In der kommenden Woche steht die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung im Mittelpunkt der internationalen Politik. Diplomaten Russlands und der Vereinigten Staaten treffen sich am 9. und 10. Januar in Genf. Die NATO plant für den 12. Januar ein Treffen des NATO-Russland-Rats. Am Tag danach folgt ein Treffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Bei diesen drei Zusammenkünften wird es um die russischen Forderungen nach einer Revision der europäischen Sicherheitsarchitektur gehen, wie sie seit dem Ende des Ost-West-Konflikts besteht. Dazu hat Moskau im Dezember konkrete Vertragsvorschläge für ein Sicherheitsabkommen mit den USA und der NATO unterbreitet: Die Regierung Biden und die anderen NATO-Mitglieder sollten sich darin verpflichten, weder die Ukraine noch andere ehemalige Sowjetrepubliken als Mitglieder aufzunehmen. Die Allianz solle zudem ihre militärische Infrastruktur in Osteuropa auf den Stand von 1997, das Jahr des Abschlusses der NATO-Russland-Grundakte, zurückführen.
Würden diese Vorschläge umgesetzt, entstünde nicht nur eine sicherheitspolitische Pufferzone mit einem Status verminderter Sicherheit im östlichen Teil des Bündnisgebietes. Es bedeutete die Grundlage für die Rückkehr zu einer europäischen Staatenordnung, in der große Mächte unter Verweis auf historische Ansprüche und vermeintliche Bedrohungswahrnehmungen exklusive Einflusszonen beanspruchen könnten. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet reiches Anschauungsmaterial für die fatalen, destabilisierenden Folgen einer solchen Großmachtpolitik unter Missachtung der Wünsche der betroffenen Länder.
Der Großteil der russischen Vorschläge reflektiert eine Renaissance des geopolitisch motivierten Großmachtdenkens.
Dabei halten Behauptungen, die existierende Friedensordnung für Europa sei überholt, keiner seriösen Überprüfung stand: Die Charta von Paris vom November 1990 garantiert (auch mit der Zustimmung der damals noch existierenden Sowjetunion) nach wie vor die territoriale Integrität aller Teilnehmerstaaten, bekräftigt das Bekenntnis zum Gewaltverzicht und erklärt „gleiche Sicherheit“ für alle zum Grundprinzip der Sicherheit in Europa. Zahlreiche Abkommen zur Vertrauensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind Ausdruck dieses Konsenses geworden. In diesem Sinne bieten Elemente der russischen Vorschläge zur Rückbesinnung auf militärische Transparenzregelungen oder zu spezifischen regionalen Vereinbarungen über die Nicht-Stationierung bestimmter Waffensysteme interessante Anknüpfungspunkte.
Der Großteil der russischen Vorschläge reflektiert jedoch eine Renaissance des geopolitisch motivierten Großmachtdenkens. Was Europa insbesondere besorgt stimmen sollte: Die Regierung Biden leistet diesem Epochenbruch zumindest in formaler Hinsicht auch noch Vorschub, denn die USA und Russland diskutieren auf der Genfer Hauptbühne die Konturen einer europäischen Sicherheitsordnung ohne die Beteiligung der Europäer. Da tröstet es wenig, dass die Regierung Biden sich erfolgreich darum bemüht hat, den amerikanisch-russischen Dialog durch die Treffen der NATO bzw. der OSZE zu multilateralisieren. Dass diese Gespräche lediglich symbolische Bedeutung besitzen, ist offensichtlich, und dass von ihnen genuin europäische Impulse ausgehen werden, ist nicht zu erwarten. Einer der wenigen europäischen Politiker, der dieses Defizit erkannt und öffentlich eine stärkere europäische Rolle gefordert hat, ist der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gewesen. Doch in Fragen der Sicherheitspolitik ist das Gewicht der EU zu schwach, um Gehör zu finden.
Ohne eine entsprechende Koordination der außenpolitischen Positionen droht eine weitere sicherheitspolitische Marginalisierung Europas.
Auch die europäischen NATO-Mitglieder bleiben gerade bedrückend still trotz ihrer vielfachen Beteuerungen, dass man den europäischen Pfeiler der NATO als politisches Konsultationsforum stärken wolle. Vergessen scheinen die Schlussfolgerungen am Ende der Ära Trump, denen zufolge Europa sich nicht ohne weiteres auf die Führung der USA verlassen könne und sich daher stärker, umfassender und selbstständiger als bislang für seine sicherheitspolitischen Interessen einsetzen müsse. Angesichts der Vielstimmigkeit der europäischen Staaten und ihrer unterschiedlichen Interessen ist dies keine einfache Aufgabe – aber ohne eine entsprechende Koordination der außenpolitischen Positionen droht eine weitere sicherheitspolitische Marginalisierung Europas.
Die russische Außenpolitik dieser Tage überrascht wenig: Präsident Putin sieht sich als Führer einer Weltmacht auf Augenhöhe mit Präsident Biden. Die Staaten Europas spielen in seinen Großmachtplänen keine Rolle, er betreibt ihre Spaltung. Dies gilt nicht nur für die Europäische Union, sondern für die NATO gleichermaßen. So hat er Russlands Forderungen nach einem Ende der NATO-Osterweiterung bereits mit seinem türkischen Amtskollegen Erdogan erörtert. Ziel dieses Gespräches dürfte gewesen sein, die Türkei auf die Seite Russlands zu ziehen und einen Konsens in der NATO zu erschweren.
Washington und Moskau verhandeln miteinander die Eckpfeiler der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur – die Europäer werden dabei von Washington allenfalls am Rande konsultiert.
Neues lernt man hingegen über die Außenpolitik der Regierung Biden: Die Zustimmung zu den Gesprächen unter Ausschluss der Europäer war ein Zugeständnis an Moskau, das den russischen Bedenken ungewollt politisches Gewicht und Legitimation verliehen hat. Dies sollte diejenigen NATO-Verbündeten zutiefst beunruhigen, die bereits seit einiger Zeit (und nicht zu Unrecht) befürchten, von den USA zugunsten anderer Prioritäten aufgegeben zu werden. Denn von Genf geht eine fatale Botschaft aus: Washington und Moskau verhandeln miteinander die Eckpfeiler der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur – die Europäer werden dabei von Washington allenfalls am Rande konsultiert. Das erinnert an die Struktur der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen während des Ost-West-Konflikts und widerspricht der Ankündigung Bidens zu Beginn seiner Amtszeit, auf Multilateralismus zu setzen. Wollen die Europäer als geopolitische Macht wahrgenommen und nicht zum Spielball rivalisierender Großmächte werden, müssen sie ihre Interessen robuster vertreten. Eine laut vernehmbare Stimme des europäischen Pfeilers der NATO wäre ein Anfang.