Am 11. und 12. Juli treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 29 Mitgliedsstaaten der NATO zu ihrem Gipfeltreffen in Brüssel. Zwar gibt es eine offizielle Agenda, auf der unter anderem eine reformierte Kommandostruktur, eine Ausbildungsmission für die irakischen Streitkräfte und die Beziehungen der Allianz zur Europäischen Union stehen. Sorgenvoll richten sich aber viele Blicke auf die „Agenda hinter der Agenda“, nämlich die Frage der transatlantischen Lastenteilung oder etwas allgemeiner – die Zukunft der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen.

Zwei Zeitungsberichte haben in den vergangenen Tagen einige europäische Sorgenfalten noch tiefer werden lassen: So soll das US-Verteidigungsministerium einen Abzug der in Deutschland stationierten US-Soldaten geprüft haben. Die Diskussion reichte angeblich von der Komplettverlegung der etwa 35.000 Männer und Frauen zurück in ihr Heimatland, die Vereinigten Staaten, bis hin zu einer Teil- oder Gesamtverschiebung der Kontingente nach Polen. Auch wenn das Pentagon diesen Bericht dementierte, sorgte er doch in Berlin für Verunsicherung. Diese wurde nicht kleiner, als Anfang Juli der Brief bekannt wurde, den Präsident Trump im Vorfeld des NATO-Gipfels an Bundeskanzlerin Merkel  – sowie in ähnlicher Form an eine Reihe anderer europäischer Regierungschefs – geschrieben hatte. Darin monierte er erneut, dass Deutschland zu wenig für die eigene Verteidigung ausgebe. Zudem warnte der Präsident die Bundesregierung davor, dass sein Land die Geduld verlieren würde, wenn Deutschland nicht bald den gemeinsamen NATO-Verpflichtungen zu einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben nachkomme. Zahlreiche Beobachter befürchten vor diesem Hintergrund einen ähnlich „disruptiven“ Gipfel wie vor wenigen Wochen das G7-Treffen in Kanada, das statt gemeinsamer Ordnungsvorstellungen einen Bruch innerhalb des „Westens“ in aller Deutlichkeit illustriert hat.

Auch wenn es sich lohnen kann derartige Negativszenarien zu diskutieren, ist ein Kollaps des Bündnisses nicht zu erwarten. Zwar hat sich der US-Präsident im Wahlkampf und danach immer wieder isolationistisch geäußert und dadurch Ängste vor einem Einsturz des wichtigsten Grundpfeilers der transatlantischen Sicherheit, der NATO, genährt. Doch verläuft seine Politik gegenüber den europäischen Bündnispartnern weiter in traditionellen Bahnen. Stichwort Bündnisverpflichtung: Vertreter der Regierung Trump haben den Artikel 5 des NATO-Vertrages, die Beistandsklausel, die den Kern der Allianz bildet, mehrfach öffentlich bekräftigt. Dies mag vielen europäischen Politikern wie eine lustlose Pflichtübung erschienen sein, war aber nach den Ausführungen des Kandidaten Trump, denen zufolge die NATO obsolet sei, nicht zu erwarten gewesen. Zweitens hat die Trump-Administration keinen Zweifel daran gelassen, dass die USA ihren militärischen Beitrag zur Sicherung der NATO-Ostflanke und Abschreckung Russlands leisten würden. So haben die Vereinigten Staaten im März 2017 1.000 Soldaten im Rahmen einer multinationalen Kampftruppe nach Polen verlegt. Zudem sind selbst nach Jahren des Abbaus unter früheren Präsidenten immer noch ein Drittel derjenigen amerikanischen Truppen in Europa stationiert, die die USA in Übersee unterhalten. Dieses Engagement ist dauerhaft finanziell unterlegt. Der Verteidigungshaushalt für das Jahr 2018 sieht für die sog. Europäische Abschreckungsinitiative Ausgaben in Höhe von 48 Milliarden Dollar vor, was eine Steigerung von über 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Drittens Nuklearwaffen: Die Regierung Trump hat deren Präsenz in Europa bislang nicht in Frage gestellt. Wie in den Jahrzehnten zuvor gelten sie als äußerste Zeichen der Selbstverpflichtung Amerikas, notfalls militärisch für die Sicherheit Europas einzustehen. Und selbst der scheinbar größte Konflikt des vergangenen Jahres in den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen markiert keinen strukturellen Bruch: Die Forderung nach einer gerechten finanziellen Lastenteilung und der damit verbundenen Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben ist bereits von vielen amerikanischen Präsidenten erhoben worden, nicht zuletzt von Barack Obama, der vielen Beobachtern als der letzte transatlantische Präsident der USA gilt.

Bislang hat die Trump-Administration damit losgelöst von ihrer Rhetorik zumindest ein Grundinteresse an den Tag gelegt, weiterhin die europäische Sicherheit und Dauerhaftigkeit der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen zu garantieren. Dies ist nicht wenig in Zeiten, in denen außenpolitische Gewissheiten, multilaterale Regime und Institutionen in Frage gestellt werden, an Bedeutung verlieren oder in Folge veränderter Kosten-Nutzen-Rechnungen bewusst unterminiert oder zerstört werden, ganz besonders von der Regierung Trump. Und so werden dann im Fall der NATO auch formalrechtliche Schritte keine Anwendung finden, wie beispielsweise der vollständige Austritt der USA aus dem Bündnis oder seiner  integrierten Kommandostruktur, was für sich allein bereits das Ende der nordatlantischen Allianz bedeuteten würde. Die amerikanische Politik wird stattdessen wie gehabt auf drei Wegen darauf zielen, aus der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA Kapital zu schlagen:

Erstens wird Washington weiterhin die NATO-internen Verfahren und Routinen in seinem Sinne zu beeinflussen suchen wie beispielsweise in der Frage der transatlantischen Lastenteilung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die europäischen Gegenleistungen in den Augen des US-Präsidenten ausbleiben sollten. Und hier sind die amerikanischen Möglichkeiten nahezu grenzenlos: Die Zahl und der Umfang gemeinsamer NATO-Manöver ließe sich beispielsweise genauso reduzieren wie das amerikanische Engagement in Afghanistan oder andere Ressourcen, die die USA für die NATO aufwenden.

Eine zweite Strategie wird die permanente Drohung mit dem Ausbau bilateraler sicherheitspolitischer Beziehungen zu einzelnen NATO-Ländern sein, deren Ausdruck beispielsweise die Stationierung amerikanischer Truppen, gemeinsame Manöver oder der privilegierte Zugang zu amerikanischen Rüstungsgütern sein könnte. Erkennbar ist eine solche Politik bereits gegenüber Polen. Und es würde wenig überraschen, wenn während des Trump-Besuchs in London am 13. Juli nicht das Konzept der amerikanisch-britischen „special relationship“ in diesem Sinne reaktiviert würde. Ohne formal die NATO in Frage zu stellen, unterminierte eine solche Politik bereits den inneren Zusammenhalt des Bündnisses, indem Trump gezielt den Eindruck von näheren und distanzierteren, d.h. ungleichen Beziehungen innerhalb der Allianz schafft.

Schließlich bleibt als drittes Element der amerikanischen Strategie die kalkulierte Drohung mit der politischen Vernachlässigung europäischer Sicherheitsanliegen. Auch wenn dem amerikanischen Präsidenten beim bilateralen Gipfel mit Präsident Putin am 16. Juli in Helsinki in der Frage des Abbaus von Sanktionen gegenüber Moskau die Hände gebunden sind, so reicht doch bereits der Eindruck, dass die USA und Russland ohne die Beteiligung der Europäer zu einem Einvernehmen in sicherheitspolitischen Fragen – möglicherweise zur Ukraine, möglicherweise zu Syrien – bereit sein könnten, mit der Folge, dass die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen entwertet würden.

Donald Trumps Sicherheitspolitik basiert auf der Annahme einer multipolaren Ordnung. Multipolarität bedeutet aber nicht Multilateralismus. Tendenziell wird die Trump-Administration daher die Verpflichtung zum gemeinsamen Handeln in der und durch die NATO auch zukünftig in Frage stellen. Keine angenehmen Gipfelperspektiven für Europa.