Kurz nach Kriegsbeginn versetzte Präsident Wladimir Putin die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Nach einigen Drohungen von Außenminister Sergej Lawrow in den letzten Monaten zog Ex-Präsident Dmitri Medwedew nach und warnte mit Hinweis auf einen Atomkrieg davor, die Regierung Russlands wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine vor den Internationalen Strafgerichtshof zu zerren. Was will Russland mit seinen wiederholten Hinweisen auf Atomwaffen? Sind diese eine ernsthafte Bedrohung? Will Moskau eskalieren? Geht es darum, den Westen daran zu hindern, die Ukraine weiter zu unterstützen? Oder besteht in Europa tatsächlich die Gefahr eines Atomkrieges?

Plötzlich fühlen sich die Europäer wieder mit einem potentiell lebensbedrohlichen Konflikt zwischen einem atomar bewaffneten Russland und dem Atombündnis der NATO konfrontiert. Dies ist ein erheblicher Rückschlag sowohl für die Bestrebungen, Atomwaffen zu ächten, als auch für die allgemeine Rüstungskontrolle. Die NATO hat unmissverständlich klargemacht, dass die nukleare Abschreckungsstrategie weiterhin gilt und dass sie das Konzept der europäischen nuklearen Teilhabe unter keinen Umständen aufgegeben wird.

Die „guten alten Zeiten“ der Rüstungskontrolle nach dem Ende des Kalten Krieges, als zahlreiche Rüstungskontrollabkommen geschlossen wurden und die Zahl der Atomsprengköpfe und ihrer Trägersysteme in Russland und den USA drastisch reduziert wurden, sind lange vorbei. Seit Jahren steht die Rüstungskontrolle unter großem Stress: Rüstungskontrollverträge liefen aus und wurden nicht mehr verlängert; Rüstungskontrollforen existieren nicht mehr; die mit dem Atomwaffensperrvertrag angestrebte Nichtverbreitung von Atomwaffen hat nicht funktioniert, da heute neben den fünf anerkannten Atommächten auch noch Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea über Atomwaffen verfügen und die anerkannten Atommächte ihrer Verpflichtung zur Abrüstung nicht nachkamen; zahlreiche Länder, vor allem China, aber auch Indien, rüsten ihr Atomarsenal kräftig auf; technologische Entwicklungen erlauben die Modernisierung der Atomstreitkräfte, was zu weiterer Instabilität führen kann. VN-Generalsekretär António Guterres stellte schon 2019 ernüchtert fest: „Unverblümt gesagt. Wichtige Komponenten der internationalen Rüstungskontrolle brechen zusammen.“

Vor Kriegsbeginn hatten Atomwaffen keine hohe Priorität auf der politischen Tagesordnung.

Nun hat Russland mit seiner bellizistischen nuklearen Rhetorik diesen desolaten Zustand der nuklearen Rüstungskontrolle weiter unterminiert. Die NATO reagiert darauf mit der Bekräftigung und dem möglichen Ausbau der nuklearen Teilhabe in Europa. Zu Beginn des Kalten Krieges wurde das System der nuklearen Teilhabe konzipiert, um die Verbreitung von Atomwaffen unter westlichen Verbündeten zu verhindern. Europäische Strategen hofften zudem, die USA dadurch stärker in die Sicherheit Europas einzubinden. Es sollte zeitgleich jedoch sicherstellen, dass die Verantwortlichkeiten auch bei den Europäern liegen.

Vor Kriegsbeginn hatten Atomwaffen keine hohe Priorität auf der politischen Tagesordnung. Zwar hatte US-Präsident Donald Trump für ein Ende wichtiger Rüstungskontrollabkommen gesorgt, es gab aber auch die Initiative der nicht-nuklearen Länder zum Atomwaffenverbotsvertrag. Dieser internationale Vertrag, für den im Jahr 2017 122 VN-Mitgliedsländer stimmten, strebt die weltweite Ächtung von Atomwaffen an.

Zur Rolle der Atomwaffen gab es immer gegensätzliche Positionen, die sich quasi mit religiösem Eifer gegenüberstehen. Die Befürworter behaupten, die nukleare Abschreckung habe funktioniert, denn seit 1945 wurden diese ja nie eingesetzt. Die Gegner hingegen halten die Drohung mit diesen inhumanen Waffen, die ganze Erdteile zerstören können, generell für unverantwortlich. Und die Befürworter der Rüstungskontrolle heben die Notwendigkeit der nuklearen Stabilität hervor: Wenn schon Atomwaffen existieren, dann sollen sie wenigstens kontrolliert und möglichst koordiniert gemanagt werden.

Der Krieg in der Ukraine zeigt anschaulich Nutzen und Grenzen von Atomwaffen als Abschreckung und als Instrument diplomatischen Drucks. In vier der nuklearen Teilhabeländer – Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden – gab es vor Beginn des Ukraine-Krieges ernsthafte Diskussionen über den Abzug der US-Atomwaffen. Die nukleare Teilhabe galt bei vielen als Relikt des Kalten Krieges. Nur die Türkei ging den umgekehrten Weg. Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte 2019, es sei nicht hinzunehmen, dass Atomwaffenstaaten Ankara verbieten wollen, eigene Atomwaffen zu entwickeln. Dies war eine Reaktion auf die Entscheidung der US-Regierung, die Türkei aus dem F-35-Kampfjet-Programm zu werfen, nachdem Erdoğan darauf bestanden hatte, ein russisches Raketenabwehrsystem zu beschaffen. In den anderen vier Ländern sprach sich eine Mehrheit der Bevölkerung für den Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen aus.

Dies hat sich jedoch durch den Krieg gegen die Ukraine völlig verändert. In Deutschland stimmten in einer Umfrage nur noch 39 Prozent für den Abzug der US-Atomwaffen. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte beim letzten NATO-Gipfel die Relevanz der nuklearen Teilhabe. Offensichtlich ist die Debatte innerhalb der SPD um die Zukunft der amerikanischen Atombomben beendet. Nur wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine entschied sich die Bundesregierung, nach jahrelangen kontroversen Diskussionen, für die Anschaffung neuer atomwaffenfähiger F-35-Kampfjets in den USA und schloss sich damit diesem neuen nuklearen Modernisierungsschub an.

Zur Rolle der Atomwaffen gab es immer gegensätzliche Positionen, die sich quasi mit religiösem Eifer gegenüberstehen.

NATO-Offizielle waren begeistert von der weit verbreiteten Bereitschaft, das Konzept der nuklearen Teilhabe zu modernisieren. Jessica Cox, Chefin der NATO-Direktion für Atompolitik, sagte: „Wir führen die Modernisierung der F-35 schnell und furios durch und integrieren diese in unsere Planung und Übungen ...“ Und sie fügte hinzu, dass „die anspruchsvollen Funktionen des Flugzeugs auch die Fähigkeiten von Allianzmitgliedern und F-35-Kunden wie Polen, Dänemark oder Norwegen verbessern werden, die möglicherweise mit der Unterstützung tatsächlicher nuklearer Teilungsmissionen beauftragt werden“.

Nicht nur die Türkei liebäugelt also jetzt mit eigenen nuklearen Optionen. Werden nun in Kürze die meisten oder sogar alle NATO-Mitglieder in die nukleare Teilhabe integriert? Die Stimmen in Europa werden lauter. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, sagte in einem Interview: „Wir müssen jetzt auch über die nukleare Option reden.“ Und der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sprach sich für die Stärkung der europäischen Sicherheit aus und sagte: „In Hinblick auf den nuklearen Schutzschirm müssen wir mit Frankreich ins Gespräch kommen …“

Werden jetzt die Ideen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Wirklichkeit, der wiederholt die „strategische Autonomie“ der EU sowie einen Dialog über Frankreichs nukleare Abschreckung mit „unseren europäischen Partnern“ forderte? 2020, als Macron den Dialog anbot, reagierten die europäischen Partner zurückhaltend. Viele Fragen bleiben offen, denn dieses französisch-europäische nukleare Szenario, mit dem Ziel größerer Unabhängigkeit von den USA, ist nicht kompatibel mit dem US-dominierten Arrangement nuklearer Teilhabe.

Die nukleare Rüstungskontrolle sollte nicht den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland überlassen werden.

Der gegenwärtige Trend zur weiteren Eskalation sollte uns nicht davon abhalten, die nukleare Dimension, die nach wie vor eine „gegenseitig gesicherte Zerstörung“ garantiert, nüchtern zu bewerten. Krisen- und Eskalationsmanagement von Nuklearwaffen ist nach wie vor dringend geboten. Doch heute ist das bekannte Muster der bilateralen US-russischen Vereinbarungen nicht mehr ausreichend. Aus der früheren bilateralen Nuklearordnung ist inzwischen ein multilaterales Wettrüsten entstanden, das bislang weitgehend unkoordiniert nach nationalen Prioritäten in den USA, Russland, China und Indien vorangetrieben wird. Daher sollten die Debatten über die nukleare Teilhabe und die nukleare Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesordnung kommen, um die internationalen Beziehungen im atomaren Bereich zu beruhigen.

Die nukleare Rüstungskontrolle sollte nicht den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland überlassen werden. Eine Initiative der europäischen Regierungen wäre an dieser Stelle sehr hilfreich. Angesichts des Krieges gegen die Ukraine und der geopolitischen Verwerfungen ist es natürlich schwierig, das für derartige Verhandlungen nötige Vertrauen aufzubauen und Mäßigung bei neuen Rüstungsvorhaben zu praktizieren. Kurzum: Zurzeit ist Eskalation weiter auf der Tagesordnung.

Obwohl viele Regierungen immer noch auf die Notwendigkeit zur Kontrolle der nuklearen Rüstung und zur Abrüstung hinweisen, wurde in Wirklichkeit der Schalter auf die Modernisierung und Priorisierung des Arsenals umgelegt. Aber es besteht immer noch die Hoffnung, dass andere Initiativen, insbesondere der Atomwaffenverbotsvertrag und die bevorstehende zehnte Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags, der nuklearen Rüstungskontrollagenda neues Leben einhauchen werden.