Seit Dezember des vergangenen Jahres haben die diplomatischen Aktivitäten rund um das Thema der europäischen Sicherheit an Fahrt aufgenommen. Nach dem virtuellen Treffen von US-Präsident Biden und dem russischen Präsidenten Putin Ende des Jahres war auch diese Woche von zahlreichen Gesprächen geprägt. Ein zentrales Thema bleibt dabei der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze.
Eine Eskalation des bewaffneten Konflikts ist und bleibt für Russland eine unattraktive Option: Der Preis ist zu hoch. Und ob damit überhaupt etwas zu erreichen wäre, ist höchst zweifelhaft. Der Kreml nutzt jedoch die erhöhte Aufmerksamkeit – vor allem der Medien und der öffentlichen Meinung im Westen –, um seine eigene internationale Sicherheitsagenda ins Gespräch und nach vorne zu bringen.
Seit der Annexion der Krim durch Russland scheint dieser Versuch der am besten vorbereitete zu sein. Der Westen ist nicht an einer Verschärfung der Konfrontation interessiert, sondern zum Dialog mit Moskau bereit. Seit die USA sich auf die chinesische Bedrohung konzentrieren, hat sich für Russland die politische Landschaft verändert. Dass die Bemühungen um die Beilegung des Konflikts im Donbas in der Sackgasse stecken, hat Einfluss auf die Erwartungen und Hoffnungen der europäischen Staaten. Unterm Strich gibt es nun die Bereitschaft, mit Russland nach der diplomatischen Isolation der letzten sieben Jahre über die Frage zu sprechen, was ihnen Sorge bereitet – auch wenn es in dieser Frage zahlreiche „rote Linien“ gibt.
Eine Eskalation des bewaffneten Konflikts ist und bleibt für Russland eine unattraktive Option: Der Preis ist zu hoch.
Russland bringt dabei immer dieselben Themen zur Sprache: die NATO-Osterweiterung, die Raketen, die militärische und politische Annäherung der postsowjetischen Länder an den Westen sowie die von all diesen Faktoren ausgehende Bedrohung Russlands. Moskau schlägt vor, dass die NATO sich verpflichtet, keine Staaten der ehemaligen UdSSR in den Kreis ihrer Mitglieder aufzunehmen und keine militärischen Aktivitäten auf dem Territorium dieser Staaten durchzuführen. Dies beinhaltet auch, dass diese Länder nicht von schweren Bombern der NATO überflogen werden und dass sich keine Kriegsschiffe in der Nähe des russischen Staatsgebiets aufhalten dürfen. Auch auf die militärische Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene solle die NATO verzichten. Als Gegenleistung bietet Russland etwas an, das ganz entfernt nach Entspannung klingt: Man solle sich nicht gegenseitig als Feind betrachten und keine Kurz- und Mittelstreckenraketen an Orten stationieren, von denen aus das Staatsgebiet des jeweils anderen erreicht werden könne.
Diese Position erscheint – zumal nach der Annexion der Krim und der Aggression Russlands im Donbas – vielen unangemessen. Wenn ein Land, das die Grundprinzipien der Weltordnung verletzt und obendrein Druck aufbaut, indem es mehr als 100 000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht, mit dieser Einstellung Gespräche über eine neue internationale Sicherheitsarchitektur führen will, habe das nicht viel mit einem vertrauensvollen, auf Frieden und Konsens ausgerichteten Dialog zu tun. Viele westlichen Politiker sehen zudem nicht gern, dass Russland überhaupt Forderungen stellt: Ihrer Meinung nach steht Moskau kein Vetorecht gegen die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO zu.
Aus russischer Perspektive stellt sich die NATO – und womöglich sogar der Westen insgesamt – als Bedrohung für die russische Sicherheit dar. Dementsprechend wird die Situation im postsowjetischen Raum zum Entweder-oder-Spiel: Wer für den Westen ist, ist gegen Russland. In diesem Koordinatensystem wird es zur prioritären Aufgabe Russlands, Staaten wie der Ukraine oder Georgien die Wahlfreiheit zu nehmen. Russland will um jeden Preis verhindern, dass diese Länder NATO-Mitglieder werden oder vom Westen irgendwelche anderen effektiven Sicherheitsgarantien erhalten. Auf dieser Logik lässt sich schwerlich eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa aufbauen, weil sie voraussetzt, dass die Souveränität einer ganzen Reihe von Staaten beschnitten wird, die ja gerade ein Kernbestandteil der heutigen Weltordnung ist.
Aus russischer Perspektive stellt sich die NATO – und womöglich sogar der Westen insgesamt – als Bedrohung für die russische Sicherheit dar.
Dass die Biden-Administration zum regelmäßigen Dialog mit Russland bereit ist, wie sich 2021 angesichts der persönlichen und virtuellen Treffen des amerikanischen und des russischen Präsidenten gezeigt hat, sorgt für einen neuen Ton im Austausch mit Moskau. Russland ist nach wie vor auf die europäischen Märkte sowie auf den Zugang zu Technologien und Krediten angewiesen – und damit auch auf die Abschwächung der Sanktionen. Nach einem neuen Rüstungswettlauf steht Moskau wohl kaum der Sinn. Russlands Kooperation mit China bleibt schwierig und wird in ihrer Bedeutung überschätzt.
Die Signale, die der Westen aussendet, sind relativ klar und koordiniert. Dem Westen geht es vor allem um die Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine und um die Bereitschaft, mit Russland grundsätzlich zu sprechen – allerdings nicht über ein Vetorecht in Sachen NATO-Erweiterung. Die USA sind nicht gewillt, die allgemeine europäische Sicherheitsagenda ohne ihre Verbündeten zu erörtern, und richten das Hauptaugenmerk stattdessen auf bilaterale Probleme, die vor allem mit strategischer Stabilität und Cybersicherheit zusammenhängen. Russlands großer geopolitischer Traum von einem „Helsinki 2.0“ dürfte sich wohl nicht erfüllen.
Auch wenn der Kreml vielleicht darauf spekulieren kann, die Geschlossenheit des Westens zu erschüttern und separate Vereinbarungen mit den USA zu treffen, darf er wohl kaum ernsthafte Zugeständnisse erwarten. Die roten Linien in den Verhandlungen mit Washington sind unverrückbar, sodass für Kompromisse nicht viel Spielraum bleibt. Was die Biden-Administration braucht, sind Gespräche über Fragen der strategischen Stabilität. Was sie nicht gebrauchen kann, ist eine weitere Zuspitzung der Krise im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Auch eine weitere Annäherung zwischen Russland und China ist für die USA nicht wünschenswert. Noch wichtiger für die USA ist jedoch, dass die Zuverlässigkeit der NATO und die Handlungsfreiheit in Osteuropa gewahrt bleiben. Mit Blick auf das Kräfteverhältnis deutet alles darauf hin, dass Washington sich in einer stärkeren Verhandlungsposition befindet.
In den vergangenen acht Jahren gründete die gesamte ukrainische Außenpolitik auf der Annahme, der Westen werde Russland in die Schranken weisen und isolieren.
Für die Ukraine ist der Dialog zwischen Russland und den USA ohne Zweifel äußerst wichtig. In den vergangenen acht Jahren gründete die gesamte ukrainische Außenpolitik auf der Annahme, der Westen werde Russland in die Schranken weisen und isolieren. Außerdem werde der Westen der Ukraine helfen, einen effektiveren und demokratischeren Staat aufzubauen, und der russischen Aggression entgegenzuwirken. Die Annahme war möglicherweise schon von Anfang an falsch: Die Motive der westlichen Staaten waren schon immer komplexer und vielschichtiger. In bestimmten Bereichen der Russlandpolitik jedoch waren die Interessen des Westens und der Ukraine in vielen Punkten deckungsgleich. Dies schuf den Raum für die Sanktionspolitik, die abgestimmte Haltung in der Krimfrage und die Intensivierung der militärischen und politischen Zusammenarbeit.
Wenn es Moskau gelingt, sich mit Washington zumindest teilweise zu verständigen, wird dieses Gefüge womöglich endgültig zerstört. Die Unterstützung der Ukraine durch die USA, die sich nach den Maßstäben der gegenwärtigen Regionalkonflikte ohnehin recht bescheiden ausnimmt, könnte gänzlich zur Symbolpolitik werden. Dann können Berlin und Paris ihre eigenen Ansätze für die Beziehungen zu Moskau ungehindert ins Werk setzen.
Die Ukraine wird ihre Politik gegenüber der NATO den aktuellen Realitäten anpassen müssen. Die Mitgliedschaft in der Allianz war nie eine reale Option – das wurde gegen Ende des vergangenen Jahres auch den unbeirrbarsten Optimisten klar. Wenn die Ukraine außerhalb der NATO und der EU bleibt, ohne Sicherheitsgarantien, wie wird dann ihre Außenpolitik aussehen? Zu welchem Preis und wie lange werden die Ukrainer bereit sein, für die Eindämmung Russlands zu bezahlen – oder als Vorposten einer solchen Eindämmungspolitik in der Region zu fungieren? Klare Antworten auf diese Fragen gibt es bislang nicht. Es gilt, sie auch unabhängig von den Gesprächen diese Woche zu suchen.
Wenn die Ukraine außerhalb der NATO und der EU bleibt, ohne Sicherheitsgarantien, wie wird dann ihre Außenpolitik aussehen?
Auswirkungen wird es auch auf das zentrale sicherheitspolitische Problem der Ukraine geben: den Konflikt im Donbas. Derzeit stecken die Konfliktlösungsbemühungen in einer Sackgasse. Das gegenseitige Vertrauen zwischen Moskau und Kiew ist restlos dahin. Es gibt auch keine Spielräume für Kompromisse. Russland erhält die jetzige Situation aufrecht, weil es sie für akzeptabel hält. Wenn es nicht gelingt, sich mit Washington auf breiter Basis zu verständigen, kann Moskau seine Ziele und Instrumente immer noch auf den Prüfstand stellen. Die Ukraine könnte sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert sehen: von einer möglichen lokalen Eskalation an der Demarkationslinie bis hin zur Anerkennung der „Volksrepublik Donezk/Volksrepublik Lugansk“ durch Russland.
Der Dialog zwischen Russland und den USA, Deutschland und Frankreich wird weitergehen. Die Welt wandelt sich, und viele der gewohnten Probleme stellen sich heute anders dar. Die Annexion der Krim war ein schwerer Schlag für das Sicherheitssystem, an das sich die Europäer bis dahin gewöhnt hatten. Heute stehen jedoch neue Herausforderungen auf der Tagesordnung. Die Konfrontation abzuschwächen oder unter Kontrolle zu halten und gemeinsame Probleme mit vereinten Kräften anzugehen, kann allen Beteiligten Vorteile bringen. Die Ukraine muss sich darüber Gedanken machen, welchen Platz sie in dieser neuen Welt einnehmen wird.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld