Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat heftige Emotionen ausgelöst – Wut, Enttäuschung, Ratlosigkeit. Es hagelt Kritik, nicht nur gegen die gnadenlosen Gotteskrieger, sondern auch gegen ihre scheinbar inkompetenten Gegner, also die afghanische Regierung und ihr Militär, die US-Administration, die NATO und die Bundesregierung. In allen Medien erklären vermeintliche Experten, warum dieses „Scheitern des Westens“ seit 20 Jahren längst absehbar und unvermeidlich war. Vieles an dieser Kritik ist berechtigt. Eine ehrliche Aufarbeitung des internationalen Engagements in Afghanistan ist dringend geboten. Dabei besteht jedoch die Gefahr, das Kind – das Instrument der internationalen Friedenseinsätze – mit dem Bade auszuschütten.
Es mehren sich bereits Stimmen, die unmittelbare Parallelen zwischen Missionen am Hindukusch und in der Sahelzone ziehen und ergo den baldigen Abzug aus Mali fordern. Einer derart undifferenzierten Argumentation sollte das deutsche und internationale Engagement in Mali aber nicht zum Opfer fallen. Friedenseinsätze sind vielfältig – im Hinblick auf ihre Einsatzorte, ihre Größe, ihre Aufgaben und die entsendenden Organisationen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass der „Einsatz“ in Afghanistan – wenn man das ganze Spektrum der Ressourcen, die im Laufe der letzten 20 Jahre in das Land geflossen sind, unter diesem Begriff zusammenfassen will – sehr speziell war. Erkenntnisse, die hier gewonnen wurden, lassen sich kaum für andere Missionen verallgemeinern.
Es mehren sich Stimmen, die unmittelbare Parallelen zwischen Missionen am Hindukusch und in der Sahelzone ziehen und ergo den baldigen Abzug aus Mali fordern.
Internationale Friedenseinsätze sind seit den späten 1940er Jahren ein wichtiges Instrument der Friedensförderung. Für verschiedene Organisationen – Vereinte Nationen (VN), Afrikanische Union, Europäische Union, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), NATO – sind aktuell über 150 000 Personen weltweit im Einsatz. Die VN – der bei weitem größte Akteur – betreiben 25 Missionen sehr unterschiedlichen Umfangs mit insgesamt rund 75 000 Soldatinnen, 9 000 Polizisten und 5 000 zivilen Mitarbeiterinnen. Viele haben anspruchsvolle, „multidimensionale“ Mandate mit einer Vielzahl von zivilen, polizeilichen und militärischen Aufgaben. Zu den wichtigsten gehören der Schutz der Zivilbevölkerung, der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, die Reform des militärischen wie polizeilichen Sicherheitssektors und die Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte.
Nachdem die VN wichtige Lehren aus den Debakeln der 1990er Jahre in Somalia, Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien gezogen hatten, ist es ihnen gelungen, einige Länder nach teils massiven internen Konflikten erfolgreich zu stabilisieren. Hierzu gehören Angola, Liberia, Sierra Leone und die Elfenbeinküste, aber auch die Länder des westlichen Balkans. Diese Liste führt zwangsläufig zu der Frage, wie hier denn wohl „Erfolg“ definiert wird. Kurz gesagt, diese Staaten haben das erreicht, was ein internationaler Friedenseinsatz – als Ergänzung zu erheblichen nationalen Anstrengungen – realistisch zu leisten in der Lage ist: Abwesenheit gewalttätiger Konflikte und ein Minimum an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sozialen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Entwicklungschancen.
Die Präsenz internationaler Friedenseinsätze hat einen erkennbaren gewaltreduzierenden Effekt.
Seit über 20 Jahren kommen zahlreiche wissenschaftliche Studien zum gleichen Schluss: Die Präsenz internationaler Friedenseinsätze hat einen erkennbaren gewaltreduzierenden Effekt und sie leistet so einen Beitrag zur dauerhaften Stabilisierung nach Konflikten. Aber eben nur, wenn eine Reihe von Erfolgsfaktoren im konkreten Einsatzgebiet gegeben sind. Dazu gehören eine weitgehende Waffenruhe sowie die Abwesenheit von Akteuren in der Nachbarschaft, die offen oder verdeckt gegen die Ziele des Friedenseinsatzes arbeiten. In Afghanistan war ein offensichtliches Beispiel für einen solchen „Spoiler“ das Nachbarland Pakistan. Des weiteren braucht es jede Menge politischen Willen auf allen Seiten, also die Reformbereitschaft zumindest von Teilen der lokalen Eliten in Politik, Wirtschaft, Justiz und Sicherheitsapparat sowie die Geduld der internationalen Gemeinschaft, einen langen Atem, unabhängig von Schwankungen in der innenpolitischen Stimmungslage einzelner Staaten.
Zusätzliche Bausteine sind der Konsens über realistische Ziele und die Koordination angemessener Ressourcen des Friedenseinsatzes unter den internationalen Akteuren sowie ein transparentes Monitoring von Fortschritten – oder auch Rückschritten – mit lokalen Partnern im Einsatzland, mit internationalen Verbündeten und gegenüber der eigenen Öffentlichkeit. Schließlich bedarf es einer vorsichtigen Strategie für den Abbau und letztlich die Beendigung des Einsatzes in Abstimmung mit allen lokalen und internationalen Beteiligten mit definierten Konditionalitäten – und nicht eines bilateralen Abkommens zwischen einem internationalen Akteur (USA) und einem lokalen (Taliban) unter Ausschluss der nationalen Regierung mit einem fixen Abzugsdatum.
Im Fall Afghanistan war so gut wie keiner dieser Erfolgsfaktoren vorhanden.
Bei jedem Friedenseinsatz besteht ein Risiko des Scheiterns – eine Tatsache, die auch den Erwartungshorizont solcher Einsätze bestimmen sollte.
Auch bei der Umsetzung des fast rein militärischen NATO-Einsatzes am Hindukusch sind Fehler gemacht worden. „Chirurgische Schläge gegen Terroristen“ trafen Hochzeitsgesellschaften. Brutale Warlords und Drogenbarone wurden hofiert. Halbjährlich rotierende US-Spezialkräfte bildeten örtliche Dorfpolizisten an der Waffe aus, ohne ein Wort über die Rolle der Sicherheitskräfte in einem demokratischen Rechtsstaat zu verlieren. Afghanische Ministerialbeamte wurden „zu Tode beraten“: Vormittags kamen die Amerikaner, nachmittags diverse Europäer – jeweils mit teilweise unvereinbaren Ansätzen.
Demgegenüber sind die Umstände in Mali zwar keineswegs rosig, aber doch weniger düster. Negativ ist anzumerken, dass die malischen Eliten sich ebenfalls wenig reformfreudig zeigen. Auch schwindet der politische Wille des entscheidenden internationalen Akteurs – hier Frankreich – deutlich, wenn auch noch nicht so dramatisch wie im Falle der USA in Afghanistan in den letzten beiden Jahren. Allerdings ist mit Blick auf Mali der Rückhalt für Stabilisierungsbemühungen unter der Führung der VN-Mission MINUSMA in der breiten internationalen Gemeinschaft und insbesondere in der Region noch höher. Dies zeigt sich daran, dass im Gegensatz zum Afghanistan-Einsatz in Mali ein ganz wesentlicher Teil der dort eingesetzten Truppen aus Anrainerstaaten kommt. Auch stehen im Falle Malis alle Nachbarstaaten hinter dem internationalen Einsatz, und es gibt in der Nachbarschaft kein Gegenstück zur Rolle Pakistans als Financier, Trainer und Rückzugsort des gefährlichsten Gegners der internationalen Mission.
Deutsche Außenpolitik sollte gleichermaßen auf Werten wie auf Interessen basieren.
Auch deswegen spielen die diversen dschihadistischen Gruppierungen in Mali und anderen Sahel-Staaten in Bezug auf ihre Größe, Ausbildung und Schlagkraft in einer anderen Liga als die Taliban. Die Taliban waren jahrelang weitgehend ideologisch motiviert – wenn auch gepaart mit einer Portion Opportunismus – und rekrutierten sich ganz überwiegend aus der größten Bevölkerungsgruppe des Landes, in der sie allein schon dadurch eine gewisse Legitimität genießen. Bei den malischen Milizen sind zwar die Anführer religiöse Fanatiker auf der Suche nach dem Kalifat, die Mehrheit der Fußsoldaten aber arbeitslose Jugendliche auf der Suche nach einem Einkommen. Auch stammen sie ganz überwiegend aus historisch unterdrückten ethnischen Minderheiten, was oft ein zusätzliches Motiv für ihre Rekrutierung bildet.
Bei jedem Friedenseinsatz besteht ein Risiko des Scheiterns – eine Tatsache, die auch den Erwartungshorizont solcher Einsätze bestimmen sollte. Konfliktgebiete sind komplex – mit einer Vielfalt von Akteuren mit Anliegen, Befürchtungen und Hoffnungen und nationalen, regionalen und internationalen Netzwerken. Jedes birgt eigene Herausforderungen, aber auch einen eigenen Satz an Stellschrauben. In jedem Fall muss präzise und ehrlich analysiert werden, welche Ansätze erfolgversprechend sind. Und dazu bedarf es guter Landes- und Regionalkenntnisse.
Der Weckruf aus Afghanistan ist ein guter Anlass, Friedenseinsätze wie den in Mali kritisch zu hinterfragen und mit Nüchternheit und Demut auf das zu blicken, was die internationale Gemeinschaft bzw. eine Koalition der Willigen glaubt, erreichen zu können. Wer kurzfristig eine fundamentale gesellschaftliche oder wirtschaftliche Transformation erwartet, wird enttäuscht werden. Was heißt das für Deutschlands zukünftiges Engagement? Deutsche Außenpolitik sollte gleichermaßen auf Werten wie auf Interessen basieren. Aus beiden Gründen dürfen wir uns unserer Verantwortung bei der Bewältigung internationaler Krisen in für uns strategisch wichtigen Regionen nicht entziehen. In Mali leisten die VN, die EU, aber eben auch regionale Organisationen wie die ECOWAS und die G-5-Sahel unter schwierigen Bedingungen einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung. Deutschland sollte diese Anstrengungen weiter unterstützen, auch wenn das Umfeld hochkomplex und der Erfolg nicht garantiert ist.