Der Angriffskrieg Russlands hat furchtbare Zerstörung und unermessliches Leid über die Ukraine gebracht und die Grundfesten der internationalen Friedensordnung zerstört. Die Erschütterungen dieses geopolitischen Erdbebens sind auch in Zentralasien spürbar, wo alte Gewissheiten über den großen Nachbarn im Norden ins Wanken geraten sind – in einer Zeit, in der China seinen Einfluss weiter ausdehnt und auch andere Akteure, wie die Türkei, ihre Präsenz ausbauen. Gerade jetzt müssen wir uns mehr engagieren und den Staaten Zentralasiens eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe anbieten. Dafür wird das Treffen, zu dem Bundeskanzler Olaf Scholz die Staatschefs der fünf zentralasiatischen Republiken Kirgisistan, Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan und Turkmenistan diese Woche nach Berlin eingeladen hat, einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist das erste Mal überhaupt, dass alle fünf Staatschefs zu einem solchen Treffen nach Berlin reisen.
Die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken, die 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, sind nach wie vor wirtschaftlich, gesellschaftlich und sicherheitspolitisch teils sehr eng mit Moskau verflochten. Russland ist zentraler Handelspartner- und Energielieferant. Die Überweisungen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Russland insbesondere nach Kirgisistan und Tadschikistan sind eine wichtige Einnahmequelle. Und das russische Regime sichert seine Macht über regionale Zusammenschlüsse wie die Eurasische Wirtschaftsunion (unter anderem mit Kasachstan und Kirgisistan) und über das Verteidigungsbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (unter anderem mit Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan).
Bereits vor dem russischen Angriffskrieg verfolgten die zentralasiatischen Staaten eine Politik der Diversifizierung ihrer Beziehungen.
Bereits vor dem russischen Angriffskrieg verfolgten die zentralasiatischen Staaten eine Politik der Diversifizierung ihrer Beziehungen, die sie nun verstärkt vorantreiben. Wichtig ist hierbei China, das seit Jahren über die Belt and Road Initiative und über bilaterale Abkommen kontinuierlich seinen Einfluss in der Region verstärkt, sich Zugriff auf Rohstoffe sichert und Transportwege nach Europa ausbaut. Doch Chinas Engagement wird in der Bevölkerung sehr kritisch gesehen, wie Proteste in Kirgisistan und Kasachstan zeigten. Es entstanden wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeiten. So ist China mittlerweile der größte Kreditgeber für die Länder in der Region, mit der Ausnahme von Kasachstan.
Die neoimperialistische Politik Russlands stellt offen die Souveränität der Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Frage und hat insbesondere im Nachbarland Kasachstan große Sorgen ausgelöst. Gleichzeitig stellen die Regierungen fest, dass Russland immer weniger willens und in der Lage ist, Sicherheit zu garantieren, und suchen deshalb weitere Partner – auch und gerade in Europa.
Die neoimperialistische Politik Russlands stellt offen die Souveränität der Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Frage.
Die Länder Zentralasiens stehen in dieser schwierigen Nachbarschaft nicht allein da – das muss unsere Botschaft sein! Dafür braucht es mehr Engagement in dieser geopolitisch bedeutenden Brückenregion zwischen Ost und West. Erstens sollten wir den wirtschaftlichen Austausch dieser Länder mit Europa ausbauen. Dies erweitert deren politischen Handlungsspielraum und stärkt die Souveränität der zentralasiatischen Länder. Und auch wir haben ein Interesse am Ausbau der Handelsbeziehungen, insbesondere bei Energie und Rohstoffen. Aktuell erhält die Raffinerie in Schwedt Öl aus Kasachstan. Zukünftig wird der Bezug von grünem Wasserstoff an Bedeutung gewinnen, da es enorme Kapazitäten für erneuerbare Energien in der Region gibt. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit Global Gateway, der Konnektivitätsinitiative der EU, Projekte in Zentralasien, auch für den Handel über das Kaspische Meer, auf den Weg bringen und damit alternative Handels- und Transportrouten aufbauen, die an Russland vorbeigehen. Zugleich sollte die EU die regionale wirtschaftliche Integration der fünf zentralasiatischen Länder unterstützen und damit deren Abhängigkeit von Russland und China reduzieren.
Zweitens sollten Deutschland und die EU Partner Zentralasiens für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sein. Strategien angesichts der Wasserknappheit, für den Ausbau erneuerbarer Energien und den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen – Erfahrung und Wissen aus der EU – sollten wir noch stärker anbieten. Hier können wir auf den Erfahrungen zum grenzüberschreitenden Wassermanagement aufbauen und haben mit der Just Energy Transition Partnership genau das passende Werkzeug zur Hand.
Drittens sollten wir Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Region stärken. Deshalb begrüßen wir beispielsweise die in Kasachstan begonnenen Reformen, zu denen unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe und die Einsetzung des Verfassungsgerichts gehören. Auch in den anderen Ländern ist die Rechenschaft über Regierungshandeln und der Kampf gegen Korruption ein wichtiges Anliegen – auch der Regierungen. Auch wenn Demokratie und politischer Pluralismus oft eingeschränkt oder gar nicht vorhanden sind, ist die Unterstützung bei Justizreformen und der Etablierung rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns ein erster wichtiger Ansatzpunkt für Zusammenarbeit in diesem für uns so wichtigen Feld. Ohne demokratische Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger und ohne den Streit um den richtigen Weg in vielfältigen Medien wird eine nachhaltige soziale und ökonomische Modernisierung nicht gelingen.
Deutschland hat bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass es in der Zentralasienpolitik der EU eine tragende Rolle einnehmen kann.
Es ist wichtig, dass wir mit einer Vielzahl von Besuchen führender Politikerinnen und Poliker unsere wertschätzende Aufmerksamkeit für die Region hervorheben. Der EU-Ratspräsident reiste im Oktober 2022 und im Juni 2023 zu hochrangigen EU-Zentralasien-Gipfeln. Die deutsche Außenministerin kam im Oktober 2022, der Bundespräsident im Juni 2023. Für uns ist klar, dass wir auch nach dem Treffen im Kanzleramt Ende September unser Engagement weiter vorantreiben werden. Dazu gehört auch unsere Unterstützung für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die weiterhin eine wichtige Rolle in der Region innehat. Sie ist die wichtigste institutionelle Verknüpfung Europas mit Zentralasien und wird von unseren dortigen Partnerinnen und Partnern in dieser Funktion hoch geschätzt.
Deutschland hat bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass es in der Zentralasienpolitik der EU eine tragende Rolle einnehmen kann. So entstand die erste Zentralasienstrategie während der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 unter Außenminister Steinmeier. Die Neuauflage von 2019 machte deutlich, dass für uns auch der Klima- und Umweltschutz sowie die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Jetzt gilt es, dies mit Leben zu füllen – und gleichzeitig mit unseren Partnerinnen und Partner das Gespräch zu führen über ein mögliches Update der Zentralasienstrategie, die den neuen geopolitischen Verhältnissen Rechnung trägt.