Am 12. Mai 2016 wurde im rumänischen Deveselu feierlich eine neue NATO-Raketenabwehrstation eingeweiht, nur wenige Tage später erfolgte der erste Spatenstich für den Bau einer weiteren Station im polnischen Redzikowo, die ab 2018 einsatzfähig sein soll. Beide Abwehrstationen gehören zum europäischen Teil des NATO-Raketenabwehrprogramms „European Phased Adaptive Approach“ (EPAA). Das EPAA soll die USA und ihre europäischen Alliierten und Partner gegen feindliche Kurz- und Mittelstreckenraketen schützen. 2009 öffentlich von US-Präsident Barack Obama als Weiterentwicklung des „NATO Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence“ (ALTBMD) zur Diskussion gestellt, wurde das Programm beim NATO-Gipfel in Lissabon im Jahr 2010 in das „New Strategic Concept“ integriert. Seither wird die Abwehr von ballistischen Bedrohungen als Kernelement der kollektiven Sicherheitsaufgaben der Allianz genannt. Die Gesamtkosten (einschließlich ALTBMD) werden bislang auf mehr als drei Milliarden Euro geschätzt, den Löwenanteil davon finanzieren die USA.

Das Grundprinzip der Raketenabwehr ist relativ simpel: Strategisch positionierte boden-, see- oder satellitengestützte Radare suchen den Himmel und/oder die Atmosphäre systematisch nach feindlichen Flugkörpern ab. Auf der Basis der radargestützten Daten wird die Flugbahn berechnet und die Abschussrampe für Abfangraketen, sogenannte Interzeptoren, in Stellung gebracht. Läuft alles nach Plan, neutralisieren die Interzeptoren die feindliche Rakete, bevor sie auf dem Boden Schaden anrichten kann.

 

In der Praxis handelt es sich um hochkomplizierte Technik mit sehr vielen, teils unberechenbaren Variablen.

Soweit die Theorie. In der Praxis handelt es sich allerdings um hochkomplizierte Technik mit sehr vielen, teils unberechenbaren Variablen. So werden beispielsweise Flugbahn und Geschwindigkeit der feindlichen Rakete erheblich durch die Beschaffenheit des Treibstoffs (fest oder flüssig) und die Bestückung des Gefechtskopfs beeinflusst. Diese beiden Faktoren lassen sich mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen sicherlich erahnen, aber niemals mit hundertprozentiger Sicherheit vorab bestimmen.

Zudem gibt es im Verlauf des Raketenflugs nur enge Zeitfenster, die für eine Neutralisierung geeignet sind. Eine Intervention kurz nach dem Abschuss der Rakete setzt voraus, dass sich die Abschussanlage für den Interzeptor in großer Nähe befindet – eine Bedingung, die in den meisten Szenarien kaum zu erfüllen sein wird. Eine Intervention in einer späteren Flugphase der feindlichen Rakete hingegen ist mit großer Wahrscheinlichkeit mit Abschussanlagen im eigenen beziehungsweise verbündeten Territorium realisierbar. Allerdings bedeutet dies auch: Bereits der erste Versuch muss erfolgreich sein. Gelingt es nicht, die anfliegende Rakete sauber zu erfassen, ihre Flugbahn exakt zu berechnen und den Interzeptor korrekt darauf auszurichten, gibt es in der Regel keinen zweiten Versuch.

Moderne Raketen können zudem mit Sprengköpfen bestückt werden, die sich bei Aktivierung in mehrere Teile spalten können: in einen mit der tödlichen Last bestückten und in mehrere Attrappen. Das Radar kann nach heutigem Stand der Technik nur ein Flugobjekt erfassen, muss sich also „entscheiden“, welches es für den Abschuss durch die Abwehrrakete erfasst – je nach Anzahl der Attrappen eine ziemlich gewagte Wette. Selbst unter optimalen Versuchsbedingungen gelingt die erfolgreiche Neutralisierung feindlicher Raketen nicht immer, in einer realen Gefechtssituation muss von einer deutlich höheren Fehlerquote ausgegangen werden.

 

Das Argument, dass die Entwicklung von Abwehrsystemen den Rüstungswettlauf befeuert, ist schwer von der Hand zu weisen.

Neben den technischen Schwierigkeiten ist das Argument, dass die Entwicklung von Abwehrsystemen den Rüstungswettlauf befeuert, schwer von der Hand zu weisen. Potenzielle Aggressoren werden immer versuchen, Fortentwicklungen bei der Abwehr durch Investitionen in noch elaboriertere Angriffstechnologie auszugleichen. Noch schwerer wiegt das Argument, dass die viel größeren Bedrohungen wohl eher von anderer Seite kommen: Cruise Missiles (gegen die derzeit noch kein Kraut gewachsen ist), destabilisierende Hybrid-Szenarien, unkontrolliertes Zirkulieren von Kleinwaffen, Biowaffen in Händen von Terroristen, Epidemien, Terroranschläge, Verteilungskämpfe aufgrund von Dürren, Naturkatastrophen usw. Raketenabwehr ist, so scheint es, in erster Linie ein sehr teures Prestigeprojekt, das Sicherheit und Handlungsfähigkeit suggeriert, ohne diese Versprechen einhalten zu können. Selbst im Idealfall wäre ein Raketenabwehrsystem niemals ein tatsächlicher, sich über uns aufwölbender Schutzschirm, sondern vielmehr ein punktueller Schutz vor einzelnen Raketen für ein geographisch relativ eng umrissenes Gebiet. Wenn jemand, zumal ein technisch hochpotenter Gegner, Europa mittels Raketenbeschuss ernsthaft verwunden will, wird ihm dies trotz EPAA gelingen.

 

Zweifelhafte Bedrohungslage

Alle Verantwortlichen auf NATO-Seite werden seit Beginn der Planungen im Jahr 2010 nicht müde, zu betonen, dass EPAA sich nicht gegen Russland richte und auch keine Gefahr für dessen Fähigkeit zu einem nuklearen Vergeltungsschlag darstelle. Generell sei EPAA gegen kein spezifisches Land gerichtet, sondern gegen bestimmte Bedrohungsszenarien allgemein. Schließlich verfügen derzeit etwa 30 Staaten über eine Raketentechnologie, die eine potenzielle Bedrohung für die USA und Europa darstellen könnte. Allerdings sind etliche dieser 30 Staaten NATO-Partner oder -Verbündete. Wenn man darüber hinaus all jene Staaten abzieht, die faktisch auf absehbare Zeit keine Bedrohung darstellen, weil sie zur Zeit weder über die Mittel noch über die Infrastruktur für einen erfolgreichen Raketenabschuss verfügen oder schlicht keine feindlichen Ambitionen haben, bleiben als potenzielle Aggressoren nur der Iran, Syrien, Russland, Terroristen und mit Einschränkungen Nordkorea übrig.

Nordkorea hat zuletzt mit Berichten über vermeintlich erfolgreiche Raketentests auf sich aufmerksam gemacht. Aus der Auswertung der offiziellen Bilder ergeben sich allerdings erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit: Zu zahlreich sind die Hinweise auf Manipulationen. Das heißt nicht automatisch, dass es sich um vollständige Fälschungen handelt – doch ein konkretes Bedrohungsszenario lässt sich durch diese „Beweisbilder“ sicher nicht ableiten.

Experten gehen davon aus, dass in Syrien noch ein Restbestand von etwa 400 Kurzstreckenraketen verfügbar ist, ohne dass sich genau sagen ließe, in wessen Händen sie sich befinden. Als gesichert gilt nur, dass sie für Kampfhandlungen auf syrischem Boden oder in grenznahem Gebiet eingesetzt werden. Einen Anhaltspunkt für Ziele in Europa gibt es nicht. Eine Bedrohung der Türkei durch Raketenbeschuss aus Syrien war von der NATO jedenfalls zuletzt nicht mehr angenommen worden.

 

Die immensen Investitionen von rund 800 Mio. US-Dollar werden in den USA auch öffentlich mit einer potenziellen Bedrohung durch den Iran begründet.

Die immensen Investitionen in das EPAA, die den amerikanischen Steuerzahler allein für die Raketenabwehrstation in Deveselu mit rund 800 Mio. US-Dollar belasten, werden in den USA, anders als in Europa, auch öffentlich mit einer potenziellen Bedrohung durch atomar bestückte, aus dem Iran abgefeuerte Raketen begründet. Vor allem in Deutschland werden aber zunehmend Zweifel laut: Wenn sich das EPAA tatsächlich in erster Linie gegen den Iran richtet, müsste es nach dem erfolgreich abgeschlossenen Atomabkommen doch eigentlich zu einer Neubewertung der Lage kommen.

Tatsächlich ist diese Argumentation ein wenig naiv, denn das Atomabkommen ist noch ein vergleichsweise junger Vertrag, der sich noch als politisch tragfähig erweisen muss. Ob er über die gegenwärtige Regierung in Teheran hinaus Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Und so ist es sicherlich legitim, über Schutz nachzudenken, solange ballistische Bedrohungen durch den Iran nicht sicher ausgeschlossen werden können: Technische Entwicklungszyklen im Verteidigungsbereich sind enorm lang und können nicht kurzfristig auf Eis gelegt oder ad hoc reaktiviert werden.

Es muss den Kritikern allerdings zugutegehalten werden, dass der Ausbau des EPAA scheinbar vollkommen unbeeindruckt vom Atomabkommen fortgesetzt wird. Weder wird aus ihm ein neuer Begründungszusammenhang abgeleitet noch erklärt, warum das Festhalten am EPAA geboten scheint. Vielmehr wird mit fast schon kurioser Unerschütterlichkeit daran festgehalten, dass sich die Raketenabwehr ohnehin nicht gegen konkrete Länder richte und auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse verwiesen, die naturgemäß nicht frei zugänglich sind. Das allein macht diese Bedrohungsanalyse noch nicht verdächtig,  wirft aber wesentlich mehr Fragen auf als es Antworten gibt.

 

Terrorismusabwehr geht anders

In einem dieser Bedrohungsszenarien würden Terroristen in die Lage versetzt werden, mittels Raketenbeschuss einen Angriff auf europäischem Boden durchzuführen. Denkt man z.B. atomare Gefechtsköpfe hinzu, ergibt sich ohne Frage ein äußerst beängstigendes Szenario. Dafür müssten terroristische Gruppierungen Zugriff auf entsprechende Raketen, Gefechtsköpfe und Waffenmaterial haben, über geeigneten Abschussrampen verfügen und diese über einen ausreichend langen Zeitraum militärisch absichern können – Voraussetzungen, die derzeit weder in Libyen noch in Syrien erfüllt sind.

 

Raketen sind extrem teuer, nur einmal verwendbar und richten bei relativ geringer Treffsicherheit einen vergleichsweise geringen Schaden an.

Hinzu kommt: Raketen sind extrem teuer, nur einmal verwendbar und richten bei relativ geringer Treffsicherheit einen vergleichsweise geringen Schaden an. Terroranschläge in Europa, die scheinbar erratisch, extrem flexibel plan- und durchführbar, mit geringsten Mitteln realisierbar und zu allem Überfluss mit nachrichtendienstlichen Mitteln nur schwer zu vereiteln sind, haben, so zynisch das ist, eine wesentlich bessere Kosten-Nutzen-Bilanz. Bei der Abwehr terroristischer Bedrohungen dürfte die Raketenabwehr also eine sehr untergeordnete Rolle spielen – hier sind andere Maßnahmen erforderlich.

 

Also doch Russland?

Richtet sich das EPAA also doch gegen Russland, wie nicht nur von russischer Seite, sondern etwa auch von der Opposition im Deutschen Bundestag geargwöhnt? Es wäre in der Tat ein Muskelspiel mit symbolträchtigen Standorten in Polen und Rumänien und eine demonstrative Rückenstärkung der östlichen NATO-Alliierten, die genau das den letzten Monaten vehement eingefordert haben. Zwar war es um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen bei Beginn der EPAA-Planungen noch wesentlich besser bestellt, weshalb die Auswahl der Aegis-ashore-Standorte auch nicht als unmittelbare Reaktion auf die russische Annexion der Krim missverstanden werden darf. Aber in der Tat erfüllen die beiden Basen auch den Zweck einer Rückversicherung der östlichen NATO-Partner. Das Russland sich provoziert fühlt, wird in dieser politischen Gemengelage kaum jemanden überraschen. Insofern muss konstatiert werden, dass die NATO (die Angebote Russlands zur Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr ausgeschlagen hatte), eine weitere Verschlechterung der Beziehungen billigend in Kauf nimmt.

Das kann man politisch klug finden oder nicht – keinesfalls einleuchtend ist das schon absurd anmutende Mantra, dass das EPAA nichts, aber auch gar nichts mit Russland zu tun habe. Putins Reaktion wäre vermutlich kaum heftiger ausgefallen, wenn sich das Bündnis klar dazu bekannt hätte, dass das EPAA selbstverständlich auch versuchen würde, Raketenbeschuss von russischem Territorium abzufangen. Das Beharren auf abstrakten Bedrohungen, die einer näheren Betrachtung nicht standhalten und, mehr noch, Russland sogar explizit ausnehmen, ist nicht glaubwürdig. Es ist daher nutzlos und widerspricht der von beiden Seiten immer wieder erhobenen Forderung nach Transparenz. Angesichts von zahlreichen technischen Herausforderungen und der immens hohen Kosten muss die Frage gestellt werden, ob der durch das EPAA angerichtete Schaden nicht viel größer ist als sein potenzieller Nutzen , dessen Zweifelshaftigkeit übrigens ja auch den Russen nicht verborgen bleibt. Sollte das Vorantreiben des EPAA gar dazu führen, dass Putin den Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) kündigt, wäre der Schuss wohl endgültig gewaltig nach hinten losgegangen. Cui bono? Wohl nur jenen, die mit der Raketenabwehr Geld verdienen.