Henry Kissinger galt als eine der prägendsten Figuren der internationalen Politik – bewundert für seine strategische Weitsicht, kritisiert für seine opportunistische Wendigkeit. Selbst seine zahlreichen Fehleinschätzungen vermochten seinen Nimbus als große alte Erklär-Eule der Weltpolitik nicht zu schmälern. Bei aller berechtigten Kritik zeigt sich heute, dass Kissinger ein tieferes historisches Verständnis besaß als diejenigen, die in den Folgejahren das Verhältnis mit Moskau maßgeblich bestimmen durften.

Der ehemalige US-Außenminister erkannte die enorme Widerstandskraft Russlands (im Neusprech „Resilienz“) – eine Fähigkeit zur Erholung und zum geopolitischen Comeback, die sich durch die Jahrhunderte zog. Niederlagen und Krisen bedeuteten für Moskau selten das Ende, sondern oft den Auftakt zur nächsten Phase strategischer Neuorientierung. Entsprechend plädierte Kissinger in seinen letzten Lebensjahrzehnten für einen integrativen Ansatz gegenüber Russland. Er warnte unermüdlich vor einer übermäßigen Ausdehnung des amerikanischen Einflusses in die unmittelbare russische Peripherie und vor den Risiken einer konfrontativen Politik.

Kissinger erkannte bereits 1990, dass die Schwächephase der russischen Großmacht – damals noch in das größere sowjetische Kostüm gehüllt – nur von begrenzter Dauer sein dürfte. Im Gegensatz zur Mehrheit der sogenannten Strategic Community in den USA sah er die langfristigen Gefahren, die mit der Versuchung einhergingen, Moskaus Schwäche auszunutzen. In dieser Haltung erinnerte er stark an den großen amerikanischen Strategen George Kennan, der – von der Nachwelt oft missverstanden – bereits im frühen Kalten Krieg nicht vor der Stärke, sondern vor der Schwäche und Furcht der Sowjetunion gewarnt hatte. Kennan wehrte sich vehement gegen die Militarisierung seiner Eindämmungskonzeption – sodass er bald ins politische Abseits gedrängt wurde. Kissinger hätte sich über diesen Vergleich mit Kennan übrigens kaum gefreut.

Spätestens mit der Invasion der Ukraine ist das Belächeln russischer Macht vorbei. Die anfängliche Zuversicht, die haushohe wirtschaftliche und militärische Überlegenheit des Westens werde das Scheitern des russischen Abenteuers quasi zwangsläufig herbeiführen, ist inzwischen einer regelrechten Panik gewichen.

Spätestens mit der Invasion der Ukraine ist das Belächeln russischer Macht vorbei.

Nun lohnt es sich, genau hinzuschauen, welche Stimmen aus dem Kommentariat und der deutschen Strategic Community derzeit vor überlegenen russischen Streitkräften und einer angeblich bevorstehenden Absicht Moskaus, zeitnah NATO-Länder anzugreifen, warnen. Tatsächlich sind es fast genau jene Akteure, die sich zuvor für eine konfrontative Ukraine-Politik und ein NATO-Beitrittsversprechen für Kiew starkmachten – und dabei jede Eskalationsgefahr in Kauf nahmen. Dieselben Stimmen argumentierten nach Kriegsausbruch vehement für westliche Intervention und Waffenlieferungen, während sie gleichzeitig einen baldigen militärischen Zusammenbruch der – damals noch als weit unterlegen dargestellten – russischen Streitkräfte herbeifantasierten.

Dass sich das gleichzeitige Beschwören eines militärischen Sieges in der Ukraine – aufgrund russischer Schwächen – und die Warnung vor einer direkten Bedrohung des NATO-Bündnisses durch ein angeblich übermächtiges Russland in einem Maße widersprechen, das selbst unvoreingenommene Beobachter an der tatsächlichen Expertise dieser Experten zweifeln lässt, scheint die deutschen Medien wenig zu stören. Keine Talkshow im Fernsehen kommt ohne die Mitglieder dieser Gruppe aus – bisweilen sind sie dort sogar ganz unter sich.

Auch ein Blick über den großen Teich liefert wenig Klarheit – dort von Chaos zu sprechen, ist fast eine Untertreibung. Die in Deutschland womöglich erhoffte 360-Grad-Wende hat Trump exakt in der Mitte abgebrochen, und die neue Administration in Washington scheint sich auf eine Politik zu konzentrieren, die einen Deal mit Moskau zur Beendigung des Krieges anstrebt – egal zu welchem Preis.

Aus europäischer Sicht könnte man zumindest hoffen, dass dieser unfreiwillige und erzwungene Frieden zu einer allgemeinen Stabilisierung des Kontinents führt. Doch gleichzeitig stellt Trump die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa offen infrage – oder hat sie mit seinen Äußerungen bereits spürbar entwertet. Ein Europa, das über Jahrzehnte darauf sozialisiert wurde, im Lippenlesen amerikanischer Politiker stets eine Bestätigung zu suchen, um bloß keine eigenständigen Entscheidungen über die eigene Verteidigung treffen zu müssen, fühlt sich nun im Stich gelassen. Beraten von einer durch und durch transatlantisch geprägten Strategic Community wirken die sicherheitspolitischen Technokraten in Brüssel nun wie „Servants without Masters“ – wie es der britische Journalist Aris Roussinos angemessen bösartig auf den Punkt brachte.

Vielleicht ist der wichtigste Schritt zur Wiederherstellung europäischer militärischer Glaubwürdigkeit zunächst, sich von diesen Stimmen zu emanzipieren. Und sich auf das zu besinnen, was in der Tradition des Kontinents einst als Staatskunst bezeichnet wurde. Ein genauerer Blick auf die Working Papers, Berichte und Analysen anglo-amerikanischer sicherheitspolitischer Denkfabriken zeigt schnell, dass viele alarmistische Prognosen auf denselben Quellen basieren – jenen, die bereits im Ukraine-Krieg maßgeblich die westliche Berichterstattung beeinflussten. Angesichts der enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stakes, die ein groß angelegtes europäisches Aufrüstungsprogramm mit sich bringen würde, sollte man sich auf fundiertere Analysen stützen – und nicht auf die oft frei erfundenen Mondzahlen panzerzählender „Experten“ der sogenannten Open-Source-Community.

Die hohen Materialverluste in der Ukraine dürften in absehbarer Zeit kompensiert sein.

Unbestreitbar ist, dass Russland weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellt hat und das Ausmaß der Anstrengungen über die aktuellen Operationen in der Ukraine hinausweist. Im Grunde wäre von einer rationalen Streitkräfteplanung auch nichts anderes zu erwarten. Die hohen Materialverluste in der Ukraine dürften in absehbarer Zeit kompensiert sein – was langfristig zu einer technologisch moderneren Streitmacht führen könnte als jener, die vor dem Krieg existierte.

Die geplante Aufstockung der Sollstärke auf bis zu 1,5 Millionen Soldaten wird zwar viel Zeit in Anspruch nehmen, doch selbst wenn dieses Ziel nicht vollständig erreicht würde, blieben die russischen Streitkräfte mit Abstand die größten und schlagkräftigsten des Kontinents. Anders als die Armeen der europäischen NATO-Mitglieder sind sie zudem kampferprobt in hochintensiven Gefechten – und möglicherweise selbstbewusster denn je, sollte der Krieg in der Ukraine mit einem russischen Sieg enden. Ein solcher Erfolg würde bedeuten, dass Russland die zahlenmäßig zweitstärksten Streitkräfte Europas besiegt hätte, obwohl diese massiv von der „mächtigsten und erfolgreichsten Militärallianz der Geschichte“ unterstützt wurden – wie es US-VerteidigungsministerLloyd Austin großspurig formulierte. Letzterer war allerdings selbst kaum einer der erfolgreichsten Verteidigungsminister der amerikanischen Geschichte.

Dass die Verteidigungsbudgets der europäischen NATO-Staaten zusammengenommen ein Vielfaches des russischen betragen, mag zutreffen – ist aber letztlich irrelevant. Spätestens die gescheiterte westliche Militärstrategie in der Ukraine sollte uns gelehrt haben, wie wenig solche Zahlen über die tatsächlichen Machtverhältnisse in einem Krieg aussagen.

Dasselbe gilt für diverse Quervergleiche zwischen Waffensystemen, mit denen die Medien gerne ihre Analysen schmücken. All das wäre relevant – gäbe es keine Geografie. Doch aus geografischer Perspektive wäre eine militärische Konfrontation im Baltikum, an der polnischen Ostgrenze oder entlang der nun durch Finnlands Beitritt stark verlängerten NATO-Grenze im Norden am wahrscheinlichsten. Wie schwierig es wäre, in einem Ernstfall dorthin effektiv militärische Macht zu projizieren, war allerdings schon vor Putins Ukraine-Abenteuer bekannt.

Die Wahrscheinlichkeit eines neuen Nordischen Krieges ist durch den Ukraine-Konflikt, die NATO-Norderweiterung und die De-facto-Aufkündigung der amerikanischen Sicherheitsgarantie zweifellos gestiegen. Und selbst eine sofortige Verdopplung der Verteidigungshaushalte Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens würde aus militärischer Sicht keine glaubwürdige Verteidigung dieser Peripherie ermöglichen.

Niemand kann seriös die russischen Intentionen vorhersagen.

Wenig überraschend setzen die NATO-Planer daher auf eine Neuauflage der Vorwärtsverteidigung des Kalten Krieges – nur dieses Mal an der neuen Ostgrenze der Allianz. Militärisch mag dies logisch erscheinen, doch angesichts der enormen Entfernungen und der technologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist es kaum umsetzbar – und darüber hinaus politisch wenig durchdacht.

Die „Staatskünstler“ des 19. Jahrhunderts, die in der heutigen scheinmoralisierenden Zeit so gerne verachtet werden, hätten auf eine solche Lagebeurteilung vermutlich völlig anders reagiert. Niemand kann seriös die russischen Intentionen vorhersagen. Doch außer Frage steht, dass die europäische Haltung diese maßgeblich beeinflussen kann. Der gegenwärtige europäische Kurs – die Fortsetzung und Vertiefung der Konfrontation mit Russland, selbst über ein mögliches Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine hinaus – könnte tatsächlich in eine künftige militärische Auseinandersetzung münden, sei es auch nur aus Mangel an Alternativen.

Die in Brüssel agierende sicherheitspolitische Elite – längst entkoppelt von den öffentlichen Meinungen der europäischen Bevölkerungen – mag den Aufbau eines rein europäischen militärischen Abschreckungssystems für machbar und finanzierbar halten. Doch sie überschätzt dabei die Bereitschaft der Zentral- und Westeuropäer, nach der Ukraine ein weiteres Mal osteuropäische Wunschvorstellungen bedingungslos zu unterstützen.

Der Blowback des Ukraine-Krieges wird die zahlreichen Konflikte und Bruchlinien offenlegen, die hinter dem Trugbild europäischer Einigkeit während des Krieges verborgen blieben. Staatskunst muss in diesem Fall mehr sein als bloße Aufrüstung. Letztere wird angesichts des maroden Zustands der kaputt gesparten europäischen Armeen zwar unvermeidlich sein. Doch sie sollte nicht vorrangig auf Extremszenarien einer Vorwärtsverteidigung in einem zeitlich begrenzten Bewegungskrieg an der Suwalki-Lücke – der einzigen Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und dem restlichen NATO-Territorium – ausgerichtet werden. Denn je glaubwürdiger eine solche europäische Kapazität erscheint, desto wahrscheinlicher wird letztlich das Eintreffen genau jenes Szenarios.

Selbst für ein militärisch wiedererstarktes Russland wären die polnischen und finnischen Streitkräfte eine ebenso große Herausforderung wie die ukrainischen – zumal sie in einem solchen Fall massiv von einem inzwischen auf einen Abnutzungskrieg vorbereiteten Europa unterstützt würden. Zudem wären die urbanen Zentren im Baltikum als Operationsraum weit weniger attraktiv. Gleichzeitig könnte eine Begrenzung – oder besser noch die Nichtpräsenz – anderer Streitkräfte im Nordosten dazu beitragen, den Einkreisungstheoretikern im Kreml den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch all das, so lehrt es die alte Staatskunst, könnte nur dann erfolgversprechend sein, wenn es von dem begleitet würde, was einst eine europäische Spezialität war: Diplomatie.