Das Thema Entwicklungspolitik entscheidet keine Bundestagswahlen, es hat nicht hoch auf der Agenda bei den Sondierungsgesprächen gestanden und für die Koalitionsverhandlungen sieht es wohl nicht anders aus. Dies ist nicht überraschend, genauso war es bei allen vorausgegangenen Wahlen zum Deutschen Bundestag. Insgesamt hat die deutsche Bevölkerung aber eine klar befürwortende Haltung zur Unterstützung von Entwicklungsländern. Und dabei scheint es vor allem uneigennützige Motive für die positive Einstellung zu geben. Entwicklungspolitik wird in der deutschen Öffentlichkeit ganz überwiegend als Hilfe zur Armutsbekämpfung verstanden. Allerdings ist das eine Einschätzung, die zwar nicht ganz falsch ist, aber eben bei weitem nicht mehr die ganze Aufgabenbreite der Entwicklungspolitik widerspiegelt. Diese ist inzwischen ein zentrales Instrument zur Bearbeitung globaler Aufgaben.

Alle großen grenzüberschreitenden Herausforderungen der vergangenen Jahre waren und sind eben auch Themen der Entwicklungspolitik – nicht ausschließlich, aber meist in einem erheblichen Umfang. Der vor allem seit 2015 in der Europäischen Union spürbar erhöhte Migrationsdruck, die Covid19-Pandemie, das umfassende Engagement in Afghanistan und nicht zuletzt die Ursachen und Folgen des Klimawandels: All dies sind Aufgaben, bei deren Bewältigung Entwicklungspolitik eine gewichtige Rolle spielt. Die genannte Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern ist damit nicht weniger wichtig. Allerdings sollte auch dabei klar sein, dass es sich vielfach um ein Engagement handelt, um auf Krisenereignisse und Herausforderungen zu reagieren - oder diesen im besten Falle vorzubeugen –, die für Deutschland und Europa unmittelbar relevant sind.

Die wachsende Konfrontation zwischen den USA sowie seiner Verbündeten einerseits und China andererseits dürfte künftig auch entwicklungspolitische Rahmenbedingungen stärker prägen.

Noch ein weiterer Aspekt ist wichtig, um die Entwicklungspolitik für die kommenden Jahre strategisch richtig einzuordnen: Viele wirtschaftlich dynamische Entwicklungs- und Schwellenländer, allen voran China, aber auch Indien, Brasilien, Südafrika und selbst Ruanda, stellen nunmehr seit vielen Jahren Unterstützungsleistungen für andere Entwicklungsländer bereit. „Süd-Süd-Kooperation“ ist daher eine oftmals wichtige Alternative zum Angebot dessen, was reichere Länder aus dem Kreis der OECD bereitstellen. Der mit großem Abstand wichtigste Anbieter an Süd-Süd-Kooperationsleistungen ist China. Chinas Vorgehen in vielen Staaten Afrikas, Asiens und in anderen Weltregionen ist seit Jahren ein höchst relevanter Faktor, der zunehmend aus einer Perspektive der Systemkonkurrenz betrachtet wird. Die wachsende Konfrontation zwischen den USA sowie seiner Verbündeten einerseits und China andererseits dürfte künftig auch entwicklungspolitische Rahmenbedingungen stärker prägen. Das gleiche gilt in etwas anderer Form für Russland. Geostrategische Sichtweisen erhalten daher international in entwicklungspolitischen Debatten ein deutlich größeres Gewicht.

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren tatsächlich eine international viel beachtete Rolle unter den Ländern erarbeitet, die sich im Entwicklungshilfeausschuss (DAC) der OECD zusammengeschlossen haben. In absoluten Zahlen ist Deutschland seit einiger Zeit nach den USA der zweitgrößte Geber; 2020 immerhin mit einem Betrag von 28,4 Milliarden US-Dollar. Und Deutschland erfüllt mittlerweile auch die international gesetzte Norm, mindestens 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens für diesen Zweck aufzubringen – damit ist es unter den führenden Industrieländern (G7) das einzige, das diese Verpflichtung derzeit erfüllt. Diese Entwicklung findet in Deutschland jedoch meist keine große Beachtung, sieht man von der entwicklungspolitischen Szene und nicht zuletzt von den Kirchen ab, die starke Fürsprecher eines entsprechenden Engagements sind.

Mit Erstaunen sehen externe Beobachter, dass Deutschland nicht mehr strategischen und politischen Nutzen aus seiner Rolle als entwicklungspolitisches Schwergewicht zieht. Im Gegensatz dazu hat die Biden-Regierung dem Politikfeld mit Ernennung der früheren UN-Botschafterin Samantha Power als Direktorin der US Agency for International Development (USAID) wieder sehr viel mehr Profil gegeben. Power ist auch die erste USAID-Direktorin, die die mächtige Behörde im einflussreichen Nationalen Sicherheitsrat vertritt. Und Frankreich hat im Juli 2021 ein „Gesetz zu solidarischer Entwicklungszusammenarbeit“ verabschiedet: „Um unsere Investitionen in den Schutz der globalen öffentlichen Güter und die Vorbeugung von Krisen erhöhen zu können, brauchen wir Vorhersehbarkeit und klare finanzielle Vorgaben“, heißt es in den Erläuterungen des französischen Außenministeriums zum neuen Gesetz.

Mit Erstaunen sehen externe Beobachter, dass Deutschland nicht mehr strategischen und politischen Nutzen aus seiner Rolle als entwicklungspolitisches Schwergewicht zieht.

Ein wenig anders sieht es in Großbritannien aus, das sich selbst gerne in einer besonderen Führungsrolle bei globalen Entwicklungsfragen sieht. Die Regierung Johnson hat einen radikalen Einschnitt der Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit vorgenommen und das eigenständige Ministerium für Entwicklungsfragen aufgegeben. Der Sinkflug der britischen Entwicklungspolitik wird von vielen Beobachtern als Vakuum gesehen, welches Deutschland im Schulterschluss mit der EU füllen könnte und sollte.

Wie könnte Deutschland vor diesem Hintergrund seine Entwicklungspolitik in den kommenden Jahren ausgestalten? Erstens ist es wichtig, ihre strategische Dimension in einem fundamental neuen globalen Kontext bei den zentralen politischen Akteuren in Deutschland zu stärken. Diskussionen etwa im Bundestag und bei Nichtregierungsorganisationen sind viel zu oft noch von einem Denken geprägt, das die Entwicklungspolitik als uneigennützigen Ausdruck internationaler Solidarität sieht. Wertebasierung und Altruismus sind auch in der Politik wichtig und richtig. Zugleich kann diese Ausrichtung aber das Blickfeld einengen und Gestaltungsmöglichkeiten reduzieren. Gleiches gilt für die immer wiederkehrenden Versuche, Entwicklungspolitik für kurzfristige wirtschaftliche oder politische Zwecke zu instrumentalisieren, etwa bei der Verknüpfung mit Lieferaufträgen. In eine globale, nachhaltige Entwicklung zu investieren ist aber ein eigenständiges und langfristiges Eigeninteresse, wie es etwa im neuen französischen Gesetz zum Ausdruck kommt.

Zweitens rückt Unsicherheit immer mehr als strategische Herausforderung in den Mittelpunkt des Handelns entwicklungspolitischer und anderer Akteure. Nicht oder kaum antizipierte Krisen der vergangenen Jahre – vom Migrationsdruck auf Europa bis hin zu den deutlich sichtbaren klimabedingten Katastrophen in allen Erdregionen – setzen Entscheidungsträger aller Politikfelder unter Druck. Krisen erzwingen unmittelbares Handeln; sie lassen zugleich allerdings für ein antizipatives und gestalterisches Vorgehen weniger Raum. Der Bedarf an proaktiven Strategien in einem unsicheren Kontext nimmt immens zu. Strategische Vorausschau spielt vor diesem Hintergrund eine wichtige Rolle, um besser agieren zu können und Innovationen für politische Ansätze zu befördern. Hier besteht auch in Deutschland Nachholbedarf.

Drittens werden die Herausforderungen von Klimapolitik und Klimawandel künftig entwicklungspolitische Debatten noch sehr viel stärker prägen. Fortschritte bei internationalen Verhandlungsprozessen zum Klimaschutz sind ohne das Mitwirken von Entwicklungsländern nicht möglich. Bereits aktuell stammen zwei Drittel aller Treibhausgasemissionen aus Entwicklungs- und Schwellenländern – fast ein Drittel aller Emissionen allein aus China. Hier werden Zusagen über internationale Klimamaßnahmenfinanzierung, die schon in Kopenhagen 2009 vereinbart, aber bislang völlig unzureichend umgesetzt wurden, wesentlich die Dynamik für die internationale Entwicklungsfinanzierung in der Zukunft bestimmen. Aktuell steht die Ankündigung der Bundeskanzlerin vom G7-Gipfel im Juli 2021 im Raum, dass Deutschland seinen Beitrag zur internationalen Klimamaßnahmenfinanzierung bis spätestens 2025 von vier auf sechs Milliarden Euro erhöhen wird. Schon heute wird der Großteil dieser Mittel aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und damit der Entwicklungszusammenarbeit gestellt; 85 Prozent im Jahr 2020. Die deutsche Entwicklungspolitik ist damit schon heute eine zentrale Säule der deutschen Klimapolitik, doch dies zeigt sich bislang nur unzureichend in ihren Strategien.

Viertens bringt Deutschland sein politisches Gewicht im Politikfeld Entwicklung bislang nicht wirksam zur Geltung. So legte das BMZ im vergangenen Jahr ein insgesamt sinnvolles Reformkonzept unter dem Namen „BMZ 2030“ vor. Gleichzeitig zeigt sich, dass gerade die Koordination und Kohärenz innerhalb der Bundesregierung in diesem Politikfeld wenig ausgeprägt ist und die entwicklungspolitischen Durchführungsorganisationen wie die GIZ und KfW Entwicklungsbank vielfach zu eigenständig agieren. Die übergreifend koordinierende Rolle des BMZ zu stärken sollte hier ein wichtiges Anliegen sein.

Die Eigenständigkeit eines eigenen entwicklungspolitischen Ressorts ist eine der Stärken des deutschen Systems. Die mangelnde übergreifende politische Steuerung durch das Ministerium ist gleichzeitig eine seiner der zentralen Schwächen.

Die Debatten zur Bundestagswahl haben verdeutlicht, dass internationale Themen in Deutschland weiterhin unterrepräsentiert sind. Teil dieses Defizits ist das oftmals enge Verständnis der Aufgabenbreite von Entwicklungspolitik. Deutschland kann und sollte hier seine Prioritäten sehr viel deutlicher international voranbringen. Hierfür ist es erforderlich, dass das Politikfeld Entwicklung weniger als eine Nische für die Stärkung der globalen Solidarität wahrgenommen wird. Die Eigenständigkeit eines eigenen entwicklungspolitischen Ressorts ist eine der Stärken des deutschen Systems. Die mangelnde übergreifende politische Steuerung durch das Ministerium ist gleichzeitig eine seiner der zentralen Schwächen. Deutschland wird sich künftig noch sehr viel mehr global engagieren müssen. Eine gestärkte Entwicklungspolitik ist dafür ein wichtiger Baustein.