Auf den ersten Blick scheint es, dass ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union die EU auf internationalem Parkett schwächen würde. Allein aufgrund seiner Größe, Wirtschaftskraft und militärischen Stärke ist das Land ein Schwergewicht in der europäischen Außenpolitik. Zudem ist Großbritannien von jeher ein wichtiger transatlantischer Brückenpfeiler in der EU, der der Union dank seines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch auf internationaler Ebene Gehör verschafft. Großbritannien ist darüber hinaus Vorreiter in der Klimadiplomatie und nach den USA der größte Geber in der Entwicklungszusammenarbeit weltweit. Es erfüllt hier eine Vorbildfunktion: Als einziges Land hat es das UN-Ziel von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe gesetzlich festgeschrieben.

Richtig ist aber auch, dass ein „Brexit“ die Chance böte, die EU als außenpolitischen Akteur handlungsfähiger zu machen. In der Vergangenheit haben britische Regierungen eine Reform der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und speziell der im Rahmen der GASP verankerten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weitestgehend blockiert. Diese ablehnende Haltung hat der britische Premierminister David Cameron nach dem Abschluss des „Deals“, der das Verbleiben Großbritanniens in der EU sichern sollte, in klare Worte gefasst:

„Wir haben ein für allemal völkerrechtlich verbindlich festgelegt, dass die nationale Sicherheit Großbritanniens in der alleinigen Verantwortung der britischen Regierung liegt – daher werden wir zum Beispiel nie Teil einer Europäischen Armee werden“.

Seit dem Referendum sind verschiedene Strategie- und Positionspapiere erschienen oder in der Planung, die die Folgen eines möglichen Brexit aus sicherheits- und verteidigungspolitischer Perspektive behandeln.

 

Grünes Licht für eine integrierte Sicherheitspolitik

Nur wenige Tage nach dem Referendum präsentierte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs eine „Globale Strategie“. Das Dokument ist Federica Mogherinis Antwort auf die „existentielle Krise der EU“. Die Krise wurde durch das britische Votum verstärkt, eröffnet aber auch Chancen. Die Hohe Beauftragte fordert eine „starke Union, die strategisch denkt, eine gemeinsame Vision hat und gemeinsam handelt“. Mitgliedstaaten, die sich in der Vergangenheit bei Abstimmungen im Europäischen Rat und im Ministerrat an der integrationsfeindlichen Haltung Großbritanniens orientiert oder hinter ihr versteckt haben, müssen nun Stellung beziehen.

Richtig ist aber auch, dass ein „Brexit“ die Chance böte, die EU als außenpolitischen Akteur handlungsfähiger zu machen.

Eine verstärkte Europäisierung der Außenpolitik wäre durchaus im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Europas: Laut einer Eurobarometer-Umfrage vom Juni 2016 unterstützen 50 Prozent der Befragten eine gemeinsame europäische Außenpolitik. 66 Prozent wünschen sich sogar eine verstärkte Integration im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Daher sollten wir den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU dazu nutzen, die GASP und GSVP grundlegend zu reformieren.

 

Welche Reform von GASP und GSVP?

Unter der Überschrift „Europa neu gründen“ plädieren der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und der SPD-Parteivorsitzende, Sigmar Gabriel, in einem gemeinsamen Papier zum Brexit für eine „Vergemeinschaftung“ der europäischen Außenpolitik. In die gleiche Richtung mit vielen konkreten Beispielen geht auch ein gemeinsames Papier des deutschen und des französischen Außenministers, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault mit der Überschrift „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“. Sie fordern, dass die EU eine gemeinsame Analyse des strategischen Umfelds und ein gemeinsames Verständnis der Sicherheitsinteressen entwickeln müsse. Dabei betonen sie zugleich, „dass es unter den Mitgliedstaaten unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt“. Folgerichtig könnten in einem ersten Schritt ambitioniertere Mitgliedstaaten eine „integrierte“ europäische Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, welche alle verfügbaren Mittel und Instrumente zusammenführt.

Die beiden Außenminister empfehlen, dass Gruppen von Mitgliedstaaten im Rahmen der bereits in den EU-Verträgen vorgesehenen „dauerhaften strukturierten Zusammenarbeit“ im Verteidigungsbereich stärker zusammenarbeiten und somit die Integration in diesem Bereich vorantreiben sollen. Der Vorschlag, ein „europäisches Semester für Verteidigungsfähigkeiten“ einzuführen, welches Synergien zwischen nationalen Planungsprozessen schaffen und den Mitgliedstaaten so dabei helfen soll, Prioritäten abzugleichen, zielt ebenfalls auf eine verstärkte Integration innerhalb der GSVP. Auch in Mogherinis Globaler Strategie wird eine „graduelle Synchronisierung und gegenseitige Anpassung der nationalen Verteidigungsplanungszyklen und Praktiken der Kapazitätsentwicklung“ vorgeschlagen.

Ich stimme mit Steinmeier und Ayrault überein, dass die besagten Reformen nicht allein der Stärkung der verteidigungspolitischen Komponente der GSVP dienen sollten. Sie fordern, dass die Fähigkeiten der EU insbesondere im Aufgabenfeld der Konfliktprävention und der Krisenbewältigung verstärkt werden müssen. Dies entspricht auch der Feststellung Mogherinis in der Globalen Strategie, die EU werde in Zukunft „in allen Phasen des Konfliktzyklus“ handeln, also in der Konfliktprävention, Krisenreaktion und Stabilisierung. Insbesondere bei der „soft power“, so Mogherini weiter, sei die EU global am besten aufgestellt. Zugleich müsse sich die EU aber auch in die Lage versetzen, ihre Mitgliedstaaten eigenständig gegen äußere militärische Bedrohungen zu verteidigen, wobei die NATO für die Mehrzahl unter ihnen auch weiterhin der wichtigste Sicherheitsgarant bleibe.

In der von Mogherini geforderten, verstärkten Kooperation mit der NATO sollte die EU darauf hinwirken, dass die NATO nicht nur auf das Prinzip der Abschreckung setzt, sondern darüber hinaus mehr Bereitschaft zum Dialog mit anderen Ländern wie etwa Russland an den Tag legt. Wichtig ist auch, dass die EU stärker mit Dialogforen wie der OSZE zusammenarbeitet, um Konflikte zu entschärfen. Der deutsche OSZE-Vorsitz in diesem Jahr setzt auch in diesem Bereich wichtige Impulse.

Auch die Rüstungspolitik und Rüstungsexporte der Mitgliedstaaten sollten vergemeinschaftet und als Instrumente einer europäischen Außenpolitik konzipiert und weiterentwickelt werden. Die Koordinierung von Investitionen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich sowie die von Steinmeier und Ayrault und Mogherini ins Spiel gebrachte europäische Förderung von Rüstungsforschung sind sinnvoll. Dies sollte aber mit der Zielsetzung einhergehen, dass Rüstungsexporte in Drittländer nur noch als gemeinsames außenpolitisches Instrument eingesetzt werden und ihre Bedeutung als wirtschaftliche Exportgüter verlieren.

Auch in Deutschland befindet sich die Diskussion um die Zukunft der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in vollem Gange. Im aktuellen Diskurs zum Weißbuchprozess zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr ist das „Pooling und Sharing“ von Fähigkeiten auf EU-Ebene ein wichtiges Thema. Dies würde die Interoperabilität der Armeen und Waffensysteme der Mitgliedstaaten gewährleisten, ohne die Rüstungsbudgets durch parallel in den Mitgliedstaaten stattfindende Rüstungsforschung in die Höhe zu treiben.

Interessanterweise wird weder in der Globalen Strategie noch im Papier von Steinmeier und Ayrault die Rolle des Europäischen Parlaments thematisiert.

Der in den <link rubriken aussen-und-sicherheitspolitik artikel geheimsache-weissbuch-1494>Diskussionen zum Weißbuch vernehmbare Ruf nach einem EU-Hauptquartier, von dem aus zivile und militärische GSVP-Einsätze geplant und durchgeführt werden könnten, fand sich bereits im Ende 2014 veröffentlichten „Positionspapier zur Europäisierung der Streitkräfte“ der Arbeitsgruppe Sicherheit und Verteidigung der SPD-Bundestagsfraktion. Steinmeier und Ayrault sowie Mogherini fordern nun erneut die Einrichtung einer solchen ständigen zivil-militärischen Planungsstelle, was bisher stets von Großbritannien verhindert worden ist. Mit dieser strategischen Ausrichtung würde ein EU-Hauptquartier bei weitem keine Doppelung von NATO-Strukturen darstellen, wie es Kritiker behaupten.

 

Institutionelle Auswirkungen

Die Reformvorschläge sollten mit einer institutionellen Vertiefung der GASP/GSVP einhergehen. Ich unterstütze den Vorschlag des deutschen und französischen Außenministers, dass der Europäische Rat und der Ministerrat mindestens halbjährlich zum Thema Sicherheit und Verteidigung tagen sollten – eine Forderung, die bereits im erwähnten SPD-Fraktionspapier enthalten war. Ich halte es für sinnvoll, diesen Punkt im Kontext eines möglichen Brexit wieder auf die Agenda zu setzen.

Interessanterweise wird weder in der Globalen Strategie noch im Papier von Steinmeier und Ayrault die Rolle des Europäischen Parlaments thematisiert. Eine stärkere parlamentarische Befassung mit sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen auf EU-Ebene ist aber wichtig und notwendig, um den geforderten Reformen eine demokratische Legitimation zu verleihen. Dies könnte zum Beispiel umgesetzt werden, indem – wie im SPD-Fraktionspapier gefordert – der Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlaments zu einem vollwertigen Ausschuss aufgewertet wird. Hierbei geht es nicht etwa darum, die Kompetenzen der Parlamente der Mitgliedstaaten zu beschneiden. Der Parlamentsvorbehalt bei der Entsendung von Militär darf nicht angetastet werden. Stattdessen soll das Europäische Parlament als zusätzliche parlamentarische Kontrollinstanz aufgewertet werden, die neue Vorhaben wie die gemeinsame Rüstungsexportpolitik, EU-geförderte Rüstungsforschung oder den Einsatz von GSVP-Missionen kritisch und demokratisch legitimiert begleitet. Formate wie die Interparlamentarische Konferenz zur GASP/GSVP, bei der Europaparlamentarier mit ihren Kollegen aus den Parlamenten der Mitgliedstaaten zusammentreffen, um außen-und sicherheitspolitische Themen zu besprechen, sollten ebenfalls weiter ausgebaut werden.

Die hierzu notwendige Anwendung und Änderung der Europäischen Verträge und Institutionen bedürfte der Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten. Es ist zwar keineswegs ausgemacht, dass ein Austritt Großbritanniens aus der EU den Weg für eine Vertragsänderung frei machen würde. Allerdings würde hierdurch das zahlenmäßig kleine Lager der Länder, die sich stets gegen eine Vertiefung der GSVP ausgesprochen haben, entscheidend geschwächt.