Die westliche Staatengemeinschaft steckt in einer Zwickmühle. Es ist kaum möglich, die Ukraine wirkungsvoll militärisch zu schützen, ohne einen endlosen Abnutzungskrieg, das Risiko einer massiven Eskalation oder die revanchistischen Spätfolgen einer russischen Niederlage in Kauf zu nehmen. Andererseits würden sofortige Friedensverhandlungen mit Russland die – inakzeptable – Aufopferung der Ukraine als Staat und der Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung bedeuten. In beiden Fällen wäre zudem die Nachkriegssituation stärker konfliktgeladen als die Lage vor dem Krieg. Die Chancen auf einen nachhaltigen Frieden stünden schlecht.

Aus diesem Dilemma scheint es keinen Ausweg zu geben. Jedenfalls nicht, solange die militärische Ertüchtigung der Ukraine in zwangsläufiger Einheit mit der Aufnahme des Landes in die westlichen Konfigurationen und Bündnisse, in die EU oder in die NATO, gedacht wird. Diese Westintegration entspricht den legitimen Sicherheitsbedürfnissen der Ukraine und soll zudem das übrige Europa vor weiteren russischen Aggressionen schützen. Aber die Kopplung von Waffenhilfe und Westintegration blockiert zugleich die Auswege aus dem derzeitigen Krieg und stellt die Weichen zu einem neuen, kalten, womöglich auch heißen Konflikt zwischen den sich dadurch formierenden Blöcken.

Ziel der Kombination von Ukraine-Waffenhilfe und EU- oder NATO-Beitrittsperspektive ist es, Russland in eine Verhandlungsposition zu zwingen, aus der heraus die territoriale und politische Integrität der Ukraine nicht mehr zur Disposition gestellt werden kann. Abgesehen von der Frage, ob die militärische Schwächung überhaupt wie angestrebt gelingt, macht gerade ihre Verbindung mit der Westintegration jegliche Verhandlungen für Russland aussichtslos und senkt damit die Chancen einer baldigen und nachhaltigen Beendigung des Krieges.

Will man ein Kriegsende anstreben, bei dem Existenz und Zukunft der Ukraine gesichert sind, durch das ein dauerhafter Frieden erreicht werden kann und das zugleich vorteilhafte Bedingungen für einen innenpolitischen Wandel in Russland selbst schafft, so muss man Waffenhilfe und Westintegration voneinander entkoppeln. Denn solange das militärische Zurückschlagen des russischen Angriffs mit einer fortschreitenden ukrainischen Westintegration verbunden bleibt, hat ein militärisch geschwächtes Russland keine Perspektive auf ein anstrebbares Verhandlungsziel. Eine westintegrierte Ukraine ist das genaue Gegenteil von dem, was der Kreml glaubte, mit diesem Krieg erreichen zu können. Sie als nunmehr unveränderliches fait accompli  zu akzeptieren, käme einer politischen Selbstaufgabe gleich: Das Überleben des Putinismus ist daran gebunden, in diesem Krieg keine Niederlage zu erleiden.

Auf das Westintegrations-Szenario zu verzichten, heißt nicht, auf Bewaffnung und dauerhafte militärische Sicherheitsgarantien zu verzichten.

Ein solches Aufgeben ist also nicht zu erwarten, zumal der Westen aus guten Gründen eine direkte Konfrontation mit Russland ausschließt, mit der dieser Schritt eventuell erzwungen werden könnte. Damit bliebe dem Kreml weiterhin nur die Wahl zwischen Eskalation – nicht zwangsläufig, aber möglicherweise nuklearer Natur – und Kriegsverstetigung. Beides wäre fatal, und zwar sowohl in moralischer Hinsicht wie auch im Hinblick auf die globale Konflikt- und Friedenskonstellation.

Ganz anders sähe es aus, wenn das Vorhaben der militärischen Friedenserzwingung nicht mit einer Westintegration der Ukraine verbunden würde. In diesem Fall würde sich das Entscheidungskalkül Russlands grundlegend ändern. Neben der Option, die enormen Kosten für die endlose Fortführung des Krieges – oder die Eskalation – zu tragen, träte eine Alternative: Russland könnte dann in einer solchen Weise verhandeln, dass das Ergebnis der Nicht-Westintegration der Ukraine auf russischer Seite als eine Verhinderung dieser Westintegration durch den Krieg gelesen werden könnte und damit als eine teilweise erfolgreiche Beendigung des Krieges. Unter diesen Bedingungen hätten Verhandlungen für den Kreml Sinn und ein Kriegsende würde, eine entsprechende zuvorige militärische Zurückdrängung Russlands vorausgesetzt, in greifbare Nähe rücken.

Allerdings scheint der Verzicht auf das Westintegrations-Szenario die Ukraine nur umso mehr der russischen Aggression auszusetzen und damit die territoriale und politische Integrität des Landes zu untergraben, genau wie das beim sofortigen Beginn von Friedensverhandlungen der Fall wäre. Doch dieser Einwand greift nur dann, wenn diese Integrität nicht anderweitig sichergestellt werden kann. Das kann sie aber, wenn auch auf unkonventionelle Art und Weise.

Denn auf das Westintegrations-Szenario zu verzichten, heißt nicht, auf Bewaffnung und dauerhafte militärische Sicherheitsgarantien zu verzichten. Im Gegenteil: Die Bewaffnung könnte sogar umgekehrt, also negativ und nicht wie bisher positiv, an die Frage der Westintegration gekoppelt werden. Je mehr Bewaffnung die Ukraine erhält, desto mehr muss sie von der Westintegration Abstand nehmen, desto klarer ist aber auch für Russland, dass ein militärisches Einlenken die Perspektive einer nicht-westintegrierten Ukraine eröffnet. Mit zunehmender Militarisierung des kriegerischen Konflikts steigt dann zugleich auch die Attraktivität seiner diplomatischen Beendigung.

Die Ukraine wäre so weiterhin, und gegebenenfalls sogar besser und wirkungsvoller, mit westlichen Waffen ausgerüstet. Zudem bekäme sie Zugriff auf Ressourcen zur Nachrüstung, könnte diese Bewaffnung also auch im Falle einer erneuten Bedrohung jederzeit erhöhen.

Die Nato würde dem expansionistischen Image entgegenwirken, das ihr in vielen Teil der Welt anhängt.

Es mag paradox klingen: Der Westen soll die Ukraine weiter bewaffnen, aber nicht, damit sie in der Folge Teil des Westens werden kann, sondern damit sie dies gerade nicht werden muss. NATO und EU müssten also gerade nicht gemäß ihrer Bündnislogik handeln, sondern ihr zuwiderlaufend, und zwar, weil die internationalen Interessen – und mutmaßlich auch diejenigen der Ukraine selbst – dies erfordern, nämlich die Interessen an einer baldigen Beendigung des Krieges bei gleichzeitiger Sicherung der ukrainischen Staatlichkeit und an Bahnung eines Weges zu einem nachhaltigen Frieden.

Die Ertüchtigung der Ukraine zur wehrhaften, selbstverantworteten Bewahrung ihrer staatlichen Integrität und politischen Handlungsfreiheit darf sich dabei nicht auf westliche Waffenlieferungen beschränken. Sie ist dauerhaft nur durch ein international konzertiertes Handeln zu erreichen. Dazu ist der Ausbau internationaler Wirtschaftsbeziehungen mit der Ukraine ebenso notwendig wie die Internationalisierung der Militärhilfe selbst. In einem ersten Schritt wäre es die Aufgabe von NATO und EU, hierzu auf diplomatischem Wege Allianzen mit BRICS-Staaten wie Indien oder Brasilien, gegebenenfalls sogar China anzubahnen. Auch dies ist nur unter der Voraussetzung denkbar, dass eine Beteiligung dieser Staaten nicht einer Westintegration Vorschub leistet, sondern allein dazu dient, die autonome Stellung der Ukraine militärisch und wirtschaftlich abzusichern.

Betrachtet man das Szenario „militärische Ertüchtigung bei Nicht-Integration in westliche Bündnisse“ aus einer globalen Perspektive, so weist es starke Parallelen zu Initiativen auf, wie man sie von der UN erwarten würde. Der UN-Sicherheitsrat ist aber bekanntlich aufgrund des russischen Vetos handlungsunfähig. Die Konsequenz daraus darf nun aber nicht eine Re-Provinzialisierung der internationalen Politik sein, wie es derzeit der Fall ist. Stattdessen sollte der global stärkste Player im derzeitigen Konflikt, nämlich die NATO, aus eigenem Antrieb dafür sorgen, dass der Konflikt internationalisiert wird und dass eine Lösung außer- und oberhalb der bestehenden Machtdynamiken und Bündnisstrukturen erreicht wird. Mit anderen Worten: Wenn die UN gelähmt ist, so muss die NATO selbst wie „eine UN“ handeln.

Ein derart (scheinbar) „selbstloses“ Handeln der NATO hätte zudem eine Reihe von positiven Begleiteffekten. Die Nato würde dem expansionistischen Image entgegenwirken, das ihr in vielen Teil der Welt anhängt, und sich als ein echtes Defensivbündnis präsentieren, das produktiv an einer friedlichen globalen Vergesellschaftung der Staaten mitarbeitet. Der Schutz des Völkerrechts und der staatlichen Integrität der Ukraine, den die UN in ihrer derzeitigen Konstellation nicht leisten kann, würde von einer breit aufgestellten internationalen Initiative übernommen, ohne dabei durch eine unmittelbare militärische Intervention neue Konfliktanlässe zu schaffen.

Dass Russland nur durch eine Überwindung des aggressiven, neo-imperialen Putinismus ein mittel- und langfristig friedensfähiger Staat werden kann, steht wohl außer Frage.

Vor allem aber eröffnet dieses Szenario konkrete Chancen auf einen innenpolitischen Wandel in Russland, der für den Fortgang der Dinge von höchster Bedeutung wäre. Dass Russland nur durch eine Überwindung des aggressiven, neo-imperialen Putinismus ein mittel- und langfristig friedensfähiger Staat werden kann, steht wohl außer Frage. Mit einem „Wandel durch Niederlage“ ist aber kaum zu rechnen, eher schon mit der Ausbildung einer russischen Dolchstoß-Legende, und auch ein russischer Staatszerfall ist weder wahrscheinlich noch sicherheitspolitisch wünschenswert.

Bei einem Kriegsausgang hingegen, der durch die nicht-stattfindende Westintegration der Ukraine – unter internationaler Gewährleistung von Sicherheit und Integrität – ein Element der Ambivalenz enthält, kommt ein neuer, weniger katastrophenträchtiger Pfad des Wandels hinzu. Ein solcher Kriegsausgang ließe sich – notdürftig – in Russland auch als eine Spielart von „Sieg“ deuten, er legt aber mindestens ebenso sehr eine Deutung als – teilweise oder hauptsächliche – Niederlage nahe. Durch diesen asymmetrischen Zwiespalt würden möglicherweise Voraussetzungen für Deutungskämpfe in der russischen Staatselite und Zivilgesellschaft entstehen, die dann auch tatsächlich in ein politisch-ideologisches Umdenken münden könnten. Der Wandel, der sich durch äußeren Zwang kaum erreichen lässt, würde dann aus Russlands innerer politischer Konstellation heraus entstehen.

Aber ist ein Szenario, in dem die NATO derart „selbstlos“ und internationalistisch handelt, überhaupt zu verwirklichen? – Zunächst einmal wirkt eine Skizze wie diese gegenüber ihren bereits ausführlich diskutierten Alternativen zwangsläufig spekulativer. Man fragt sich aber auch: Wie wirklichkeitstauglich sind denn überhaupt die bekannten Szenarien „Waffenlieferungen bis zum Sieg“, „Abnutzung bis zur Erschöpfung“ oder gar „Friedensverhandlungen jetzt“? Jede von ihnen enthält seine eigene, teils beträchtliche Portion an Utopie. Daher rührt wohl auch das hartnäckige Gefühl, es allen aufrichtigen Anstrengungen zum Trotz mit einer erschreckend aussichtslosen Situation zu tun haben.

Damit dieser fürchterliche, sinnlos vom Zaun gebrochene Krieg beendet und das Existenzrecht der Ukraine geschützt werden kann, muss offenbar in jedem Fall etwas „Unrealistisches“ geschehen. Und wenn die derzeit verfolgten Strategien zu Resultaten führen, die niemand wünschen kann, dann ist das Szenario der „paradox“ handelnden NATO womöglich sogar das realistischste von allen.