durch den Terrorismus. Die katastrophale Situation der Rüstungskontrollverhandlungen wurde dagegen nicht erwähnt. Anstelle der traditionellen Dialoge auf der Münchner Sicherheitskonferenz über solch strittige Themen konnte die Öffentlichkeit in diesem Jahr eine Menge Schulterklopfen unter westlichen Freunden beobachten (virtuell natürlich). Freundliche Gesichter, aufmunterndes Daumen-hoch auf den Bildschirmen und beruhigende Kommentare sollten deutlich machen, dass der Reset-Knopf für den Westen gedrückt sei. Die alte Normalität des US-geführten Eurozentrismus ist als Post-Trump-Ordnung wiederhergestellt.

Natürlich sind berechenbare Politiken in der transatlantischen Allianz und die Einhaltung internationaler Standards der unzuverlässigen und inkonsistenten Politik der letzten vier Jahre vorzuziehen. Aber ist es wirklich die alleinige Antwort des Westens, mit militärischen Mitteln im geopolitischen Konkurrenzkampf die Oberhand zu behalten? Offenbar hat der Schock der Pandemie nicht zu einer Änderung der Prioritäten geführt. Die weltweiten Militärausgaben erreichen einen neuen Höchststand: Der Anteil der Militärausgaben am globalen Einkommen belief sich 2020 auf 2,3 Prozent, fast 250 US-Dollar pro Person, so viel wie nie zuvor. Nach Daten des Stockholm International Peace Research Institute erreichten die Militärausgaben fast 2 000 Milliarden US-Dollar.

Die Münchner Sicherheitskonferenz 2021 bot leider keine Alternativen. Was wir jetzt brauchen, ist eine multilaterale Initiative in der UNO und in den G20, um die Belastung durch Verteidigungsausgaben zu verringern.

Der Anstieg ist zum Teil auf Corona zurückzuführen; da die Wirtschaftsleistung gesunken ist, führen gleichbleibende Militärausgaben zu einem höheren Anteil. Gleichzeitig haben einige Länder die militärische Beschaffung als Teil des wirtschaftlichen Konjunkturprogramms erhöht. Die 30 Mitglieder der NATO aber sind noch immer für etwa 60 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Die restlichen rund 170 Länder vereinigen die verbliebenen 40 Prozent auf sich, wobei Länder wie China, Indien und Saudi-Arabien in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten bei ihren Militärausgaben hatten. Die weltweiten Waffentransfers haben wieder Fahrt aufgenommen.

Ist es angesichts der Covid-19-Krise wirklich an der Zeit, in zusätzliche militärische Kapazitäten zu investieren? Es hätte nicht symbolträchtiger sein können: Die Pandemie wütet gerade in den USA und Westeuropa besonders krass. Die physische Anwesenheit vor Ort ist nicht möglich und die unmittelbare Gefahr der Pandemie, die größte Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg, ist für die Sicherheitspolitik irrelevant. Bei einem Schulaufsatz hätte man der westlichen Elite attestiert: Thema verfehlt!

Sind wir zurück in den Zeiten des Kalten Krieges, als Ost und West so stark in ihre eigenen Streitkräfte und ihre Waffen investierten, dass die Sowjetunion schließlich unter der wirtschaftlichen Last zusammenbrach? Haben wir nicht aus diesem Teil unserer Geschichte gelernt, dass Aktionen auf der einen Seite zu Reaktionen auf der anderen Seite führen? Die Münchner Sicherheitskonferenz 2021 bot leider keine Alternativen. Was wir jetzt brauchen, ist eine multilaterale Initiative in der UNO und in den G20, um die Belastung durch Verteidigungsausgaben zu verringern.