Im Jahr 2024, fast ein Vierteljahrhundert nach dem letzten großen Balkankonflikt, ist Serbien noch immer in der katastrophalen Politik des ehemaligen Präsidenten Slobodan Milošević verfangen. Diese Politik hatte in den 1990er Jahren zur gewaltsamen Auflösung Jugoslawiens und schließlich zum Verlust der De-facto-Souveränität der früheren autonomen Provinz Kosovo geführt. Die serbische Außenpolitik, die noch immer stark von der Kosovo-Frage diktiert wird, bringt Serbien unweigerlich auf Kollisionskurs mit seinem erklärten Ziel der EU-Mitgliedschaft.

Zu Beginn der Regierun­gszeit von Präsident Aleksandar Vučić stand die serbische Außenpolitik noch im Zeichen des Ausgleichs zwischen Ost und West. Seit den gefälschten Wahlen im Dezember 2023 bewegt Serbien sich jedoch immer stärker auf Russland und China zu. Belgrads außenpolitischer Ansatz wird zwar offiziell als Strategie zur Verteidigung der nationalen Interessen Serbiens dargestellt, dient aber vor allem dazu, die Eigeninteressen der Regierungspartei zu sichern – also internationale Unterstützung zu erlangen, um das amtierende Regime so lange wie möglich an der Macht zu halten. Wie andere Ministerien und unabhängige staatliche Institutionen zuvor ist auch die serbische Außenpolitik vom aktuellen Regime gekapert worden. Die zwölf Jahre Vučić-Herrschaft zeigen, dass ein außenpolitischer Kurswechsel nur unter einer neuen demokratischen Regierung zustande kommen kann.

Um eine wirkliche Alternative zum derzeitigen Regime zu schaffen, müssen die demokratischen Kräfte in Serbien eine außenpolitische Strategie entwickeln, die vor allem vier Kernthemen gezielt in den Fokus rückt: Kosovo, die zukünftige EU-Integration des Landes, Serbiens Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Beziehungen zu anderen Ländern des westlichen Balkans.

Erstens: Mit Blick auf den Kosovo sollte die künftige serbische Regierung einen kompletten Neustart der Normalisierungsgespräche mit Pristina einleiten. Das setzt zunächst ein Ende des permanenten Säbelrasselns durch die von der Regierung Vučić getragene antialbanische Propaganda voraus. Um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen, müssen die Normalisierungsgespräche in guter Absicht geführt werden und ein von gegenseitigem Vertrauen geprägtes Klima schaffen. Anders als die jetzige Regierung sollte eine neue Regierung bei den Verhandlungen gegenüber möglichen nationalistischen Bestrebungen im Kosovo äußerste Zurückhaltung üben. Zur Normalisierung gehört auch, dass alle von den früheren serbischen Regierungen getroffenen Vereinbarungen eingehalten werden – dass Serbien sich also nicht der Mitgliedschaft des Kosovo in internationalen Organisationen widersetzt – auch nicht dessen künftiger EU-Mitgliedschaft.

Voraussetzung für eine vollständige Normalisierung ist zudem die Bereitschaft, große innenpolitische Risiken einzugehen.

Voraussetzung für eine vollständige Normalisierung ist zudem die Bereitschaft, große innenpolitische Risiken einzugehen. Die Unabhängigkeit des Kosovo de jure  anzuerkennen, wird weder heute noch in absehbarer Zeit für irgendeine politische Kraft in Serbien hinnehmbar sein. Eine formelle Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien zu fordern, würde für das Land daher eine unnötige Demütigung bedeuten und Belgrads EU-Integrationskurs dauerhaft ausbremsen. Das stellt die EU natürlich vor eine enorme Herausforderung, weil sie bisher den Grundsatz vertritt, keine neuen Mitglieder mit ungelösten Territorial- und Souveränitätsansprüchen aufzunehmen.

Zweitens: Ein weiterer Hinderungsgrund für die künftige EU-Mitgliedschaft Serbiens ist seine fehlende Bereitschaft, sich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU anzuschließen. Serbien steht in Europa nach wie vor isoliert da und weigert sich, als Reaktion auf den Angriff gegen die Ukraine Sanktionen gegen Putins Russland zu verhängen. Dass die EU und die USA Belgrads Weigerung, sich an den Sanktionen zu beteiligen, stillschweigend akzeptieren, liegt vor allem an Serbiens Munitionsexporten in die Ukraine. Die Außenpolitik eines künftigen demokratischen Serbiens muss auf der Erkenntnis aufbauen, dass die Anpassung an die EU-Außenpolitik nicht nur eine formale Vorbedingung für Fortschritte in den Beitrittsgesprächen darstellt, sondern auch geboten ist, um die nationalen Interessen anderer Staaten zu schützen. Es muss zwingend vermieden werden, dass Serbien von der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten als Putins trojanisches Pferd in Europa wahrgenommen wird.

Wenn Serbien sich nicht an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anpasst, müsste es dafür die Schwächung seiner Verhandlungsposition gegenüber der Regierung in Pristina in Kauf nehmen. Aufgrund des Abkommens von Belgrad stehen die Gespräche über die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo nicht mehr unter der Schirmherrschaft der UN, sondern der EU. Auf die russische oder chinesische Karte zu setzen, bringt Serbien, das weiterhin den EU-Beitritt anstrebt, daher kaum Vorteile. Viel wichtiger wäre es für Belgrad, die Beziehungen zu seinen europäischen und amerikanischen Verbündeten zu intensivieren, von denen viele auch Mitglieder der NATO sind.

Drittens: Aufgrund der NATO-Bombardements von 1999 ist das Verhältnis zwischen Belgrad und dem Militärbündnis vorbelastet. 2007 erklärte das serbische Parlament das Land in einer Resolution zum militärisch neutralen Staat. Die Zeit hat die Wunden in der Bevölkerung bislang nicht heilen können. Paradoxerweise lehnen die Serben die NATO-Mitgliedschaft ihres Landes heute wesentlich entschiedener ab als in den Jahren nach der Bombardierung. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die regierungsnahen Medien (die über 90 Prozent der Presselandschaft ausmachen) seit Vučićs Machtübernahme im Jahr 2012 die Bevölkerung permanent mit antiwestlicher Propaganda überschütten. Dadurch ist die jüngere Generation deutlich rechter und antiwestlicher eingestellt als die Generation ihrer Eltern.

Auf die russische oder chinesische Karte zu setzen, bringt Serbien kaum Vorteile.

Vor diesem Hintergrund ist ein formeller Beitritt Serbiens zum transatlantischen Militärbündnis politisch nicht denkbar, auch wenn es im nationalen Interesse des Landes liegen mag, dem Block beizutreten. Eine neue Regierung in Serbien könnte dieses Problem dadurch lösen, dass sie die – im Rahmen des Berliner Prozesses bereits bestehende – regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Westbalkanländern auf den Bereich der Verteidigung auszuweiten beginnt. Die Bildung eines regionalen Militärbündnisses brächte allen Ländern in der Region Sicherheitsgarantien. Vor allem aber würde eine solche Allianz den anderen Ländern die Sicherheit bieten, dass von der künftigen Regierung in Belgrad keine Gefahr ausgeht. Außerdem käme Serbien dadurch indirekt unter den Sicherheitsschirm der NATO und Europas.

Viertens: In den Beziehungen zu den anderen Westbalkanländern steht jede Regierung in Belgrad politisch in der Pflicht, die Interessen der in diesen Ländern lebenden serbischen Gemeinschaften zu wahren und die wirtschaftlich dominante Rolle Serbiens in der Region aufrechtzuerhalten. Dafür sollte eine neue demokratische Regierung in Serbien die auf den Namen „Serbische Welt“ (Srpski svet) getaufte Politik des jetzigen Regimes aufgeben. Diese hat – ähnlich wie die nationalistische Politik Großserbiens in den 1990er Jahren – nicht nur den Beziehungen zu den Nachbarstaaten, sondern auch den in diesen Ländern lebenden Serben geschadet.

Seit dem Zerfall Jugoslawiens ist Serbien immer wieder versucht, sich dem revisionistischen Wunsch hinzugeben, alle Serben sollten wieder in einem gemeinsamen Staat leben. Belgrad muss sich jedoch von dem Gedanken verabschieden, die international anerkannten Grenzen in der Region verschieben zu wollen, weil dies zwangsläufig zu einem neuen Krieg führen würde. Nur die EU kann den Serben ein gemeinsames politisches Dach anbieten. Am besten kann Serbien dieses Ziel erreichen, wenn es mit den Hauptstädten der Nachbarländer zusammenarbeitet – und nicht nur mit dort aktiven Parteien, die mit dem serbischen Nationalismus sympathisieren.

Serbien muss sich von den Altlasten der Vergangenheit lösen und eine außenpolitische Strategie entwickeln, die auf Normalisierung, Zusammenarbeit und Integration setzt. Nur so kann das Land eine stabile, friedliche und zukunftsorientierte Position in Europa und auf dem westlichen Balkan einnehmen.

Aus dem Englischen von Christine Hardung