Donald Trump, so hören wir, sei „dumm“, „beschämend,“ und „unamerikanisch“ – meint zumindest Präsident Biden. Er sei ein Kriegstreiber und schon fast ein Kriegsverbrecher, eine weltweite Bedrohung, und wolle „Putin grünes Licht für noch mehr Krieg und Gewalt“ in Europa geben. Doch was, wenn Trump Europa in Wahrheit einen Gefallen tut? Als Trump kürzlich tönte, er würde Russland zum Angriff auf jedes NATO-Mitglied „ermuntern“, das seinen Anteil an den Verteidigungsausgaben schuldig bleibe, zogen viele den (ziemlich überzogenen) Schluss, die USA würden die NATO verlassen, wenn Trump im November die Wahl gewinnt – und die Rote Armee werde sich in Marsch setzen und quer durch Europa ziehen, während Amerika wegschaut. Mit einem Schlag wäre das Zeitalter der USA als Weltpolizei vorbei. Dass die Wellen der Trump-Hysterie daraufhin hochschwappten, versteht sich von selbst.

Zur allgemeinen Überraschung wurde kürzlich bekannt, dass die meisten NATO-Mitgliedstaaten – 18 von 32 – das Ausgabenziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung in diesem Jahr erreichen. Das wiegt zwar sicherlich nicht die 80 000 in Europa stationierten US-Soldaten auf, aber auf jeden Fall zeigt es, dass Europa mit Erfolg dabei ist, seine Verteidigungsfähigkeit zu stärken und sich für den Fall zu rüsten, dass die Amerikaner sich aus Europa oder gar aus der NATO zurückziehen sollten. Das nimmt Trumps hetzerischen Aussagen sogleich etwas von ihrer Schärfe. Manche werteten dessen Äußerungen sogar als dringend gebotenen „Weckruf“ für Europa. Könnte es demnach sein, dass eine erneute Trump-Präsidentschaft für Europa eher eine Chance als eine Bedrohung wäre?

Vermutlich wäre sie weder das eine noch das andere. Selbst wenn man die zweifelhafte Prämisse gelten lässt, ein Rückzug der USA aus der NATO wäre für Europa ein Problem, deutet nichts darauf hin, dass Trump im Falle seiner Wiederwahl das Bündnis tatsächlich verlassen würde. Als er Präsident war, bezeichnete Trump die NATO als „obsolet“ und drohte viele Male mit dem Rückzug der USA aus dem Bündnis – ließ aber nie Taten folgen. 2018 las er bei einem NATO-Gipfel den europäischen Staats- und Regierungschefs die Leviten, weil sie hinter dem Ausgabenziel zurückblieben, und drohte damit, die USA würden „ihre eigenen Wege gehen“, wenn die Europäer nicht mehr für das Militär ausgeben. Doch nichts dergleichen geschah, und Trump machte auch keine ernsthaften Anstalten in diese Richtung.

Die NATO ist alles andere als eine Allianz gleichberechtigter Partner.

Ebenso unbegründet ist die Behauptung, Trump habe sich während seiner Zeit im Weißen Haus „mit Russlands Präsident Wladimir Putin verbündet“ und seine Wiederwahl wäre deshalb „ein Geschenk für Putin“. Entgegen der Fiktion von der „Bromance“ zwischen Trump und Putin stockte Trump die amerikanischen Militärhilfen für die Ukraine in Wahrheit massiv auf und war der erste US-Präsident überhaupt, der Waffen an die Ukraine verkaufte. Damit wollte er, wie das United States Naval Institute dargelegt hat, die ukrainische Armee nicht nur bewaffnen, sondern auch deren „Interoperabilität mit der NATO“ verbessern, und sandte das Signal aus, dass Washington die Ukraine unabhängig von ihrem formalen Status mehr und mehr als De-facto-Mitglied der NATO behandeln werde. Und gegen Bidens neulich geäußerte Vermutung, Putin würde einen Wahlsieg Donald Trumps als „grünes Licht“ für weitere Invasionen auffassen, spricht die offenkundige Tatsache, dass Russland während Bidens Präsidentschaft in die Ukraine einmarschierte und nicht in der Zeit, als Trump im Weißen Haus saß. Alles in allem drängt sich das Fazit auf, dass das von Trumps Kritikern beschworene Endzeitszenario vom „Tod der NATO“ weitestgehend ein Fantasiegebilde ist.

Nehmen wir trotzdem für einen Moment an, Trumps Kritiker hätten Recht und er würde im Falle seiner Wiederwahl die USA aus der NATO führen und das transatlantische Militärbündnis zerstören. Wäre das für den Kontinent wirklich die von den führenden Politikern Europas behauptete Tragödie? Dies wäre nur dann der Fall, wenn man die Mär von der NATO als einem reinen „Verteidigungsbündnis“ glaubt, das auf Frieden und Sicherheit in Europa hinarbeite.

Die Realität sieht leider ganz anders aus. Die NATO ist alles andere als eine Allianz gleichberechtigter Partner. Sie ist eine der wichtigsten Institutionen, mit denen die USA ihre Kontrolle über das Westeuropa der Nachkriegszeit ausüben. Die Wissenschaftler Rajan Menon und William Ruger schrieben vor Kurzem: „Der Fortbestand der NATO sorgt dafür, dass Europa strategisch ein Untergebener der USA bleibt. Das erklärt auch, warum die USA sich zwar oft über die ungleiche Lastenverteilung beschweren, aber nie fordern, dass Europa seine militärische Macht drastisch ausbauen, geschweige denn verteidigungspolitisch auf eigenen Füßen stehen soll.“ Passend dazu formulierte ausgerechnet der erste NATO-Generalsekretär Lord Ismay das Ziel der Allianz wie folgt: „Die Russen fernhalten, die Amerikaner im Spiel halten und die Deutschen kleinhalten“.

Vielleicht sollten wir uns vor diesem Hintergrund nicht wundern, dass die USA genau dieses Ziel erreicht haben, indem sie ganz Europa vermittels der NATO in einen Stellvertreterkrieg mit Russland in der Ukraine hineingezogen haben. Dadurch konnten die USA ihre schwindende Hegemonie über Europa wieder festigen, denn dieser Krieg treibt einen tiefen Keil zwischen Europa und Russland und verurteilt Deutschland zur Deindustrialisierung.

Dadurch konnten die USA ihre schwindende Hegemonie über Europa wieder festigen.

Dem ließe sich natürlich entgegenhalten, die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten sich dies alles weitgehend selbst eingebrockt. Auf der anderen Seite ist das die natürliche Konsequenz einer „Allianz“, in der die europäischen Nationen stets als Untergebene behandelt werden. Das Resultat ist, wie sich jetzt zeigt, eine infantilisierte politische Klasse, die Angst hat, der transatlantische Lehnsherr könnte ihr abhandenkommen. Und damit sind wir bei einer möglichen alternativen Sicht der Dinge: Dass nämlich ein Amerika unter Trumps Führung, das stärker auf Isolationismus setzt, für Europa eine Chance wäre, strategisch endlich auf eigene Beine zu kommen.

Unter normalen Rahmenbedingungen könnte diese alternative Sicht der Dinge zutreffen. Ich vertrete seit Langem den Standpunkt, dass Europa sich aus der geostrategischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten befreien muss. Dafür bräuchte Europa allerdings eine wirklich eigenständige Vision, wie es als Kontinent in einer multipolaren Welt seine Sicherheit und den eigenen Wohlstand sichern könnte – und es müsste sich von der „New Cold War“-Einstellung lossagen, mit der Amerika nicht-westlichen Mächten gegenübertritt sowie seine Beziehung zum Nachbarn Russland wieder normalisieren.

Leider sind alternative Sichtweisen wie diese selten zu hören. Mit wenigen Ausnahmen haben Europas politische Eliten Amerikas geopolitische Strategie dermaßen verinnerlicht, dass sie inzwischen noch russlandfeindlicher sind als ihre amerikanischen Partner – nicht nur in den osteuropäischen und baltischen Staaten, die aus naheliegenden historischen Gründen von Russland schon lange bedient sind, sondern auch in Westeuropa. Aus diesem Grund wäre eine „europäische NATO“ wohl noch mehr auf ein konfrontatives Verhältnis gegenüber Russland erpicht als das jetzige, von den USA angeführte, Bündnis.

Was als epochaler Konflikt zwischen der transatlantischen Nachkriegsordnung und Amerikas sich anbahnendem Isolationismus dargestellt wird, ist also in Wirklichkeit kaum mehr als eine kleine Meinungsverschiedenheit in der Frage, womit Europa bei der Vorbereitung auf einen beinahe für unausweichlich gehaltenen Krieg mit Russland besser fährt: Wenn es unter dem Schutzschirm der USA bleibt oder wenn es seine eigenen Wege geht. Biden und dem Establishment der Demokratischen Partei wäre Ersteres lieber; Trumps Präferenz wäre Letzteres. In beiden Szenarien hätte Europa sich aber dem zu fügen, was die USA zufällig als Interessen des „kollektiven Westens“ definieren – und es müsste sich einer Zukunft fügen, die im Zeichen eines neuen, dauerhaft militarisierten Eisernen Vorhangs und der permanenten Gefahr eines Atomkriegs stünde.

Trump wünscht sich ein militärisch, aber nicht geopolitisch eigenständiges Europa.

Trump wünscht sich ein militärisch, aber nicht geopolitisch eigenständiges Europa. Man denke nur daran, wie eifrig seine Administration bemüht war, den Bau der Nordstream-Pipeline zu stoppen. In diesem Zusammenhang ist die Empfehlung, die EU solle ihr eigenes Nukleararsenal aufbauen – und Deutschland dabei als Amerikas Statthalter in Europa fungieren –, alles andere als beruhigend.

Das heißt nicht, dass ganz Europa diese Realität bereitwillig akzeptiert. Insbesondere Ungarns Premierminister Viktor Orbán opponiert gegen die Haltung der EU im Russland-Ukraine-Konflikt, die auf einen militärischen Sieg um jeden Preis setzt. Stattdessen drängt er auf eine diplomatische Lösung und pflegt weiterhin freundschaftliche Beziehungen zum Kreml. In Deutschland hat Sahra Wagenknecht eine neue linke Partei gegründet, die sich eine radikal andere geostrategische Vision für Deutschland und ganz Europa auf die Fahnen schreibt. Sie fordert ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine und des Öl- und Gasembargos gegen Russland (das die Hauptursache für den Kollaps der deutschen Wirtschaft ist) sowie die Wiederaufnahme langfristig angelegter Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Wolfgang Streeck sieht darin einen möglichen Grundstein für eine neue eurasische Sicherheitsarchitektur, die vielleicht „eine Alternative zur Schaffung einer den Kontinent trennenden Feindeslinie an Russland Westgrenze“ bieten würde.

Abseits der Hysterie angesichts einer möglichen zweiten Präsidentschaft Donald Trumps ist das die Diskussion, die wir in Europa führen sollten. Wir sind bereits in zwei NATO-Kriege – in der Ukraine und im Nahen Osten – involviert und zahlen dafür wirtschaftlich und politisch schon jetzt einen hohen Preis. Parallel verstärkt die NATO ihre Präsenz im indopazifischen Raum mit Blick auf einen Konflikt mit China, von dem angenommen wird, er sei ebenso unausweichlich wie ein Krieg mit Russland. Das ist keine „Großmachtpolitik“, sondern Irrsinn. Und ob Europa diesem Irrsinn erliegt, hängt vor allem von den Entscheidungen unserer eigenen Führung ab und weniger davon, wer am Ende im Weißen Haus sitzt.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dieser Artikel erschien zuerst im Onlinemagazin Unherd.

Lesen Sie zu diesem Thema auch den IPG-Beitrag „Trumps NATO-Versprechen“ von Jacob Heilbrunn.