EU-Assoziierung der Ukraine - In normalen Zeiten macht Litauens Hauptstadt Vilnius selten Schlagzeilen. Dieser Herbst ist alles andere als normal. Um den von der litauischen EU-Ratspräsidentschaft ausgerichteten Gipfel der "Östlichen Partnerschaft" (ÖP) ist in den vergangenen Wochen ein wahrer Hype entstanden. In Erwartung einer historischen Zeitenwende begab man sich allerorten "on the road to Vilnius" und spekulierte über die wahlweise strahlende oder düstere Zukunft "nach Vilnius". Kernfrage aller Spekulationen: Unterschreiben die Ukraine und die Europäische Union das fünf Jahre lang verhandelte, seit 2012 unterschriftsreife Assoziierungs- und Freihandelsabkommen?
Bekanntlich taten sie es nicht. Es blieb der ukrainischen Regierung vorbehalten, den Spannungsbogen schon vor Erreichung des Klimax zu brechen. Am 21. November erschien eine kurze Notiz auf der Webseite des Ministerkabinetts: "Im Interesse der nationalen Sicherheit" werde der Assoziierungsprozess mit der EU gestoppt. Es gelte nun, Maßnahmen zu entwickeln, um den Verfall der Industrieproduktion aufzuhalten und die beschädigten Wirtschaftsbeziehungen zur Russischen Föderation zu reparieren. In den nächsten Tagen schoben Ministerpräsident und Präsident Erklärungen nach: Es handle sich um eine taktische Entscheidung, keine strategische, der Prozess der EU-Annäherung sei lediglich aufgeschoben, nicht aufgehoben.
Statt nun das "Scheitern von Vilnius" zu beklagen, sollten die Gründe für diese Entscheidung analysiert werden
Statt nun das "Scheitern von Vilnius" zu beklagen, sollten die Gründe für diese Entscheidung analysiert werden – auch um daraus Konsequenzen für die künftige EU-Politik gegenüber den östlichen Nachbarn zu ziehen. Eins vorweg: Die ukrainische Entscheidung gegen das Assoziierungsabkommen bedeutet nicht den Beitritt zu der von Russland angeführten Zollunion mit Kasachstan und Belarus. Verpasst wurde die Chance, die ukrainische Führung durch die Unterschrift unter das Abkommen auf einen langen, aber auch mühsamen Reformprozess zu verpflichten.
Die EU hat ihr Blatt überreizt, als sie die Unterschrift erst verschob und dann an zu viele Bedingungen knüpfte. Die Chancen, auf Entwicklungen in der Ukraine einen positiven Einfluss zu nehmen, wären nach der Unterzeichnung mit Sicherheit größer geworden, nicht kleiner. Dabei gilt aber auch: Eine Unterzeichnung hätte das Land an europäische Standards heranführen können - aber nicht zwingend müssen. Denn die Umsetzung des Vertragswerks wäre sicher kein Selbstläufer gewesen.
Es ging nicht um Tymoschenko
Hinzu kommt: Die enge Verknüpfung des Assoziierungsabkommens mit dem Fall der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko hat dem Ansehen der EU in der Region nicht nur gutgetan: In Frage steht, ob die Union noch glaubwürdig für universell geltende Prinzipien streiten kann, wenn sie sich als ein parteiischer Akteur in die manchmal sehr tiefen Niederungen der ukrainischen Innenpolitik begibt.
Die Politisierung auch der europäischen Handelspolitik in der "Causa Tymoschenko" war jedoch letztendlich nicht entscheidend für den ukrainischen Rückzieher. Entscheidender ist die sehr fragile Wirtschaftslage der Ukraine: Ökonomen gehen davon aus, dass aufgrund des hohen Leistungsbilanzdefizits der externe Finanzierungsbedarf 2014 zwischen zehn und 15 Milliarden US-Dollar betragen wird.
Die Politisierung auch der europäischen Handelspolitik in der "Causa Tymoschenko" war jedoch letztendlich nicht entscheidend für den ukrainischen Rückzieher.
Die Regierung wird versuchen, eine erneute Währungs- und Wirtschaftskrise mit aller Macht zu vermeiden, schließlich stehen im Frühjahr 2015 Präsidentschaftswahlen an. Die EU war offenkundig hier zur schnellen Hilfe nicht bereit. Wie sollte so kurz vor den Europawahlen auch den EU-Bürger_innen beigebracht werden, dass nach Griechen, Iren und den Banken nun auch noch die Ukrainer zu retten sind? Die EU hatte also ein langfristig nach allgemeiner Überzeugung attraktives Angebotaber keine Antwort auf die kurzfristigen Nöte der ukrainischen Führung. Russland hingegen scheint hilfsbereit. Moskau kann eben nicht nur mit der Peitsche von Handelsembargos drohen, sondern auch mit dem Zuckerbrot von verbilligten Gaslieferungen und günstigen Krediten winken.
Gefährlich: Geopolitische Konkurrenz mit Russland
Vor diesem Hintergrund sollte die EU sich nicht in eine scharfe geopolitische Konkurrenz mit Russland begeben, auch wenn derzeit von einigen versucht wird, diese herbeizuschreiben. Offensichtlich fehlt ihr das dazu nötige Kleingeld oder der Wille, es einzusetzen. Zudem führt die Kombination aus wertegebundener Nachbarschaftspolitik und dem Ringen um privilegierte Einflusszonen zu zahlreichen Widersprüchen: Soll man wirklich Konditionalitäten und eigene Prinzipien aufweichen, nur um den "Rückfall in den russischen Orbit" zu verhindern?
Und: Für die europäische Sicherheitsarchitektur ist das Verhältnis zu Russland zentral. Wer also der EU ernsthaft empfiehlt, einen Handelskrieg mit Russland um die Ukraine zu führen, spielt mit dem Feuer und demonstriert überdies mangelndes Geschichtsbewusstsein. Die Erfahrung der letzten 20 Jahre zeigt, dass sich die ungelösten Konflikte im Südkaukasus und in Transnistrien wenn überhaupt nicht gegen, sondern nur mit Russland werden lösen lassen. Nicht zuletzt: Konfrontation mit Russland ist sicherlich das ungeeignetste Mittel, um bei diesem strategischen Partner für das EU-Modell von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu werben.
Was folgt? Die EU muss in Zukunft drei Aspekte stärker berücksichtigen. Erstens braucht die Nachbarschaftspolitik einen Schuss mehr Realismus. Wer angesichts der Euro-Krise und der allgemeinen Erweiterungsfatigue außer Rhetorik derzeit wenig zu bieten hat, sollte seine Erwartungen nicht zu hoch hängen. Die politischen Eliten in der gesamten Region orientieren sich meist an eher kurzfristigen Machtkalkülen. Eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und ihrer Grenzen ist nötig. Auf dieser Basis muss überlegt werden, wie dem strategischen Interesse an einer stabilen Entwicklung der Nachbarschaft gedient werden kann.
Zweitens muss die EU nach Wegen aus der bereits bestehenden Integrationskonkurrenz mit Russland suchen. Es reicht nicht aus, lediglich zu deklarieren, dass die Assoziierungspolitik mit der östlichen Nachbarschaft nicht gegen russische Interessen gerichtet sei. De facto gibt es einen Interessengegensatz und eine Logik der Ausschließlichkeit, die sowohl Brüssel als auch Moskau in der Vergangenheit eher befördert als behindert haben.
Die muss EU nach Wegen aus der bereits bestehenden Integrationskonkurrenz mit Russland suchen. Es reicht nicht aus, lediglich zu deklarieren, dass die Assoziierungspolitik mit der östlichen Nachbarschaft nicht gegen russische Interessen gerichtet sei...
Der russisch-ukrainische Vorschlag, gemeinsam mit der EU in einen Trialog über Handelsfragen zu treten, könnte einen Weg aus dieser Sackgasse weisen. Statt ihn als "diabolisch" zu verteufeln, nur weil er auch von Russlands Präsident Wladimir Putin aufgegriffen wurde, sollte man sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Auch liegt mit der mittlerweile drei Jahre alten Idee Putins einer Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok ein Vorschlag auf dem Tisch, dessen Diskussion sowohl mit Russland als auch den ÖP-Ländern einen Weg aus der Sackgasse weisen könnte.
Drittens hilft es wenig, vor dem Faktum der russisch-kasachisch-belarussischen Zollunion die Augen zu schließen. In den kommenden Jahren wird die EU nicht umhin kommen, ihr Verhältnis zur Zollunion, die zu einer "Eurasische Union" entwickelt werden soll, zu definieren. Unabhängig davon, wie die Ukraine sich weiter verhält, sollte in der EU auch darüber nachgedacht werden, welche Angebote den heutigen Mitgliedern der Zollunion gemacht werden können. Der aktuelle Instrumentenmix aus Assoziierungs- und Freihandelsabkommen kommt für den unmittelbaren Nachbarn Belarus bereits jetzt nicht mehr in Frage.
Trotz allen Hypes um Vilnius ist bislang alles beim Alten geblieben: Die Ukraine wird aller Voraussicht nach versuchen, ihre seit 1992 praktizierte Schaukelpolitik zwischen Moskau und Brüssel fortzusetzen, zumindest bis zu den Wahlen 2015. Der Vilnius-Gipfel mag gescheitert sein - eine Verschlechterung des Status quo ante lässt sich dennoch nicht feststellen.
2 Leserbriefe
Nein, die EU scheint wenig sozialfortschrittlich in ihrer momentanen Aufstellung, und dies ist institutionell und personell tief verwurzelt. Daher wundert es, wenn jemand ihr noch Ratschläge geben möchte, wie sie ihr Elitenprojekt strategisch wohl am besten umsetzen könne.