In Berlin findet am 15. März eine große Konferenz zur Zukunft der Rüstungskontrolle statt. Von den zahlreichen internationalen Gästen erhofft sich der Schirmherr, Bundesaußenminister Heiko Maas, kreative Anstöße zur Überwindung der Rüstungskontrollkrise. Neue Konzepte sind dringend vonnöten, denn Europa steht vor einer neuen Nachrüstungsdebatte. Die Krise um den INF-Vertrag birgt enormes innenpolitisches Mobilisierungs- als auch Streitpotential. Deutschland und seine Verbündeten müssen über militärische Maßnahmen und Rüstungskontrollmaßnahmen nachdenken. Nur ein gesundes Zusammenspiel dieser Eckpfeiler strategischer Stabilität wird den Zusammenhalt der NATO garantieren.

Auch wenn die Beteuerungen aus den USA momentan anderes sagen: Mit dem Ende des INF-Vertrags, der den Abbau nuklearer Mittelstreckensysteme regelte, ist eine Wiedereinführung amerikanischer landgestützter Marschflugkörper sehr wahrscheinlich. Seit 2018 forscht das Pentagon an einem neuen konventionellen, bodengestützten Marschflugkörper. Bevor dieser Produktreife erlangt, müsste der Kongress zusätzliche Gelder bewilligen. Sollte Trump dann noch Präsident sein, könnte das Weiße Haus folgendermaßen argumentieren: „Der INF-Vertrag ist tot. Amerika darf sich nicht unnötig selbst beschränken, während Russland weitere INF-Raketen aufstellt.“

Ein neuer Marschflugkörper  müsste an Land – ergo auf dem Gebiet amerikanischer Verbündeter – stationiert werden. Somit würde eine Nachrüstungsdebatte drohen, eventuell sogar ein neuer Raketenwettlauf, der massive Proteste hervorrufen könnte. Um dies zu verhindern, sollte Deutschland zunächst den Druck auf Moskau erhöhen. Bei allem berechtigten Ärger über Trump und die Falken im Weißen Haus – der Urheber der momentanen Krise sind nicht die USA, sondern Russland. Das Ziel muss es sein, dass Moskau die SSC-8 und deren mobile Abschussvorrichtung überprüfbar vernichtet oder zumindest begrenzt. Ohne Druck ist dies schwer vorstellbar, denn der SSC-8 Marschflugkörper mit einer vermuteten Reichweite von über 2 000 Kilometern bietet dem russischen Militär eine formidable Waffe zur Bedrohung Europas.

Wie sollte Moskau wissen, ob die anfliegende Rakete nuklearer oder konventioneller Art ist?

Deutschland und Belgien – zwei potentielle Stationierungsländer für amerikanische Marschflugkörper – sitzen seit Anfang 2019 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Sie sollten diese Rolle nutzen, INF prominent auf die Tagesordnung zu setzen. Im politischen Instrumentarium befinden sich neben hochrangigen Appellen aber auch weitere ökonomische oder finanzielle Sanktionen bis hin zu einer Diskussion um die Pipeline Nord-Stream 2. Gleichzeitig muss Deutschland seine nachrichtendienstlichen Fähigkeiten maximal nutzen, um über die mögliche weitere Stationierung russischer SSC-8 im Bilde zu bleiben.

Da man leider von einem weiteren russischen Raketenaufwuchs ausgehen sollte, muss man in Berlin auch über militärische Gegenmaßnahmen nachdenken. Verschiedene Optionen stünden zur Wahl.

Da wäre zunächst die Aufstellung weiterer Raketenabwehrinstallationen. Diese sogenannte „Point Defense“ könnte beispielsweise in und um Ramstein oder Bremerhaven installiert werden, also an neuralgischen Punkten für den militärischen Nachschub der NATO. Point Defense hat jedoch einige Nachteile. Systeme, wie das amerikanische „Patriot“-Flugabwehrraketen-System sind kostspielig, können nur einen sehr kleinen geographischen Raum abdecken und sind nur äußerst begrenzt zuverlässig gegen manövrierfähige Marschflugkörper. Und da Präsident Donald Trump sehr wahrscheinlich auf deutscher Kostenübernahme bestehen würde, müsste letztlich der deutsche Steuerzahler die Zeche für die zusätzliche Raketenabwehr zahlen. Hinzu käme, dass Moskau eine Stärkung der Raketenabwehr durchaus als Aufforderung zu noch mehr russischen INF-Raketen (miss)verstehen könnte.

Eine offensivere Variante wäre die höhertaktige, rotierende Verlegung amerikanischer Langstreckenbomber nach Westeuropa (beispielsweise in das Vereinigte Königreich). Ausgestattet mit konventionell-bestückten Luftabstandswaffen (beispielsweise JASSM) könnten die Bomber eine erhöhte Einsatzbereitschaft gegenüber Russland signalisieren. Doch in einer akuten militärischen Krise könnte die Verlegung von Bombern nach Europa in Moskau auch als Vorbereitung für den Erstschlag missverstanden werden – da amerikanische B-52 und B-2 Bomber eben zusätzlich auch nukleare Sprengköpfe an Bord haben können.

Eine weitere Möglichkeit wäre die Verlegung zusätzlicher amerikanischer Schiffe und U-Boote, bestückt mit konventionellen Marschflugkörpern, in europäische Gewässer. Doch auch diese Variante ist nicht frei von Nachteilen. So sieht die neue Nuklearstrategie der USA die Entwicklung eines nuklearbestückten, seegestützten Marschflugkörpers vor. Da amerikanische Schiffe und U-Boote aber eben auch mit konventionellen Abstandswaffen ausgerüstet sind, würde in einer Krise mit Russland erneut das Unterscheidungsproblem auftreten. Wie sollte Moskau wissen, ob die anfliegende Rakete nuklearer oder konventioneller Art ist?

Letztlich braucht es nicht allzu viel Vorstellungskraft, davon auszugehen, dass ein irgendwie gearteter Mix der hier vorgestellten Maßnahmen inzwischen auch in Brüssel bei der NATO diskutiert wird. Dabei ist keine der Varianten frei von Risiken. Gleichwohl wären sie aus jetziger Sicht einer erneuten Landstationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen vorzuziehen – und dies aus gutem Grund.

Sollte Deutschland versuchen, eine neue Landstationierung zu verhindern, könnte es Putin damit ungewollt in die Hände spielen. 

Einerseits würde eine Landstationierung eine nicht geringe Anzahl der Verbündeten (beispielsweise auch Deutschland) vor enorme innenpolitische Herausforderungen stellen und damit die NATO auf Jahre lähmen. Andererseits haben führende amerikanische Militärs bisher keine Notwendigkeit für einen neuen bodengestützten Marschflugkörper gesehen. General Paul Selva auf die Frage, wie eine militärische Antwort auf Russlands Vertragsverletzung aussehen könnte, unzweideutig: Neue landgestützte Systeme seien nicht nötig.

Gleichzeitig sollte Berlin eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung eines neuen Rüstungskontrollrahmens für INF-Systeme einnehmen um zu gewährleisten, dass Sicherheit in Europa eben nicht nur kollektiv sondern auch kooperativ gedacht wird. Auch hier wären verschiedene Optionen denkbar.

Da wäre zunächst der überprüfbare Rückzug aller russischer INF-Systeme hinter den Ural, eine Art „INF light“. Im Gegenzug könnte sich die NATO verpflichten, keine neuen INF-Systeme oder zusätzliche nukleare Systeme in Europa zu stationieren. Der Nachteil einer solchen Lösung wäre, dass beide Seiten einem sehr hohen Maß an gegenseitiger Transparenz zustimmen müssten. Zusätzlich würde die Verlegung der russischen Raketen nach Asien Moskau in einen potentiellen Raketenwettlauf mit China zwingen – politisch wäre dieser Ansatz im Kreml momentan wohl nur schwer durchsetzbar.

Eine zusätzlich abgeschwächte Variante wäre die Separierung nuklearer Gefechtsköpfe und Abschusssysteme auf beiden Seiten. Ein solcher Ansatz – quasi ein „INF extra light“ – würde bedeuten, nukleare Gefechtsköpfe überprüfbar mehrere Stunden entfernt von den jeweiligen Abschusssystemen aufzubewahren. Damit würden beide Seiten die Krisenstabilität heraufsetzen und potentielle „Schnellschüsse“ verhindern. Eine solche Lösung könnte für mobile landgestützte Abschussrampen oder ballistische Raketen genau wie für deutsche Tornado-Kampfflieger gelten. Ein Nachteil wäre der exklusive Fokus auf nukleare Sprengköpfe, der das zunehmende Problem des konventionellen Aufwuchses auf beiden Seiten unberührt ließe.

Bei all dem ist eine Spaltung der NATO nicht auszuschließen. Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen europäischen Bedrohungsperzeptionen gegenüber Russland.

Eine dritte Variante wäre ein neuer INF-Vertrag unter Einbindung Chinas. Schon früh hat Trumps Sicherheitsberater John Bolton das Reich der Mitte ins Spiel gebracht. Dabei weiß Bolton genau, dass China wohl nur von einem Rüstungskontrollangebot zu überzeugen wäre, würden Washington und Moskau gleichzeitig ihr Mehr an strategischen (mit Reichweiten über 5 500 km) und taktischen Nuklearwaffen (mit Reichweiten unter 500 km) zur Disposition stellen. Da dies mehr als unwahrscheinlich erscheint, ist Boltons „China-Karte“ wohl nicht mehr als ein Taschenspielertrick zur Verhinderung eines ernsthaften Rüstungskontrollprozesses.

Bei all dem ist eine Spaltung der NATO nicht auszuschließen. Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen europäischen Bedrohungsperzeptionen gegenüber Russland. Eine jüngst veröffentlichte Studie der FES zeigt, wie divers die (Un)sicherheitswahrnehmungen in Europa sind. Verbündete wie Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Polen oder die baltischen Staaten wären wohl eher geneigt, eine starke militärische Antwort einem Rüstungskontrollangebot an Moskau vorzuziehen. Auch in der Frage einer erneuten Stationierung könnten manche Staaten durchaus offen sein. Andere, wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder Italien sind skeptisch.

Der Kreml wird diese divergierenden Haltungen gegen die Allianz ausspielen und dafür weiter an der Raketenschraube drehen. Sollte Deutschland versuchen, eine neue Landstationierung zu verhindern, könnte es Putin damit ungewollt in die Hände spielen. Denn je stärker sich Berlin beispielsweise für die Rüstungskontrolle und gegen eine erneute Landstationierung ausspricht, desto größer der mögliche Gegensatz zu Warschau, London oder Washington. Gleichzeitig weiß man an der Spree aber auch, wie toxisch eine Nachrüstung für die NATO und den innenpolitischen Zusammenhalt der Republik werden könnte, und dass es klare Alternativen zur Landstationierung sowie Rüstungskontrolloptionen gibt. Möglicherweise wird Deutschland diesen nicht lösbaren Zielkonflikt aushalten müssen.

Um letztlich nicht allein dazustehen, sollte Berlin deshalb versuchen, genug Fürsprecher für eine „neue Null-Lösung“ zu finden – also eine Antwort auf Russlands Vertragsverletzung, die mit „Null“ neuen Mittelstreckenraketen auskommt. Militärisch und politisch spricht zu vieles gegen neue bodengestützte Mittelstreckenraketen in Europa. Stattdessen muss Berlin eine gesunde Mischung aus Härte und Dialogbereitschaft gegenüber Russland finden. Dabei sollte man auch in Ostasien auf die Suche nach Verbündeten gehen, denn auch dort <link schwerpunkt-des-monats abruestung artikel detail sprengpotenzial-3254>droht ein Raketenwettlauf. Gleichzeitig muss die Bundesregierung jedoch stets den transaktionalen Charakter der Trump-Regierung mitdenken. Bilaterale Abkommen außerhalb des offiziellen NATO-Rahmens, beispielsweise zwischen Polen und den USA, lassen sich leider nicht ausschließen.