Am 17. März hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) endlich den Versuch unternommen, Wladimir Putin für die schweren Menschenrechtsverletzungen, die im Krieg gegen die Ukraine begangen wurden, zur Rechenschaft zu ziehen. Derzeit beschränken sich die Beschuldigungen auf die Verschleppung ukrainischer Kinder innerhalb des ukrainischen Staatsgebiets und über die Grenze nach Russland als Kriegsverbrechen im Völkerrecht – bei den vielen verübten Verbrechen in der Ukraine stellt dies nur die Spitze des Eisbergs dar. Für viele, selbst für die Befürworterinnen und Befürworter des Gerichtshofs, kam dieser Schritt des IStGH überraschend. Auch wenn die Entscheidung – außer im Kreml und bei seiner Anhängerschaft – auf breite Zustimmung stößt, hat sie doch eine Debatte ausgelöst: Ob und wie kann diesem Haftbefehl tatsächlich eine Verhaftung Putins folgen und der Präsident einer der mächtigsten Staaten der Welt in Den Haag auf der Anklagebank sitzen?
Der Haftbefehl und der von ihm ausgelöste Diskurs scheinen den Staub von der seit langem kritisierten internationalen Strafgerichtsbarkeit abgeschüttelt zu haben. Seit seiner Einrichtung im Jahr 2002 hatte der IStGH in vielen Situationen, in den Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, große Mühe, aktiv zu werden. Einerseits ist diese Tatenlosigkeit weitgehend auf die eingeschränkte Zuständigkeit des Gerichtshofs zurückzuführen: Nur Staaten, die Mitglied des IStGH sind, fallen in seinen Zuständigkeitsbereich – und es überrascht nicht, dass mächtige Staaten wie die USA, Russland oder China nicht zu den Mitgliedstaaten gehören. Andererseits könnte zwar der UN-Sicherheitsrat den Gerichtshof einschalten und Situationen an ihn verweisen, doch das mächtige Veto seiner ständigen Mitglieder wird und wurde in der Vergangenheit allzu oft genutzt, um entweder sich selbst oder Verbündete zu schützen und die internationale Rechtsprechung zu blockieren. Das hat zur Folge, dass Massenverbrechen in vielen Konflikten rund um die Welt nach wie vor ungeahndet und die Straftäter in Machtpositionen bleiben, während die internationale Gemeinschaft aufgrund politischer Differenzen oder juristischer Grenzen handlungsunfähig bleibt.
Viele afrikanische Staaten beschuldigten den IStGH, voreingenommen gegenüber Afrika zu sein.
Der Gerichtshof kämpft außerdem schon lange mit seinem bekannten – und vielleicht auch verdienten – Ruf, sich willkürlich auf Straftäter aus dem Globalen Süden zu fokussieren, insbesondere auf Personen aus Afrika und auf ehemalige Kolonialstaaten. Viele afrikanische Staaten haben den IStGH beschuldigt, voreingenommen gegenüber Afrika zu sein, und brachten ihre Sorge zum Ausdruck, dass die bisherige Bilanz des Gerichtshofs tiefere systemische Probleme innerhalb der Gerichtsstruktur widerspiegele. Die Debatte gipfelte 2017 in einer Resolution der Afrikanischen Union, in der sie ihre Mitgliedstaaten aufforderte, aus dem IStGH auszutreten. Das jetzige Vorgehen gegen Putin könnte als Bemühen gesehen werden, diesem Ruf entgegenzuwirken.
So sehr der vom IStGH erlassene Haftbefehl auch als ein Schritt zu Gerechtigkeit und als Zeichen für die Stärke des Gesetzes bejubelt wurde, so ist er doch nur eine aufsehenerregende Maßnahme inmitten der vielen kleineren Bemühungen auf der Welt, Menschen für ihre Verbrechen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Eine dieser Bemühungen ist ein anderer juristischer Weg, der schon seit langem neben dem IStGH besteht und der von den Staaten zunehmend sowohl institutionell als auch praktisch genutzt wird: das Weltrechtsprinzip. Dieses Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit ermöglicht es Staaten, eigenständig internationale Straftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Folter strafrechtlich zu verfolgen – unabhängig davon, wo oder von wem diese Verbrechen verübt wurden.
In den letzten Jahren gab es unglaublich erfolgreiche Fälle, in denen Staaten das Weltrechtsprinzip zur Anwendung brachten: Im Januar 2022 verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz Anwar R. – einen syrischen Staatsbürger, der in Damaskus als höherrangiger Funktionär für die tausendfache Folter im berüchtigten „Branch 251“ des militärischen Geheimdienstes verantwortlich war – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft. Dieses Urteil ist die erste rechtliche Ahndung von Verbrechen im Syrienkrieg – ein wichtiger und dringend notwendiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit für Tausende von Opfern, die vor Assads Herrschaft geflohen sind oder die sie weiterhin erdulden müssen. Ähnliche Gerichtsverfahren fanden bereits in Frankfurt, München und Stuttgart statt. In Schweden, den Niederlanden, Spanien, der Schweiz, Frankreich, Argentinien und anderen Ländern helfen Spezialermittlungseinheiten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei der Vorbereitung möglicher Strafverfahren gegen Einzeltäterinnen und -täter oder bei strukturelle Ermittlungen.
Das Potenzial des Weltrechtsprinzips sollte anerkannt und genutzt werden.
Trotz der relativ geringen Aufmerksamkeit, die solchen Bemühungen im öffentlichen Diskurs zuteilwird, sollte das Potenzial des Weltrechtsprinzips anerkannt und genutzt werden. Zum einen untergraben die Bemühungen einzelner Staaten – trotz allgemeiner Bedenken – keineswegs die Arbeit des IStGH. Tatsächlich ist im IStGH-Statut die komplementäre Rolle des Gerichtshofs vorgesehen, wobei die Vorrangstellung der nationalen Gerichte zur Wahrung der internationale Gerechtigkeit hervorgehoben wird. Der Haftbefehl gegen Putin als Staatsoberhaupt hindert Staaten nicht daran, eigene strukturelle oder gezielte Ermittlungen durchzuführen und Beweise zu sammeln, die dann auch in künftige Verfahren vor dem IStGH einfließen können. Unter bestimmten Umständen ist das für einzelne Staaten viel leichter, weil sie aufgrund von Fluchtbewegungen direkten Zugang zu Tätern, Zeugen oder Beweisen haben, wie der Fall Anwar R. verdeutlicht: Der Prozess war nur durch die Anwesenheit des Beschuldigten auf deutschem Boden möglich, der als Geflüchteter nach Deutschland gekommen war, aber auch aufgrund von Zeugenaussagen anderer Geflüchteter, die Anwar R. wiedererkannten, sowie aufgrund von Dokumenten, die aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren und im Gerichtsverfahren als Beweismittel dienten.
Im Kontext des Krieges gegen die Ukraine steht der Erfüllung dieser rechtlichen Anforderungen nichts im Wege. Ein Schritt in diese Richtung ist das Sammeln von Zeugenaussagen von Menschen, die aus der Ukraine in andere europäische Länder geflohen sind. Auch wenn Putin selbst künftige Auslandsreisen aus Angst vor einer drohenden Verhaftung einschränken wird, so werden doch viele der russischen Staatsbediensteten mittleren und niedrigen Ranges, die in der Ukraine Verbrechen begangen haben, irgendwann ins Ausland reisen. Dank der gegenwärtig durchgeführten gründlichen Ermittlungen wird ihre Identifizierung sowie die Beweislast gegen sie unwiderlegbar und für zukünftige Verfahren zugänglich sein.
Zum anderen unterliegt die universelle Gerichtsbarkeit nicht denselben Bedingungen wie der IStGH: Wo Letzterer aufgrund von eingeschränkter Zuständigkeit oder politischer Ohnmacht handlungsunfähig bleibt, können Staaten diesen alternativen Rechtsweg eigenständig einschlagen, um Völkerrechtsverbrechen zu ahnden. Zweifelsohne kommen auch in der Praxis universeller Gerichtsbarkeit politische Interessen zum Tragen – vor allem in öffentlichkeitswirksamen Fällen, oder wo diplomatische Beziehungen eine Rolle bei der Frage spielen, ob Staatsangehörige aus bestimmten Staaten strafrechtlich verfolgt werden sollen. Die Einschränkungen in der belgischen und spanischen Rechtsprechung, die vorgenommen wurden, nachdem NGOs mehrfach versucht hatten, Klagen gegen hohe US-amerikanische beziehungsweise israelische Amtsträger zu erwirken, machen deutlich, dass auch das Weltrechtsprinzip nicht ganz frei von politischen Einflüssen ist.
Eine Studie zu allen seit den 1960er Jahren abgeschlossenen Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip ergab, dass sich die große Mehrheit dieser Verfahren gegen nichtafrikanische Personen richtete.
Wie auch im Fall des IStGH wurde dem Weltrechtsprinzip des Öfteren unterstellt, im Wesentlichen ein westliches Konzept mit Voreingenommenheit gegenüber dem Globalen Süden zu sein. Doch diese Vorwürfe kommen hier nicht zum Tragen: Der historische Präzedenzfall einer Verurteilung eines früheren Staatsoberhaupts unter dem Weltrechtsprinzip erfolgte im Senegal; Argentinien spielt seit langem nicht nur eine maßgebliche Rolle bei Ermittlungen gegen Regierungsbeamte aus Myanmar, sondern auch bei der Untersuchung von Verbrechen, die während des Franco-Regimes in Spanien begangen wurden und dort aufgrund der Amnestiegesetze ungestraft bleiben. Die von der Russischen Föderation und vom russischen Militär in der Ukraine verübten Verbrechen haben nicht nur zum Haftbefehl gegen Putin durch den IStGH geführt, sondern auch zu Bestrebungen in vielen Einzelstaaten, Beweise zu sammeln und künftige Gerichtsverfahren vorzubereiten, unter anderem in Deutschland, Frankreich, Schweden, Polen, den baltischen Staaten, den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. In der Tat ergab eine Studie von Maximo Langer zu allen seit den 1960er Jahren abgeschlossenen Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip, dass sich die große Mehrheit dieser Verfahren gegen nichtafrikanische Personen richtete.
Das Weltrechtsprinzip ist kein Allheilmittel, um die Unzulänglichkeiten der bestehenden internationalen Strafgerichtsbarkeit auszugleichen. Es wird nach wie vor selektiv genutzt und viele Bestrebungen seiner Anwendung führen nicht zu einem fairen Prozess, sondern zu rigoroser Zurückweisung von Haftbefehlen und Auslieferungsersuchen sowie zu diplomatischen Spannungen. Doch es wird auch deutlich, dass die universelle Gerichtsbarkeit einen Weg zu einer etwas gerechteren Rechtsprechung unabhängig von Geografie, politischer Macht und Mitgliedschaft darstellen kann. Das Potenzial, dass Einzelstaaten ihre eigenen Gerichte und Kapazitäten nutzen können, um völkerrechtliche Verbrechen zu ahnden, sollte als Chance gesehen werden, die Arbeit des IStGH zu ergänzen und dort Lücken in der Rechenschaftspflicht zu schließen, wo sie sich öffnen. Die weit verbreitete Ansicht, dass der IStGH die einzige Institution sei, die abscheuliche völkerrechtliche Verbrechen bestrafen könne, ist irreführend. Zwar sollten sein Mandat und seine derzeitigen Bemühungen unterstützt werden, aber es ist ebenso entscheidend, andere Wege wahrzunehmen, die zur Durchsetzung einer wahrhaft globalen Gerechtigkeitsagenda in der Strafbarkeit beitragen können.
Aus dem Englischen von Ina Goertz