„Wenn ich die Wahl zwischen Gerechtigkeit und Ordnung habe, dann entscheide ich mich für Ordnung.“ Henry Kissinger

Wenn europäische Politiker auf Donald Trump treffen, geht es vordergründig um die Lastenteilung innerhalb der NATO, die Bewahrung des Freihandels, die Beziehung zu Russland und die Krisen dieser Welt von Nordkorea bis Syrien. Doch tatsächlich geht es um viel mehr: Um die Zukunft der internationalen liberalen Ordnung. 

Nach gut 100 Tagen Donald Trump muss man leider feststellen, dass sich die Hoffnungen, es werde schon nicht so schlimm kommen, nicht bewahrheitet haben. Zwar hat Trump eine Reihe atemberaubender Kehrtwenden hingelegt und findet die NATO nun plötzlich doch nicht mehr „obsolet“, die USA sollen die NAFTA nun doch nicht verlassen und in Syrien und Nordkorea verfolgt er nicht die erwartete isolationistische, sondern eine interventionistische Politik. Dahinter ist jedoch keine langfristige, politische Strategie erkennbar. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er in wenigen Tagen oder Wochen eine gegenteilige Politik propagiert.

Wie sich die Weltmacht zum Gespött der Welt macht

Im Weißen Haus scheint die Unvernunft eines Narzissten zu regieren, der mit dem Schicksal der mächtigsten Nation der Welt spielt und von notorischem Selbstmitleid und einem tief sitzenden Hass auf die liberale Presse zerfressen ist. Mehr noch: Es mangelt ihm an Respekt vor dem demokratischen Rechtsstaat und er scheint – zurückhaltend formuliert – nicht gerade dem Prinzip der Wahrhaftigkeit verpflichtet zu sein. Auch die Hoffnung, dass das Amt den Inhaber stärker formt als der Inhaber das Amt, hat sich bislang nicht bewahrheitet.

Trotzdem wehren sich die Institutionen und das System der Checks and Balances in der seit fast zweieinhalb Jahrhunderten existierenden amerikanischen Demokratie bislang recht erfolgreich gegen den Frontalangriff aus dem Weißen Haus – ja man hat geradezu das Gefühl, dass einige von ihnen, wie die liberale Presse, durch Trump geradezu wiederbelebt wurden. Zudem ist Trump mit nahezu jeder seiner Initiativen (Einreiseverbot, Gesundheitsreform, drastischer Erhöhung des Militärbudgets) an Bundesrichtern oder dem Kongress krachend gescheitert. Ob, was und wann irgendetwas von seinen Wahlkampfversprechen umgesetzt werden wird, ist weitgehend offen. Es stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist Donald Trump bereit, das Prinzip der Gewaltenteilung anzuerkennen und den Rechtsstaat zu achten? Mit dem Rauswurf von FBI-Direktor James Comey erweckt er einmal mehr den Eindruck, dass er versucht, sich über das Gesetz zu stellen. Und ist er in der Außenpolitik willens, geschlossene Verträge einzuhalten oder wird alles zur Verhandlungsmasse, zu bilateralen „Deals“?

Die USA unter Donald Trump laufen Gefahr, von einer globalen Führungsmacht zu einem Land des Nationalismus und Isolationismus zu werden, von einem „wohlmeinenden Hegemon“, der internationale öffentliche Güter bereitstellt, zu einer unberechenbaren Großmacht unter anderen Großmächten. Das Ende der Pax Americana wird somit nicht durch einen Herausforderer, sondern durch die USA selbst eingeläutet. Das dadurch entstehende Machtvakuum lädt andere Mächte geradezu ein, es auszufüllen. So hat China durchaus die Chancen erkannt, die sich durch Trumps Aufkündigung der von Obama verhandelten Trans-Pacific Partnership (TPP) für Peking ergeben. Schließlich sollte das Abkommen auch dazu dienen, die hegemonialen Ambitionen Chinas zu begrenzen und einzuhegen.

Die internationale Ordnung unter Druck

Die internationale Ordnung ist derzeit weniger von Machtkonzentration als von Machtdiffusion geprägt. Während Russlands Macht nur noch dazu reicht, die internationale Ordnung zu stören und Chinas Macht und Wille (noch!) nicht ausreicht, sie zu gestalten, ist die einzige Macht, die dazu in der Lage wäre – nämlich die USA – offenbar nicht mehr dazu bereit, als Garantie- und Ordnungsmacht aufzutreten. Ob die Europäische Union zusammen mit anderen liberalen Demokratien (Australien, Brasilien, Japan, Kanada, Mexiko) dieses Machtvakuum wird auffüllen können, bleibt abzuwarten.

Wir sind offenbar Zeuge, wie eine neue globale Machtstruktur entsteht, in der die alten Gewissheiten über den Haufen geworfen werden und die liberale Weltordnung deutliche Risse zeigt.

Wir sind offenbar Zeuge, wie eine neue globale Machtstruktur entsteht, in der die alten Gewissheiten über den Haufen geworfen werden und die liberale Weltordnung, welche die letzten siebzig Jahre währte, deutliche Risse zeigt – ja sogar deren Ende in den Bereich des Denkbaren rückt. Internationale Werte und die uneingeschränkte Gültigkeit von internationalen Abkommen werden zum Beispiel auch von Russland und China zunehmend in Frage gestellt. So wächst die Befürchtung, die Trump-Regierung könnte Gefallen am Vorschlag Niall Fergusons finden, Amerika, China und Russland sollten die Welt in Machtbereiche aufteilen. Donald Trump hat zumindest eine Auseinandersetzung darüber angestoßen, wie diese Welt aussehen soll. Soll sie nach Regeln funktionieren oder nach dem Recht des Stärkeren? Wollen wir offene Gesellschaften und internationale Kooperation oder die Rückkehr zum Nationalismus? Wir können nur hoffen, dass der galoppierende politische Irrsinn sich bald totläuft und ihm entschieden entgegentreten wird. Es hat schon früher und immer wieder Angriffe auf die liberale Weltordnung gegeben. Neu ist, dass diese heute auch aus dem Weißen Haus selbst kommen. Die USA, die Schöpfer der liberalen Weltordnung, sind unter Donald Trump gerade dabei, diese in Schutt und Asche zu legen.

Droht eine „Oligarchie der Autokraten“?

Wird es künftig ein Bündnis der starken Männer (Trump, Xi Jinping, Putin) geben, die über die Köpfe der anderen Nationen hinweg ihre Einfluss- und Interessenssphären abstecken? Alle drei Machtmenschen haben bereits klargemacht, dass für sie Regeln und das internationale Recht nur dann gelten, sofern diese ihren Interessen nicht im Weg stehen. Putin mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und seinem militärischen Eingreifen in der Ostukraine und im Syrienkrieg, Präsident Xi mit völkerrechtswidrigen Gebietsansprüchen und militärischen Provokationen im südchinesischen Meer und Präsident Trump mit seinem Versprechen, die vertraglichen Verpflichtungen der USA (TPP, WTO, NATO, NAFTA etc.) aufzukündigen beziehungsweise neu zu verhandeln.

Überhaupt scheint diese sich herausbildende neue „Oligarchie der Autokraten“ in erster Linie bilaterale Beziehungen von Staat zu Staat, statt komplizierter multilateraler Verhandlungen zu bevorzugen. Dabei muss man weniger Kompromisse schließen, sondern es gewinnt zumeist der Stärkere. In Moskau – und seit dem 20. Januar 2017 ganz offensichtlich auch in Washington – wird Außenpolitik zunehmend als Nullsummenspiel betrachtet, bei dem nationale militärische Stärke und Einflusszonen immer Vorrang vor vertragsgestützter, kooperativer Sicherheit haben.

Ein neues Konzert der Großmächte oder Jalta 2.0 ist gleichwohl unwahrscheinlich. Zu groß sind die Konkurrenz und die Interessensgegensätze. Trump steht wegen seiner „Russland-Connection“, die ihn schon zwei führende Regierungsmitglieder gekostet hat, unter Druck und verschärfter öffentlicher Beobachtung. Und auch Präsident Putin scheint mittlerweile den „Mehrwert“ einer Präsidentschaft Trumps deutlich nüchterner zu bemessen. Es deutet deshalb einiges darauf hin, dass die von vielen prognostizierte Männerfreundschaft zwischen Trump und Putin an den unterschiedlichen Interessen beider Staaten ebenso scheitern wird, wie an den ähnlich wild wuchernden Egos der beiden Herren. Dabei scheint Trump durchaus den „Erfolg“ von Putin kopieren zu wollen. Beide versuchen mit außenpolitischen Aktionen von ihrem innenpolitischen Versagen abzulenken. Auch Putins Trumpf, den Unberechenbaren zu geben, der notfalls willens ist, einen Konflikt immer weiter zu eskalieren, um seine Widersacher zum Einlenken zu bewegen, sticht nicht mehr. Spätestens seit Trump scheint Putin kein Monopol mehr auf diese Rolle zu haben – Kim Jong Un und Recep Tayyip Erdogan versuchen sich derzeit ebenfalls darin.

Weltpolizist Trump?

Nach dem Bombenangriff auf die syrische Luftwaffenbasis stellt sich zudem die Frage, ob die 59 amerikanischen Marschflugkörper Vorboten eines Strategiewechsels sind, der die von Trump versprochene außenpolitische Zurückhaltung beendet und die USA zurück in die Weltpolizistenrolle bringt oder ob der Militärschlag vor allem innenpolitisch motiviert war. Es spricht einiges für Letzteres. Immerhin hat Trump durch den Raketenangriff dreierlei erreicht. Seine historisch einmalig schlechten Popularitätswerte sind erstmals wieder nach oben gegangen und erstmals lobt die kriegsbegeisterte amerikanische Presse (und nicht nur die) ihn übereinstimmend für seine „Entschlusskraft“. Zudem hat er sich von seinem Vorgänger Obama abgesetzt, dessen rote Linie 2013 bekanntlich ohne Konsequenzen vom Assad-Regime überschritten wurde. Und last but not least hat er die Spekulationen um seine „Freundschaft“ zu Putin und die russischen Einflüsse auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zumindest vorübergehend verstummen lassen.

Protektionismus und Aufrüstungsrunden

Kaum überraschend ist auch der Welthandel für den amerikanischen Präsidenten ein Nullsummenspiel und kein Wohlstandsgewinn für alle, ein Wirtschaftskrieg zwischen Nationen, in dem der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen ist. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Import- und Schuldenweltmeister Amerika nun sein Heil im Protektionismus sucht. Trump ist davon überzeugt, dass sein protektionistischer Kurs Amerika zu großem Wohlstand und Stärke führen wird. Eine Erkenntnis, die er bislang weitgehend exklusiv hat. Überhaupt fällt eine merkwürdige Mischung aus Größenwahn und Weinerlichkeit ins Auge. Trump zeichnet ein Bild von den USA als einer ständig von Verbündeten übervorteilten und benachteiligten Macht, die deswegen am Rande des Abgrundes steht. Die Zahlen sprechen hingegen eine ganz andere Sprache. Obama hat seinem Nachfolger ein Land mit überwiegend guten wirtschaftlichen Rahmendaten überlassen. Die Antwort auf die Frage, wie der Präsident sein gigantisches Steuersenkungsprogramm, seine vorerst gescheiterte Gesundheitsreform und zudem noch die geplante Aufrüstung des Militärapparates finanzieren möchte, kann eigentlich nur lauten: durch eine noch gigantischere Staatsverschuldung!

Trump zeichnet ein Bild von den USA als einer ständig von Verbündeten übervorteilten und benachteiligten Macht, die deswegen am Rande des Abgrundes steht.

Ein weiteres Projekt, welches der Präsident vorantreibt ist die weitere Aufrüstung der mit weitem Abstand stärksten Militärmacht der Welt. Allein die von Trump geplante Steigerung der amerikanischen Verteidigungsausgaben um zehn Prozent oder 54 Milliarden Dollar im kommenden Haushaltsjahr ist etwa ein Drittel größer als der gesamte deutsche Verteidigungshaushalt. Auf der anderen Seite will Trump die Mittel für die "Soft-Power“ von Diplomatie und Entwicklungshilfe um fast ein Drittel zusammenstreichen. Aufgrund der Zerstrittenheit der Republikaner im Kongress war Trump auf einen Konsens mit den Demokraten angewiesen, die dem Haushaltsentwurf des Präsidenten auf verschiedenen Feldern die Zähne gezogen haben, so dass die Steigerung des Militärbudgets nun vorerst deutlich hinter den Plänen zurückbleibt.

Schon heute geben die NATO-Mitglieder mit rund 900 Milliarden Dollar dreimal so viel für ihre Armeen aus, wie Russland und China zusammen. Die USA haben im vergangenen Jahr 3,3 Prozent ihres BIP, 611 Milliarden Dollar, für Rüstung ausgegeben. Sollten nun auch die 23 NATO-Staaten, die unter der Zwei-Prozent-Zielmarke liegen, ihre Verteidigungsausgaben entsprechend erhöhen, würde die NATO in diesem Jahr 962 Milliarden Dollar ausgeben, statt 881 Milliarden im Jahr 2016. Das ist mehr als die gesamte übrige Welt zusammen in Verteidigung investiert, nämlich 57 Prozent der globalen Militärausgaben. Deutschland wäre in diesem Szenario mit 69 Milliarden der viertgrößte Militärinvestor der Welt; tatsächlich liegt es mit etwa 41 Milliarden Dollar auf Platz neun.

Über den deutschen Verteidigungsetat bestimmt jedenfalls auch künftig nicht der amerikanische Präsident, sondern der Bundestag.

Mit anderen Worten: Es wäre kompletter Irrsinn, blind dem militärischen Aufrüstungswahn des US-Präsidenten zu folgen. Die Äußerung Trumps, Deutschland schulde der NATO große Summen, ist schlichter Unfug und die darin implizierte Gleichsetzung von NATO und USA spricht Bände. Das 2-Prozent-Ziel ist zudem eine willkürliche Größe, die nichts über den jeweiligen Beitrag zur internationalen Sicherheit aussagt. Dabei steht außer Frage, dass die Bundeswehr mehr Geld bekommen muss, nicht um aufzurüsten, sondern um die durch eine verfehlte Reformpolitik in der letzten Dekade verursachten Lücken zu schließen. Entscheidend ist dabei nicht die Quantität, sondern die Qualität. Über den deutschen Verteidigungsetat bestimmt jedenfalls auch künftig nicht der amerikanische Präsident, sondern der Bundestag. Hinzu kommt, dass die Europäer bis zu 30 Prozent ihrer Rüstungskosten einsparen könnten, wenn sie bei der Beschaffung neuer Waffensysteme besser kooperieren würden.

Das letzte, was die Welt braucht ist ein globaler Rüstungswettlauf, der derzeit leider schon in verschiedenen Regionen in vollem Gange ist und Ressourcen absorbiert, die eigentlich dringend für andere Ausgaben, etwa Bildung, Forschung, Gesundheit, Infrastruktur oder Umweltschutz gebraucht werden.

Wir brauchen ein Bündnis aller liberalen Demokratien und Demokraten

Es sind goldene Zeiten für Apokalyptiker. Wenn vor einem Jahr jemand prophezeit hätte, dass Großbritannien aus der EU austreten, Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten und die Türkei sich auf dem Weg in eine islamische Präsidialautokratie befinden würden, er wäre zweifelsohne für verrückt erklärt worden.

Es gibt immerhin erste Anzeichen dafür, dass der Schock die Europäer aufgeweckt hat. Der Brexit und der irrlichternde Donald Trump haben mit Pulse of Europe das Entstehen einer proeuropäischen Bürgerbewegung gefördert, die ebenfalls keiner vor einem Jahr prognostiziert hätte. Mit dem Sieg von Alexander van der Bellen bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen, dem Dämpfer für Geert Wilders bei den niederländischen Parlamentswahlen und dem Sieg von Emanuel Macron bei der Stichwahl am 14. Mai scheint der Vormarsch der Populisten fürs Erste gestoppt. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Trend bei der Bundestagswahl fortsetzen wird. Die liberalen Demokratien und Demokraten müssen sich zusammenschließen, um gemeinsam mit libertären Gesellschaftsgruppen, NGOs und Bürgerrechtsbewegungen die werte- und regelbasierten internationalen Organisationen gegen ihre autoritären Herausforderer von außen und innen zu verteidigen. Nicht nur die OSZE, die EU und die NATO, auch die G20 und die WTO so wie alle multilateralen Handels-, Umwelt-, Klima- und Rüstungskontrollregime, ja das gesamte System der Vereinten Nationen müssen sturmfest gemacht werden. Dafür müssen sich die noch verbliebenen liberalen Demokratien der Welt zusammentun, um den Trumps, Putins, Erdogans und Orbans dieser Welt Paroli zu bieten.