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Es stimmt, die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Syrien sind noch nicht beendet. Und noch immer sind fünf Groß- und Regionalmächte (Iran, Israel, Russland, die Türkei und die USA) im Land militärisch präsent. Und doch: Der Bürgerkrieg ist längst zugunsten des Regimes entschieden und der Wiederaufbau hat bereits begonnen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein landesweites, zentral geplantes und gesteuertes sowie international finanziertes Programm, wie es der Standardansatz der Internationalen Finanzinstitutionen vorsieht. Vielmehr setzen Akteure mit unterschiedlichen und teils konträren Interessen – vor allem die syrische Führung, Russland, die Türkei und der Iran – überwiegend auf lokaler Ebene begrenzte Vorhaben um. Gemeinsam ist diesen, dass sie sich kaum am Bedarf der Bevölkerung orientieren.

Für die Führung in Damaskus hat dabei die Festigung ihrer Herrschaft oberste Priorität. Mit dem Wiederaufbau sollen der im Zuge von Kampfhandlungen, Vertreibungen und sogenannten Versöhnungsabkommen durchgeführte Bevölkerungsaustausch zementiert, die Loyalität alter und neuer Eliten durch lukrative Investitionsmöglichkeiten belohnt und die internationalen Unterstützer des Regimes – allen voran Russland und Iran – über den Zugriff auf Syriens Ressourcen kompensiert werden. Strukturreformen stehen ebensowenig auf der Agenda wie eine Aufarbeitung von im Konflikt begangenen Verbrechen oder eine Aussöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen. Schwere Menschenrechtsverletzungen dauern vielmehr an.

Damaskus hat zum einen die rechtliche Grundlage für den Wiederaufbau geschaffen und in großem Stil Land und Immobilien ohne angemessene Transparenz und Entschädigung enteignet, eine Rückkehr von Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen in strategische Gebiete verhindert und ganze Viertel abgerissen, um Platz für lukrative Investitionsprojekte zu schaffen.

Es hat zum anderen einen Rahmen für humanitäre Hilfe gesetzt, der dem Regime das Entscheidungsmonopol darüber sichert, wo internationale Hilfe durch wen geleistet werden darf und wer davon profitiert – zumindest in den von ihm kontrollierten Gebieten. Damit hat es dafür gesorgt, dass auch Nothilfe nicht nach humanitären Prinzipien, sondern gemäß seinem Herrschaftsinteresse zugeteilt wird. Dadurch wird insbesondere die Bevölkerung in ehemals von Rebellen gehaltenen Gebieten benachteiligt, die unter den größten Kriegsschäden leidet.

Damaskus’ Freunde Russland und Iran sind weder in der Lage noch willens, Gelder für einen umfassenden, landesweiten Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen.

Die syrische Führung hat deutlich gemacht, sie werde ein ausländisches Engagement beim Wiederaufbau nur aus jenen Ländern akzeptieren, die ihr freundlich gesinnt sind und Unterstützung ohne Konditionierung gewähren. Allerdings sind Damaskus’ Freunde Russland und Iran weder in der Lage noch willens, Gelder für einen umfassenden, landesweiten Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Andere potentielle Unterstützer lehnen ein Engagement bislang kategorisch ab (so die USA), zeigen sich zögerlich (die arabischen Golfstaaten), positionieren sich lediglich für ein späteres Engagement (China) oder konzentrieren sich nur auf die von ihnen besetzten Gebiete (die Türkei). Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, insbesondere der Einbruch des Ölpreises, dürften die verfügbaren Mittel insbesondere der Golfstaaten weiter einschränken.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben ihrerseits ein Engagement beim Wiederaufbau davon abhängig gemacht, dass es Fortschritte auf dem Weg zu einer verhandelten Konfliktregelung und einer politischen Öffnung Syriens gibt. Da es bislang keine entsprechende Bewegung gegeben hat, ist das europäische Engagement im Wesentlichen auf humanitäre Hilfe beschränkt geblieben. In diesem Bereich sind die EU und ihre Mitgliedstaaten bei weitem der größte Geber: Von 2011 bis zum Spätherbst 2019 stellten sie insgesamt über 17 Milliarden Euro an humanitärer Hilfe für Syrerinnen und Syrer im Land selbst und in den Nachbarstaaten zur Verfügung. Diese Hilfe wird vor Ort überwiegend durch VN-Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisationen umgesetzt. Sie beschränkt sich grundsätzlich auf die Notversorgung von Bevölkerung, Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen.

Gleichzeitig hat die EU umfassende Sanktionen verhängt. Diese zielen zum einen auf Personen ab, die für die gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung und den Einsatz international geächteter Waffen verantwortlich sind, deren Aktivitäten direkt dem Assad-Regime zugutekommen oder die von Geschäften profitieren, durch welche Wohnungs-, Land- und Eigentumsrechte verletzt werden. Zum anderen bezwecken die Sanktionen, die Finanzierungsmöglichkeiten des Regimes sowie seine Repressionskapazitäten zu beschränken und es international zu isolieren. In diesem Sinne haben die Europäer ein Waffenembargo gegen Damaskus sowie Exportbeschränkungen für Waren verhängt, die zur internen Repression genutzt werden können. Sie haben ein Ölembargo erlassen, die Vermögenswerte der syrischen Zentralbank in der EU eingefroren sowie Exporte von „dual use“-Gütern nach Syrien verboten.

Der Fokus auf humanitäre Hilfe und die umfassenden Sanktionen lassen eine effektive Unterstützung der Bevölkerung nicht zu. Angesichts der sich zuspitzenden Wirtschafts- und Versorgungskrise wäre dies dringend angezeigt.

Zum Sanktionspaket gehören auch weitreichende sektorbezogene Maßnahmen, die einem Wiederaufbau im Wege stehen. Dies betrifft insbesondere Einschränkungen für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten im Bereich von Öl und Elektrizität, das Verbot für die Europäische Investitionsbank (EIB), Projekte in Syrien zu finanzieren, die dem Staat zugutekommen würden sowie Sanktionen gegen den syrischen Finanz- und Bankensektor und die Finanzierung des Handels mit dem Land.

Der europäische Ansatz hat sich als nicht zielführend erwiesen. So hat sich erstens gezeigt, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten bislang wenig Einfluss auf die Konfliktdynamiken vor Ort und das Verhalten der syrischen Führung entfalten konnten. Das liegt daran, dass sie militärisch nicht in relevantem Ausmaß präsent sind und ihr politisches Gewicht international kaum in die Waagschale geworfen haben. Es liegt aber auch daran, dass sie an einer nicht mehr realistischen Zielsetzung festhalten. Zwar hat die EU ihre Rhetorik aufgeweicht; sie spricht nicht mehr explizit von Regimewechsel oder Machtteilung; sowohl das Sanktionsregime als auch die Konditionierung von Wiederaufbauhilfe zielen aber nach wie vor auf Regimewechsel ab. Welche Art von Verhaltensänderung in Damaskus unterhalb der Schwelle eines politischen Übergangs zu welchem europäischen Entgegenkommen führen würde, hat Brüssel hingegen bislang nicht ausformuliert.

Zweitens ist der europäische Ansatz insofern problematisch, als sowohl der Fokus auf humanitäre Hilfe als auch die umfassenden Sanktionen eine effektive und nachhaltige Unterstützung der Bevölkerung nicht zulassen. Diese wäre vor allem angesichts der sich zuspitzenden Wirtschafts- und Versorgungskrise in Syrien dringend angezeigt. Im Frühjahr 2020 waren bereits rund 11 von 18 Millionen im Land verbliebenen Syrerinnen und Syrern auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Die EU läuft so Gefahr, zur Verfestigung einer Situation beizutragen, in der die syrische Bevölkerung auf Dauer von internationalen Hilfslieferungen abhängig bleibt.

Drittens zeichnen sich Brüche in der gemeinsamen europäischen Haltung ab. Es sind vor allem Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die an der bisherigen Position festhalten. Andere EU-Mitgliedstaaten haben in den letzten Jahren wieder Beziehungen zu relevanten Personen aus dem Führungskreis des Regimes aufgenommen (Italien, Polen) oder lautstark über die Wiedereröffnung ihrer Botschaften und ein stärkeres wirtschaftliches Engagement in Syrien diskutiert (Italien, Österreich, Ungarn, Polen). Dabei liegt eines klar auf der Hand: Fallen die EU-Mitgliedstaaten im Umgang mit Damaskus auseinander, so riskieren sie, auch noch den geringen Einfluss zu verspielen, den sie potentiell haben. Denn nur wenn Wiederaufbaugelder, die Rückkehr zu diplomatischen Beziehungen und der Abbau von personenbezogenen Sanktionen gezielt und gemeinsam eingesetzt werden, können solche Maßnahmen überhaupt politisches Gewicht entfalten.

Die Wirtschafts- und Währungskrise sowie die Erosion staatlicher Kapazitäten in Syrien sollte nicht mit einem bevorstehenden Zusammenbruch des Regimes verwechselt werden.

Deshalb sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten den Umgang mit Syrien so anpassen, dass er besser auf die Herausforderungen vor Ort und die aktuellen Umstände abgestimmt ist, europäische Interessen und Instrumente in Einklang bringt und den geringen Spielraum, den sie haben, möglichst effektiv nutzt.

Das würde zunächst voraussetzen, sich einzugestehen, dass die Europäer durch Anreize und Sanktionen nicht herbeiführen können, was das Assad-Regime und seine Verbündeten militärisch abgeschmettert haben: eine verhandelte Konfliktregelung und eine politische Öffnung. Es bedeutet zudem, sich nicht der Illusion hinzugeben, dass Damaskus ein zuverlässiger Partner bei der wirtschaftlichen Erholung und dem Wiederaufbau des Landes, bei Terrorismusbekämpfung und der Rückführung von Flüchtlingen sein könnte. Und dazu gehört auch, die Wirtschafts- und Währungskrise sowie die Erosion staatlicher Kapazitäten in Syrien nicht mit einem bevorstehenden Zusammenbruch des Regimes zu verwechseln, schon gar nicht zugunsten einer alternativen Kraft, die das Land einen und stabilisieren würde.

Konkret sollten die Europäer nachhaltiger als bislang zur Linderung der Not und zu einer wirtschaftlichen Erholung in Syrien beitragen. Dazu müssten sie vor allem entwicklungshemmende sektorale Sanktionen abbauen. Unter bestimmten Bedingungen müsste auch in Gebieten, die vom Regime kontrolliert werden, die Rehabilitierung von Basisinfrastruktur unterstützt und die Lebensbedingungen durch Arbeitsprogramme und örtliche Beschaffung verbessert werden.

Eine nachhaltige Stabilisierung wird sich allerdings nur dann erreichen lassen, wenn tiefgreifende Reformen im Land erfolgen. In diesem Sinne sollten die Europäer ihren „More for More“-Ansatz ausbuchstabieren und damit einen konkreten Pfad aufzeigen, wie sich die Beziehungen zu Damaskus im Gegenzug zu politischer Öffnung und strukturellen Reformen weitgehend normalisieren ließen.

Von einer vollständigen Normalisierung im Umgang mit der Spitze des Assad-Regimes sollten sie allerdings absehen. Vielmehr gilt es, eine strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, schweren Menschenrechtsverletzungen und dem Einsatz international geächteter Waffen voranzutreiben.