Die russischen Streitkräfte haben bei ihrem Angriff auf die Ukraine eine neue Front eröffnet. Bei ihrer Offensive in der Region Charkiw rückten die russischen Streitkräfte seit Mitte Mai rasch um mehrere Kilometer vor. Sie konnten einige Dörfer zurückerobern, die während der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive im September 2022 bereits befreit worden waren. Die Hauptverteidigungslinie im Osten der Stadt haben sie allerdings noch nicht erreicht, die von besser ausgerüsteten und erfahreneren Brigaden gehalten wird. Aber die Lage ist ernst.

Mit der Bedrohung der zweitgrößten Stadt der Ukraine hofft Russland, die ukrainischen Streitkräfte im Osten zu binden und die Front an anderer Stelle zu entblößen. Für die Ukraine gilt es nun, schnellstmöglich die Front zu stabilisieren und einen größeren Durchbruch zu verhindern, zu dem die russischen Truppen möglicherweise in der Lage wären. Doch das angegriffene Land sieht sich gleichzeitig mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die sich seit dem letzten Jahr aufgestaut haben und nicht leicht zu lösen sind. Obwohl mit der Verabschiedung des Hilfsprogramms im US-Kongress kürzlich Milliarden zur Unterstützung für Kiew freigegeben wurden, wird sich die Lage zunächst verschlechtern. Eine Besserung ist erst langfristig möglich.

Russlands Ziel ist nicht die Eroberung von Charkiw, sondern die Bedrohung der Stadt durch den Vormarsch seiner Truppen und deren Artilleriebeschuss. Da die russische Armee gar nicht über genügend Soldaten verfügt, um die Stadt selbst anzugreifen, zielt die Operation darauf, die Ukraine in eine Zwickmühle zu bringen. Die ukrainischen Verteidigungslinien sind jetzt schon relativ dünn besetzt. Wenn die russische Attacke kampferprobte ukrainische Truppen und Reserven zur Verteidigung nach Charkiw lenkt, schwächt sie damit andere Teile der Front. Russland fokussiert sich nämlich weiterhin darauf, den Rest des Donbass im Osten der Ukraine zu erobern und dort strategische Knotenpunkte und größere Städte einzunehmen.

Die russische Offensive erwischt die Ukraine in einer Zeit der Schwäche.

In den vergangenen Tagen wurden bereits einige ukrainische Einheiten vom Donbass nach Charkiw verlegt, und offenbar setzt die Militärführung auch einzelne Bataillone ein, um andere Teile der Front zu verstärken. Damit geht sie das Risiko ein, dass ihre Truppen im Donbass noch verletzlicher dastehen, sollte Russland seine Reserven in diese Richtung lenken. Die russischen Streitkräfte üben zudem Druck auf Kupiansk im Osten von Charkiw aus, ebenso wie auf die Region Saporischschja im Süden. Möglicherweise stehen auch Vorstöße entlang der Grenze im Norden in die Regionen Sumy und Tschernihiw bevor.

Die russische Offensive erwischt die Ukraine in einer Zeit der Schwäche. Seit dem letzten Herbst sieht sich das Land vor drei eng miteinander verknüpfte Probleme gestellt: Es fehlt an Munition, Soldaten und Befestigungsanlagen. Bei der Befestigung der Verteidigungslinien hat das Militär im Frühjahr Fortschritte gemacht, und das Hilfspaket aus den USA sollte dem Munitionsmangel abhelfen. Doch die Zahl der Soldaten sinkt weiterhin, vor allem an entscheidender Stelle: in der Infanterie.

Die Gegenoffensive der Ukraine im vergangenen Sommer endete vor allem aufgrund der Abnutzung der Infanterie, und seitdem ist es nicht gelungen, diese Verluste zu ersetzen. Das bedeutet in der Praxis, dass die Schützengräben oft zu knapp besetzt sind und es nicht genügend Infanteristen gibt, um für regelmäßige Ablösung zu sorgen, so dass Erschöpfung vorprogrammiert ist. Das hat auch die gefährliche Folge, dass sich die ukrainischen Männer nicht mehr freiwillig melden. Viele Brigaden sind unterbesetzt und zahlreiche Soldaten bereits über 40 Jahre alt.

Die aktuelle Situation ist die Folge politischer Entscheidungen, eines löchrigen Mobilisierungssystems und vieler Monate politischen Stillstands.

Natürlich fehlt es der Ukraine nicht an Männern. Die aktuelle Situation ist die Folge politischer Entscheidungen, eines löchrigen Mobilisierungssystems und vieler Monate politischen Stillstands. Erst vor Kurzem wurde eine Reihe von Mobilisierungsgesetzen erlassen, um das Rekrutierungspotenzial zu erhöhen. Das Wehralter wurde gesenkt, Strafen für Kriegsdienstflüchtige eingeführt; manchen Straftätern wurde der Dienst an der Waffe gestattet und weitere Anreize für Freiwillige wurden geschaffen. Diese Maßnahmen haben durchaus das Potenzial, die Personalprobleme der ukrainischen Armee zu lösen, doch es kommt auf ihre tatsächliche Durchsetzung an. In jedem Fall wird es Monate dauern, bis sich die Lage verbessert.

Da das ukrainische Militär nicht über genügend Soldaten und Munition verfügt, reagiert es auf die russischen Durchbrüche, indem es die besten Brigaden und Eliteeinheiten an die jeweils betroffenen Frontabschnitte verlegt. Dieser Feuerwehr-Ansatz, der bereits in den Schlachten um Bachmut und Awdijiwka erprobt wurde, bedeutet aber auch, dass die besten Einheiten nicht genug Zeit bekommen, sich auszuruhen und zu regenerieren. Die Militärführung greift auch zu dem Mittel, einzelne Bataillone unsystematisch ohne den Rest ihrer Brigade zu verlegen, um bestimmte Frontabschnitte zu verstärken. Das sind kurzfristige Lösungen mit langfristigen Folgen, da sich diese Einheiten im Lauf der Zeit stark abnutzen.

Auf der anderen Seite ist es Russland gelungen, seine Personalprobleme vom letzten Jahr zu beheben. Derzeit werden pro Monat etwa 30 000 Mann rekrutiert. Viele dieser Rekruten sind nicht unbedingt ideale Soldaten und ebenfalls um die 40 Jahre alt. Doch seine zahlenmäßige Überlegenheit, verbunden mit verstärktem Artillerie- und Drohnenbeschuss sowie Gleitbomben, hat Russland einen quantitativen Vorteil beschert.

Die derzeitige russische Überlegenheit ist nicht unbedingt kriegsentscheidend.

Trotzdem ist die derzeitige russische Überlegenheit nicht unbedingt kriegsentscheidend. Die mangelnde Qualität seiner Truppen und der Verlust vieler Führungskräfte haben die Fähigkeit des russischen Militärs eingeschränkt, groß angelegte Operationen durchzuführen. Deshalb fällt es den russischen Streitkräften derzeit auch schwer, ihre Vorstöße zu Durchbrüchen auszuweiten, und bis jetzt konnten sie keine bedeutenderen Fortschritte verzeichnen. Zudem verheizt Russland derzeit Ausrüstung, die vor allem aus Lagerbeständen stammt, und wird 2025 mit Materialmangel rechnen müssen.

Trotz der Verabschiedung des US-Hilfspakets steht der Ukraine ein schwieriges Jahr bevor. Die amerikanische Unterstützung hat der Ukraine zeitlichen Spielraum verschafft und deutlich gemacht, welche Mittel zur Verfügung stehen. Diese Gelder könnten ausreichen, damit die Ukraine standhalten und im besten Fall das Angriffspotenzial ihrer Streitkräfte wiederherstellen kann. Das ist eine Chance. Doch die Zukunft hängt davon ab, wie der Westen – der bei Training, Aufklärung und weiterer Unterstützung eine zentrale Rolle spielt – und die Ukraine diese Chance nutzen können.

Wenn es der Ukraine in diesem Jahr gelingt, die russischen Vorstöße auf bescheidene Gebietsgewinne zu beschränken, dann wird sich das Gelegenheitsfenster für Moskau voraussichtlich schließen und Russlands relative Überlegenheit ab 2025 abnehmen. Doch es geht nicht allein darum, dass das ukrainische Militär Munition und Waffen aus dem Westen bekommt, sondern es muss auch seine Truppen effizient verwalten und die Dauerprobleme des Personalmangels und der Befestigung der Verteidigungsanlagen angehen. Während die Ukraine sich weiterhin selbst verteidigt, muss sie zur selben Zeit daran arbeiten, ihre Streitkräfte neu aufzubauen. In den kommenden Monaten steht viel auf dem Spiel.

Dieser Artikel erschien zuerst in der New York Times.

Aus dem Englischen von Sabine Jainski