In den internationalen Beziehungen existiert ein empirisch gut zu beobachtendes Rätsel: In asymmetrischen Kriegen verlieren militärisch hochgerüstete, mächtige Staaten sehr häufig gegen militärisch schwache Gegner. Eklatante Beispiele sind der Algerienkrieg (1954–1962), der Vietnamkrieg (1965–1975), der Krieg der Sowjetunion in Afghanistan (1979–1989) sowie der Krieg des Westens in Afghanistan (2001–2021). In allen Fällen war es ein Kampf zwischen David und Goliath. Es stellt sich die Frage: Warum verlieren die Goliaths so häufig gegen die Davids? Lässt sich daraus etwas für den Ukrainekrieg lernen? Und welche sicherheitspolitische Strategie erscheint vor diesem Hintergrund in Bezug auf die deutsche Unterstützung der Ukrainer und auf die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers sinnvoll?
Im Sinne des klassischen politikwissenschaftlichen Diskurses lässt sich zunächst feststellen, dass sich der Ukrainekrieg als ein sogenannter „asymmetrischer Krieg“ klassifizieren lässt. Asymmetrie liegt dann vor, wenn eine militärisch starke Kriegspartei in der Lage ist, eine andere, militärisch schwache Kriegspartei in deren Heimat anzugreifen, aber dies umgekehrt nur begrenzt möglich ist. Aufgrund der asymmetrischen Natur des Krieges kämpft die militärisch schwache Kriegspartei einen Kampf um ihr (politisches) Überleben. Wenn sie aufhört zu kämpfen, wird ihre Existenz ausgelöscht. Die militärisch starke Kriegspartei hingegen kann den Krieg jederzeit abbrechen, ohne um ihre Existenz fürchten zu müssen.
Aus dieser unterschiedlichen Bedrohungslage entsteht ein Ungleichgewicht hinsichtlich des kriegsentscheidenden Faktors „Zeit“. Diese steht dabei in der Regel auf der Seite der militärisch schwachen Kriegspartei. Denn aufzugeben ist für sie keine Option. Sie muss bis zum bitteren Ende weiterkämpfen, wenn sie überleben will – koste es, was es wolle. Für die starke Kriegspartei hingegen stellt sich im Zeitverlauf eines solchen Krieges immer mehr die Frage, ob der Krieg wirklich die immensen Kosten wert ist. Mit jedem weiteren Tag, an dem der Krieg fortgeführt wird, nimmt die Anzahl der gefallenen Soldaten und die finanzielle Belastung zu. Da der Krieg eben nicht existenziell wichtig ist, ist irgendwann der Kulminationspunkt erreicht, an dem „Butter“ wichtiger wird als „Kanonen“. Die militärisch starke Kriegspartei wird dann den Krieg abbrechen und eine Niederlage in Kauf nehmen müssen.
Im Krieg der Starken gegen die Schwachen sind es häufig die Schwachen, die über ein größeres Durchhaltevermögen verfügen.
Im Krieg der Starken gegen die Schwachen sind es daher häufig die Schwachen, die über ein größeres Durchhaltevermögen verfügen und den Kampf um die Zeit gewinnen. Im Vietnamkrieg (1965–1975) und im Afghanistankrieg (2001–2022) verfügten die Nordvietnamesen beziehungsweise die Taliban trotz ihrer militärischen Unterlegenheit über einen stärkeren Durchhaltewillen als die Weltmacht USA und ihre Verbündeten.
Es reicht für die militärisch Schwachen aus, nicht zu verlieren, den Krieg in die Länge zu ziehen und so die Kosten der militärisch starken Kriegspartei mit der Zeit stetig in die Höhe zu treiben. Henry Kissinger hat das im Kontext des Vietnamkriegs folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert. Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.“ Die Vietnamesen und die Taliban waren mit dieser defensiven Strategie der zeitlichen Verlängerung des Krieges erfolgreich. Ein Sprichwort der Taliban im Kontext des asymmetrischen Afghanistankriegs besagte: „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit.“
Im Krieg Davids gegen Goliath sind es jedoch nicht nur Demokratien, die den Kampf um die Zeit häufig verlieren. Auch der autokratischen Sowjetunion gelang es trotz ihrer immensen militärischen Überlegenheit und Lufthoheit nicht, die Mudschahidin im Afghanistankrieg (1979–1989) zu besiegen. Nach zehn Jahren blutigen Kampfes musste die mächtige Sowjetunion den asymmetrischen Krieg abbrechen und eine bittere Niederlage realisieren.
Diese lässt sich vor allem durch innenpolitische Restriktionen erklären. Der asymmetrische Krieg war aufgrund der zahlreichen menschlichen und finanziellen Opfer bei der sowjetischen Bevölkerung keineswegs populär. Tausende junger Soldaten waren in dem Krieg ohne großen Gewinn umgekommen und ließen trauernde Angehörige darüber nachdenken, wie und warum solch ein katastrophales Unterfangen zustande kam. Für die sowjetische Bevölkerung war trotz aller Propaganda auf Dauer nicht ersichtlich, warum sie für ein Land, von dem keine offensichtliche Gefahr ausgeht, einen so hohen Blutzoll entrichten soll. Angriffe der Mudschahidin auf sowjetisches Territorium blieben die Ausnahme. Das sowjetische Volk distanzierte sich daher immer mehr von den Zielen der politischen Führung. Und am Ende musste Michail Gorbatschow den Krieg abbrechen, um das russische Volk nicht auf die Barrikaden zu treiben.
Im Krieg Davids gegen Goliath sind es jedoch nicht nur Demokratien, die den Kampf um die Zeit häufig verlieren.
Parallelen zum heutigen Ukrainekrieg werden hier deutlich. Russland und die Ukraine liegen geografisch zwar viel näher beieinander als Russland und Afghanistan. Entscheidend ist jedoch, dass die Ukraine Russland nicht oder nur in begrenztem Maße auf dessen Kernterritorium angreift. In Moskau fallen keine Bomben, in Kiew hingegen schon. Das ukrainische Volk kämpft um sein Überleben. Russland hingegen könnte den Krieg jederzeit beenden, ohne dass die russischen Bürgerinnen und Bürger um ihr Leben fürchten müssten.
Im russischen Volk kann der Krieg nicht populär sein. Denn die Soldaten, die ihr Leben in diesem aufs Spiel setzen müssen und in Särgen oder schwer verwundet wieder in ihre Heimat zurückkehren, kommen Mann für Mann aus den Reihen des russischen Volkes. Weiterhin müssen die russischen Bürgerinnen und Bürger den Krieg über Steuergelder finanzieren. Viele Russen werden sich trotz aller Propaganda insgeheim fragen, warum sie diese Lasten (er-)tragen müssen, für einen Krieg, durch den für sie keine direkte, offensichtliche Bedrohung im Alltag zu erkennen ist. Je länger der Krieg andauert und je mehr sich mit der Zeit die Kriegslasten akkumulieren, wird daher wohl die Kriegsaversion des russischen Volkes zunehmen.
Putin ist sich der kriegskritischen Haltung seines Volkes vollkommen bewusst. Aus gutem Grund hat er auf eine vollständige Mobilisierung verzichtet und nur eine Teilmobilisierung angeordnet. Weiterhin spricht er statt von „Krieg“ nur von einer „Spezialoperation“. Er weiß, dass sein Volk das Wort „Krieg“ nicht goutiert. Und ein langandauernder, blutiger und kostenintensiver Krieg gefällt ihm schon gar nicht. Auch der Autokrat Putin ist auf die Unterstützung seines Volkes angewiesen und kann nicht beliebig viele Soldaten beliebig lange mobilisieren. Dies gilt umso mehr, je länger der Krieg andauert.
Putin ist sich der kriegskritischen Haltung seines Volkes vollkommen bewusst.
Was würde aber nun passieren, wenn aus dem asymmetrischen Ukrainekrieg ein symmetrischer Krieg werden würde? Wenn also die Ukrainer russische Soldaten und Bürger in ihrer Kernheimat angreifen würden? Wenn eine Waffe mit großer Reichweite von der Ukraine abgefeuert und in der Nähe von Moskau zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten töten würde? Angesichts dieser offensichtlichen Bedrohung hätte Putin keinerlei Probleme mehr, den totalen Krieg auszurufen und das russische Volk vollumfänglich zu mobilisieren.
Die weitreichende Waffe „Taurus“ hat das Potenzial, einen Wandel des Krieges herbeizuführen. Im Nebel des Krieges ist immer mit Friktionen zu rechnen. Und niemand kann vollkommen ausschließen, dass eine „Taurus“-Lieferung letztlich nicht doch zu zivilen Toten in Russland führen würde. Wenn in der Nähe von Moskau Bomben einschlügen, würde sich der asymmetrische Krieg in Richtung eines symmetrischen Kriegs bewegen. Die russischen Bürger würden sich dann hinter Putin stellen und seinen Krieg auch zu ihrem Krieg machen. Das Volk wäre dann wahrscheinlich viel mehr bereit, erhebliche Opfer für einen intensiven und langandauernden Kampf auf sich zu nehmen. Die Ukrainer wiederum – würden sie das russische Volk angreifen und gegen sich aufbringen – würden folglich ihren elementar wichtigen Vorteil aufgeben: dass nämlich die Zeit auf ihrer Seite steht – freilich vorausgesetzt, der Westen liefert weiter ausreichend Kriegsmaterial von geringer Reichweite.
Eine Strategie Deutschlands, die darauf setzt, keine Waffen mit großer Reichweite zu liefern, ist also durchaus eine kohärente Strategie und im Einklang mit politikwissenschaftlichen sowie historischen Erkenntnissen. Es sind nicht (nur) Putins Atomwaffen, vor denen sich Deutschland nach der Lieferung von „Taurus“ fürchten müsste – es wäre vor allem das russische Volk.
Wenn Deutschland und der Westen kurz-, mittel und vor allem auch langfristig genug militärisches Material liefert und dennoch vermieden wird, aus dem asymmetrischen Krieg einen symmetrischen Krieg zu machen, könnten die Ukrainer am Ende obsiegen. Dabei reicht es aus, den Krieg nicht zu verlieren, um ihn zu gewinnen.