Seit Ende September forderte die politische Führung der Ukraine wiederholt öffentlich, Israel solle Kiew – neben anderer militärischer Hilfe – Luftabwehrsysteme liefern. Israels Position ist jedoch seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, Kiew keine offensiven Waffensysteme zu liefern. Der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz machte am 19. Oktober deutlich, dass sich daran nichts ändern werde. Was also treibt die israelische Politik in dieser Frage an und warum ist das Land ein Sonderfall unter den US-Verbündeten?
Der russische Einmarsch in die Ukraine hat Israel vor ein schwerwiegendes Dilemma gestellt: Das Land muss einen Weg finden, seine komplizierten Beziehungen zu Moskau, sein strategisches Bündnis mit den Vereinigten Staaten, seine bedeutenden Partnerschaften mit westlichen Ländern und seine langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu Kiew in Einklang zu bringen. Israels Weigerung, der Ukraine Waffen zu verkaufen, enttäuschte die ukrainische Regierung. Auch einige westliche Verbündete Israels sind der Meinung, Jerusalem hätte mehr tun sollen, um Kiew zu helfen und seine Beziehungen zu Moskau in Frage zu stellen.
Kiew hatte sich in den ersten Monaten des Krieges kritisch über Israels Haltung geäußert, sich aber zwischenzeitlich scheinbar mit dem Gedanken abgefunden, dass Israel auf andere Weise hilfreich sein könnte. Doch die zunehmenden russischen Angriffe auf das ukrainische Hinterland mit Raketen und Drohnen aus iranischer Produktion setzten die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj unter Druck, Luftabwehrsysteme zu beschaffen. Selenskyj sagte am 23. September, dass nur eine Handvoll Staaten in der Lage seien, diese Luftabwehrsysteme herzustellen, unter ihnen Israel. Ukrainische Politikerinnen und Politiker betonten, dass die russisch-iranische Annäherung zeige, dass Moskau alles tun werde, um die iranischen Nuklearambitionen zu unterstützen. Aus diesem Grund würde ein Beitrag zur Niederlage Russlands in der Ukraine es Israel ermöglichen, den Iran zu schwächen.
Kiew hat offiziell um das Kurzstrecken-Raketenabwehrsystem Iron Dome gebeten. Die Israelis erwiderten jedoch, es seien keine Ersatzsysteme und Abfangraketen verfügbar. Sie bezweifelten zudem, dass der Iron Dome das richtige System für die Ukraine ist. Tatsächlich wird es in Israel gegen ungelenkte Raketen eingesetzt, während die Hauptbedrohung in der Ukraine aus Präzisionsraketen und Drohnen besteht. Es ist daher nicht garantiert, dass der Iron Dome in der Ukraine die gleiche Erfolgsquote hätte wie bei den Raketen aus Gaza.
Die israelischen „Iron Dome“-Batterien konzentrieren sich auf ein kleines Gebiet.
Die israelischen Iron Dome-Batterien konzentrieren sich auf ein kleines Gebiet. Um die riesige Fläche in der Ukraine abzudecken, wäre ein um ein Mehrfaches größeres Luftverteidigungssystem erforderlich als das israelische – zu groß für die israelischen Produktionskapazitäten. Die Systeme aus der israelischen Abwehrordnung zu nehmen, würde das Land angesichts der ständigen Gefahr einer Eskalation mit den Palästinensern oder der libanesischen Hisbollah verwundbar machen. Die USA hätten eine erhöhte Produktion finanzieren können, auch wenn dies einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Es besteht jedoch auch die Befürchtung, dass die Russen die sogenannte eiserne Kuppel genau unter die Lupe nehmen würden, um Schwachstellen zu finden. Im Anschluss könnten sie sich an Israel rächen, indem sie der Hamas und der Hisbollah helfen, das Land effektiver anzugreifen.
Die Ukraine würde allerdings schon von wenigen Iron Dome-Systemen (oder anderen israelischen Luftabwehrsystemen) profitieren, um kritische Objekte zu schützen. Der Hauptgrund für die israelische Weigerung ist daher weder praktischer noch finanzieller Natur, sondern politisch-strategisches Kalkül.
Viele vergleichen Israel mit den baltischen Staaten, die trotz ihrer direkten Grenze zu Russland viel militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine geleistet haben. Sie führen auch die jüdische Geschichte an und sagen, Israel hätte angesichts des Holocausts eine deutliche moralische Haltung gegenüber dem russischen Einmarsch in der Ukraine einnehmen müssen. Schließlich wird von Israel als engstem Verbündeten der USA im Nahen Osten und als Teil des westlichen Lagers erwartet, dass es die antirussische Koalition aktiv unterstützt.
Doch dieser Vergleich ist unfair. Für die baltischen Staaten, die befürchten, selbst Ziel einer künftigen russischen Invasion zu werden, war der Krieg in der Ukraine ein Weckruf. Er hat die unmittelbare und existenzielle militärische Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit noch verstärkt. Im Gegensatz zu den baltischen Staaten, die unter dem Schutz von Artikel 5 des NATO-Vertrags stehen, wird Israel jedoch nur von den Israelischen Verteidigungsstreitkräften verteidigt. Die Lieferung israelischer Waffen an die Ukraine könnte unmittelbare Vergeltungsmaßnahmen Russlands in Syrien nach sich ziehen oder die Einwanderung russischer Juden nach Israel behindern, die während des Krieges erheblich zugenommen hat.
Nur wenige in Israel unterstützen die Eröffnung einer neuen Konfliktlinie mit Moskau.
Seit seiner Intervention in Syrien im Jahr 2015 hat sich Russland bereit erklärt, bei israelischen Angriffen gegen den Iran ein Auge zuzudrücken, solange seine strategische Vorherrschaft im Land akzeptiert wird. Diese Haltung behält Russland auch während des russisch-ukrainischen Krieges bei, obwohl es sich dem Iran annähert. Moskau droht damit, dass die israelischen Waffenlieferungen an die Ukraine seine passive Haltung gegenüber den israelischen Angriffen ändern werden. Trotz der Schwäche des russischen Militärs in der Ukraine kann Russland es der israelischen Luftwaffe durchaus erschweren, in Syrien zu agieren, und kein israelischer Kommandeur oder Politiker ist bereit, israelische Soldaten zu opfern, um der Ukraine zu helfen.
Im vergangenen Sommer leitete Russland einen Verbotsprozess gegen die Ausreiseagentur Jewish Agency ein. In Israel wird das in erster Linie als ein Signal verstanden, dass der Kreml Druck auf Israel ausüben kann, indem er dessen Fähigkeit gefährdet, russischen Jüdinnen und Juden zu helfen, in Israel einen sicheren Hafen zu finden.
In der israelischen Öffentlichkeit gibt es eine intensive Debatte zwischen denjenigen, die das Land auffordern, „auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, und denjenigen, die fordern, seiner bereits überladenen Agenda keine weitere schwere strategische Last hinzuzufügen. Dabei haben die israelische Öffentlichkeit und die Regierung durchaus Sympathien für die Ukraine – und ein Interesse daran, dass Russland das westliche Lager nicht besiegt.
Doch die Sicherheit des Landes ist ständig von einer plötzlichen Eskalation bis hin zu einem Krieg mit der Hamas im Gazastreifen oder der libanesischen Hisbollah bedroht. Hinzu kommen die steigende Wahrscheinlichkeit eines nuklear bewaffneten Iran und die innenpolitische Instabilität. Den Vergleich mit dem Holocaust halten die meisten Israelis für völlig inakzeptabel. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Israelis gegen die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine ist. Nur wenige in Israel unterstützen die Eröffnung einer neuen Konfliktlinie mit Moskau, wenn dies nicht notwendig ist.
Russland ist nicht daran interessiert, Israel zu verärgern.
Das Thema wurde auch im Vorfeld der Wahlen zur Knesset am 1. November politisiert. Das rechte Lager warf der Regierung von Jair Lapid vor, beim Manövrieren zwischen Moskau und Washington nicht sensibel genug zu sein. Die israelische Rechte behauptete, der frühere – und wohl zukünftige – Premierminister Benjamin Netanjahu könne die Spannungen mit Moskau abbauen. So versuchte die Regierung eine neue Krise mit Russland zu vermeiden, die kurz vor der Wahl ihren politischen Gegnern in die Hände gespielt hätte.
Obwohl Washington und die meisten europäischen Regierungen offiziell durchaus Verständnis für die israelischen Bedenken haben, gibt es viele im Westen, die mit der israelischen Politik nicht zufrieden sind. Auch wenn sich Israel zu Beginn des Krieges unter Druck gesetzt gefühlt hat, seine Politik zu ändern, so scheint es sich nun in einem politischen Gleichgewicht zu befinden, was das Entgegenkommen gegenüber den westlichen Bedenken angeht. Auch die militärische Hilfe des Westens für die Ukraine, insbesondere der europäischen Länder, ist nicht unbegrenzt.
Russland ist nicht daran interessiert, Israel zu verärgern. Putin hat Verständnis dafür, dass Israel sich wegen des Krieges vom Kreml distanzieren muss. Dennoch versucht er, Jerusalem in für Israel wichtigen Fragen unter Druck zu setzen, damit das Land nicht zu weit wegdriftet.
Der Krieg hat Russland und den Iran in ihrer Opposition gegenüber dem Westen näher zusammengebracht. Es ist unklar, ob Israel der Ukraine mit nachrichtendienstlichen Informationen hilft, um gegen neu eingesetzte iranische Waffen vorzugehen. Einige Ukrainer behaupten, dass Israel ihnen hilft, während andere dies bestreiten. Israel hingegen glaubt nicht, dass es in Moskaus Interesse liegt, dem Iran zu einer nuklearen Bewaffnung zu verhelfen. Allerdings macht sich auch niemand in Jerusalem Hoffnungen, dass Russland aktiv handeln wird, um dieses Szenario zu verhindern.
Lesen Sie in dieser Debatte auch das Interview mit Gil Murciano.
Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer