Seit mehr als zehn Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine und ein Ende ist nicht in Sicht – genauso wenig wie direkte Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Diese waren zuletzt am 17. Mai 2022 von beiden Seiten abgebrochen worden. Immer wieder gibt es in Deutschland seitdem Aufrufe zu mehr Diplomatie, um die Kampfhandlungen zu beenden, sei es in Meinungsartikeln oder offenen Briefen. Oft verbunden mit dem Appell an die Bundesregierung, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen: Frieden schaffe man schließlich nicht mit Waffen, sondern mit Waffenstillstand, und die Fortführung des Krieges mit dem ohnehin unrealistischen Ziel eines ukrainischen Sieges, bei dem das gesamte von Russland besetzte Territorium zurückerobert werden könne, bedeute nur unnützes Blutvergießen. Angesichts der schrecklichen Bilder des Leids und der Zerstörung, die uns täglich aus der Ukraine erreichen, sind diese Aufrufe nur allzu nachvollziehbar. Dennoch wäre es jetzt genau das Falsche, die Ukraine zu Verhandlungen zu drängen – oder gar zur Aufgabe von Teilen ihres Territoriums und der Menschen, die dort leben.
Sicherlich wünscht sich niemand sehnlicher, dass die Waffen schweigen, als die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Sie sind die Opfer dieses Krieges. Ihre Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen sind durch russische Raketen- und Drohnenangriffe zerstört worden. Viele haben ihre Wohnung verloren. Sie sitzen bei Luftschutzalarm in den Schutzräumen, haben oft stunden- oder tagelang keine Heizung, keine Elektrizität und keine Wasserversorgung. Die genaue Zahl der an der Front gefallenen Soldaten ist unbekannt, US-amerikanische Schätzungen gehen von bis zu 100 000 Gefallenen aus. Und doch will die ukrainische Regierung den Kampf gegen den russischen Aggressor weiterführen – und nur dann direkt mit Russland verhandeln, wenn sich der Kreml zuvor vor einem international besetzten Tribunal für Kriegsverbrechen verantwortet und alle Truppen aus der Ukraine abzieht, auch aus den rechtswidrig annektierten Gebieten. Dabei wird sie von der großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung unterstützt.
Denn den Ukrainern ist klar, dass es Russlands Präsidenten Wladimir Putin nicht darum geht, eine sichere Koexistenz mit einer souveränen und unabhängigen Ukraine zu finden, die ihren zukünftigen Weg selbst bestimmen kann. Er möchte, dass sie verschwindet. Seiner Auffassung nach ist die heutige Ukraine nichts weiter als eine „Kolonie mit einem Marionettenregime“, ein von außen kontrolliertes feindliches „Anti-Russland“, gegen die „wirklichen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen des Volkes und die wahre Souveränität der Ukraine“ errichtet. Die Ukraine und Russland sind für Putin „ein Volk“. Eine von Russland unabhängige Ukraine, die die Öffnung gegenüber Europa nach dem Vorbild der zentraleuropäischen Nachbarländer anstrebt, ist nicht akzeptabel, denn sie stellt die Grundlage des russischen Imperiums infrage, dessen Zerfall Putin unbedingt verhindern will.
Es gibt bislang keinerlei Anlass, zu glauben, dass sich Putins Denken in den letzten Monaten geändert hat.
Die immer wieder geäußerten Annahmen, es gehe Russland letztlich nur darum, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, oder geografisch nur um den Donbass, sind falsch. Die Ukraine müsste in Wahrheit auf viel mehr verzichten: auf ihre Freiheit, ihre Identität, ihre Selbstbestimmtheit, ihre Kultur. Die Zerstörung ukrainischen Lebens, ukrainischer Kunst, ukrainischer Staatlichkeit sowie Repressionen – von Mord über Vergewaltigung bis hin zu Verschleppungen – in den besetzten Gebieten zeigen dies deutlich.
Es gibt bislang keinerlei Anlass, zu glauben, dass sich Putins Denken in den letzten Monaten geändert hat – wie jedes neue Telefonat des Bundeskanzlers mit Putin aufs Neue gezeigt hat. Im Gegenteil, mit jedem weiteren Schritt macht Putin klar, dass er nicht zu Zugeständnissen bereit ist. Zwar erwähnen er oder andere Mitglieder des russischen Regierungsapparats regelmäßig das Wort „Verhandlungen“, allerdings ohne bislang auch nur eine konkrete Option vorzulegen. Erst Ende Dezember 2022 wiederholte Russlands Außenminister Sergej Lawrow die Forderung nach der „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine und bezeichnete die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete der Ukraine als „neue Territorien“. Ganz offensichtlich hat Putin sein Ziel der vollständigen politischen Kontrolle über das Land nicht aufgegeben, sondern lediglich sein Vorgehen und seinen Zeithorizont angepasst. Weil Russland militärisch nicht erfolgreich war, sollen nun die verheerenden Luftangriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung und die Energieinfrastruktur den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen und das Land mürbe machen – bis Russland im Frühjahr zu einer neuen Offensive wieder in der Lage ist.
Putin setzt außerdem darauf, dass die Unterstützerstaaten im Westen bald – auch unter dem Druck ihrer Bevölkerungen – müde werden und ihnen die Waffen, die Munition und das Geld für Kiew ausgehen. Wenn der Westen nun auf Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen drängte, vielleicht noch verbunden mit der Drohung, andernfalls die Unterstützung für die Ukraine einzustellen, würde das dem Kreml signalisieren, dass seine Methode Erfolg verspricht und er nur abwarten muss, bis wir die Geduld verlieren. Keiner der Befürworter eines baldigen Waffenstillstands hat bislang überzeugend darlegen können, wie Putin zu Zugeständnissen zu bewegen ist, ohne weiter militärischen Druck auf ihn auszuüben.
Gerade wir Deutschen haben jahrelang immer wieder das Mantra wiederholt: „Es gibt keine militärische Lösung“ für diesen oder jenen Konflikt. Anders Wladimir Putin: In Georgien, auf der Krim und in Syrien hat er gelernt, dass er sehr erfolgreich militärische Gewalt einsetzen kann, um seine politischen Ziele zu erreichen. In der jetzigen Auseinandersetzung schaffen deshalb militärische Erfolge der Ukraine erst die Voraussetzung dafür, dass es nicht zu einem Diktatfrieden kommt. Anders ausgedrückt muss Russland zunächst militärisch gestoppt und zurückgedrängt werden, damit es überhaupt eine Chance auf echte Diplomatie geben kann. Es geht darum, die Ukraine in die Lage zu versetzen, sich gegen die russische Invasion zu behaupten, und Putin zu zeigen, dass auch eine neue Militäroffensive im Frühling keine Aussicht auf Erfolg haben wird – und dass sich dies auch mit der Zeit nicht ändern wird.
Der Westen selbst hat ein überragendes Interesse daran, dass Putin keinerlei Gewinn aus seinem Angriffskrieg zieht.
Der Westen selbst hat ein überragendes Interesse daran, dass Putin keinerlei Gewinn aus seinem Angriffskrieg zieht. Seine Ambitionen sind eine Gefahr für ganz Europa. Wenn er erneut damit durchkommt, Teile eines anderen Staates in revisionistischer Absicht mittels Gewalt und nuklearer Erpressung unter seine Kontrolle zu bringen, lädt dies zur Wiederholung an anderer Stelle ein, sei es durch Russland oder einen anderen Staat. Das Ziel einer ganzheitlichen Revision der europäischen Sicherheitsordnung, die für Frieden und Wohlstand auch bei uns in Deutschland unerlässlich ist, hat Russland mit den Vertragstexten vom Dezember 2021 ausgegeben.
Die Entscheidung von Deutschland, den USA und Frankreich, die Ukraine nun auch mit Schützen- und Spähpanzern zu beliefern, ist daher konsequent. Sie unterstreicht, dass die großen Militärmächte des Westens die Ukraine eben nicht in einen für sie unakzeptablen Deal mit Russland hineinzwingen werden. Selbstverständlich gilt es, bei der militärischen Unterstützung immer die Gefahr einer Eskalation im Blick zu behalten. Gerade der Raketeneinschlag an der polnisch-ukrainischen Grenze hat aber gezeigt, dass der Westen sich dessen bewusst ist, dass er besonnen reagiert und zum Risikomanagement fähig ist.
Zu echten Verhandlungen wird es erst wieder kommen, wenn sowohl Russland als auch die Ukraine beide zu der Einschätzung gelangen, dass ein Waffenstillstand mehr bringt als das Weiterkämpfen. Vielleicht werden die Karten nach dem Frühjahr neu gemischt. Wenn der „heiße Herbst“ und der „Wutwinter“ in Europa ausgeblieben sind, die westlichen Demokratien weiter fest an der Seite der Ukraine stehen, und eine neue russische Offensive erfolglos blieb. Sicher ist: Jedwede Verhandlungen und jeder Kompromiss werden das entstandene Kräfteverhältnis zwischen den Kontrahenten widerspiegeln. Unser Ziel muss es deshalb sein, die Ukraine für diesen Zeitpunkt so gut wie möglich aufzustellen und sich jetzt schon gemeinsam mit Kiew auf den Moment vorzubereiten, in dem sich das Fenster für Diplomatie tatsächlich öffnet.