Die Entscheidung der Bundesregierung und anderer NATO-Staaten, der Ukraine moderne Kampfpanzer und Schützenpanzer zur Verfügung zu stellen, hebt das westliche Engagement in der Ukraine auf eine neue Stufe. Vermutlich wird es im weiteren Kriegsgeschehen nicht bei den bisher genannten Stückzahlen bleiben. Unmittelbar nach den Panzerentscheidungen begann bereits eine internationale Debatte über die Lieferung von Kampfflugzeugen. Am Horizont tauchen zudem erste Stimmen auf, die aus „Abschreckungsgründen“ Truppen aus NATO-Staaten in der Ukraine andenken, was zu einer Kriegsbeteiligung der NATO führen würde. Die Diskussion um die ukrainischen Kriegsziele darf jedoch nicht weiter abstrakt geführt werden, auch wenn ein Klärungsprozess innenpolitisch und unter den NATO-Staaten zu heftigen Kontroversen führen kann. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Äußerungen der amerikanischen Regierung sowie der Bundesregierung deuten darauf hin, dass sie die Ukraine befähigen wollen, die bisher erkämpfte Frontlinie zu halten und, wo immer möglich, weitere Gebiete zu befreien. Die Rückgabe aller besetzten Territorien, einschließlich der Krim, wäre bei diesem Strategieansatz vermutlich in langwierigen Verhandlungen unter dem Druck überwältigender westlicher Sanktionspakete zu erreichen. Dieser Zielvorstellung steht die weitergehende Forderung gegenüber, dass die Ukraine befähigt werden muss, ihr gesamtes Territorium in militärischen Gegenangriffen zurückzuerobern. Diese wird auch von der ukrainischen Führung hervorgebracht. Die damit verbundenen gravierenden Eskalationsrisiken bedürfen der tiefgreifenden Analyse, um die in der bisherigen Debatte weitgehend herumnavigiert wird.

Der Nebel des Krieges verhindert Vorhersagen über den weiteren Kriegsverlauf. Allen professionellen militärpolitischen Expertinnen und Experten ist bewusst, dass sie mit ihren Analysen, Wertungen und Prognosen im Nebel des Krieges herumstochern, in dem Friktionen und Überraschungen immer auftreten werden. Dennoch können unterschiedliche Szenarien die Einschätzungen schärfen, was womöglich auf uns zukommen könnte.

Die Diskussion um die ukrainischen Kriegsziele darf nicht weiter abstrakt geführt werden.

Mit Blick auf den Frühsommer 2023 wird im Folgenden versucht, mögliche Auswirkungen der neuen Panzerlieferungen an die Ukraine in zwei Szenarien zu erfassen. In beiden Szenarien wird davon ausgegangen, dass die ukrainische Armee bis zum Frühsommer 2023 nach und nach circa 100 westliche Kampfpanzer, überwiegend Leopard-Varianten, sowie circa 100 zumeist deutsche und amerikanische Schützenpanzer erhält. Zu diesem Zeitpunkt dürfte die angekündigte Lieferung von 31 M1-Abrams-Panzern noch nicht erfolgt sein. Mit den neuen schweren Waffensystemen werden in beiden Szenarien zum Frühsommer hin zwei Panzerbataillone und zwei Panzergrenadierbataillone ausgerüstet. Das entspricht in etwa einem Brigadeäquivalent.

Eine weitere Annahme ist, dass die allseits erwartete russische Frühjahrsoffensive mit Schwerpunkt im Raum Luhansk oder Donetsk etwa Ende Februar oder im März beginnen wird. In den zu erwartenden hoch intensiven und verlustreichen Gefechten dürften noch keine oder nur sehr wenige westliche Kampf- und Schützenpanzer zum Einsatz kommen. Es wird, mit einiger Unsicherheit, angenommen, dass die professionellere und bewegliche ukrainische Verteidigung größere operative Raumgewinne der russischen Großverbände abwehren kann. Die nachfolgenden Szenarien richten den Blick darüber hinaus zum Frühsommer hin, wenn die westlichen Panzer in die ukrainische Armee eingegliedert sind.

Szenario 1: Panzerschlacht an der Südfront mit begrenzten ukrainischen Geländegewinnen

Im ausgehenden Frühjahr wird erkennbar, dass die ukrainische Militärführung beabsichtigt, einen tiefen Stoß aus dem Raum östlich und südöstlich von Saporischschja nach Süden zu führen. Operatives Ziel ist, über circa 100 km bis zum Asowschen Meer vorzustoßen, um so die russischen Truppen südlich des Dnepr abzuschneiden und vor allem die Versorgung der Krim über die Landbrücke zu unterbinden. Das Gelände in diesem Raum ist panzergünstig, denn überwiegend offen und flach und bis auf die Stadt Melitopol nur mit kleineren Ortschaften durchzogen. Die Ukraine wagt im Frühsommer 2023 unter vorteilhaften Wetterbedingungen den Vorstoß nach Süden mit dem Angriffsziel Küste Asowsches Meer. Es kommt zur ersten großen Panzerschlacht in diesem Krieg, in der die vorn eingesetzten deutschen Leopards und Marder sowie die amerikanischen Bradleys und Striker in Duellsituationen mit ihrer besseren Panzerung, Beweglichkeit und Waffenwirkung klar im Vorteil sind.

Der Nebel des Krieges verhindert Vorhersagen über den weiteren Kriegsverlauf.

Die ukrainischen Kommandeure und Kompaniechefs beherrschen allerdings nur ansatzweise das komplexe Gefecht der verbundenen Waffen, in dem Kampfpanzer, Schützenpanzer mit Panzergrenadieren, Artillerie, mit Pionieren und Luftunterstützung synergetisch zusammenwirken müssen, um die volle Stoßkraft zu erreichen. Schwere russische Panzer- und Infanteriekräfte stellen sich den heranrückenden Verbänden entgegen. Der ukrainische Gegenangriff kommt circa 30 km voran, bleibt dann aber im massiven Abwehrfeuer liegen, nachdem es russischen mechanisierten Verbänden gelungen ist, in die Flanke der ukrainischen Panzerverbände zu stoßen und deren Versorgung zu gefährden. Die Verluste an Soldaten und Material sind auf beiden Seiten erneut fürchterlich hoch. Bilder von zerschossenen Leopard-Panzern werden im Netz verbreitet. Deutsche TV-Sender und Online-Medien bringen vermehrt historische Filmaufnahmen mit deutschen Panzern während des Zweiten Weltkriegs im selben Raum.

Aus politisch-strategischer Perspektive hat sich in diesem Szenario der verlustreiche Abnutzungskrieg, trotz taktischer Geländegewinne auf beiden Seiten, verfestigt. Russland hat jetzt noch circa zehn bis zwölf Prozent des ukrainischen Territoriums unter seiner Kontrolle. Die umfangreichen Entnahmen von Waffensystemen, Ersatzteilen und von Munition aus den Beständen der Bundeswehr wie auch der US-Armee schwächt immer mehr die Einsatzfähigkeit und Durchhaltefähigkeit der NATO-Streitkräfte auf beiden Seiten des Atlantiks. Da die Produktionskapazitäten begrenzt bleiben, mehren sich die Stimmen für eine Kriegsbeendigungsvereinbarung zwischen den USA, der Ukraine und Russland. In der Ukraine führen die extrem hohen Verluste, von denen immer mehr Familien betroffen sind, zu politischen Forderungen, eine Waffenstillstandsregelung anzustreben. Oppositionspolitiker fordern von ihrem Präsidenten eine Veröffentlichung der tatsächlichen Verluste seit Kriegsbeginn.

Szenario 2: Panzerschlacht an der Südfront mit Vorstoß der ukrainischen Armee zum Asowschen Meer

Szenario 2 ist bis zum Beginn des Gegenangriffs der ukrainischen Armee aus dem Raum östlich von Saporischschja heraus mit Szenario 1 identisch. In diesem Szenario verlaufen die Operationen wie vom ukrainischen Generalstab geplant. Kiew hat die mit westlichen Panzern und Schützenpanzern ausgerüsteten Verbände im Schwerpunkt des Angriffs eingesetzt. Aufgrund der überlegenen Feuerkraft, Panzerung und Beweglichkeit insbesondere der Leopard-2-Panzer stoßen sie nach wenigen Tagen auf Zwischenziele nordöstlich Melitopol vor. Führung, Kampfkraft und Motivation in den russischen Verbänden erweisen sich erneut als schwach, während die ukrainischen Truppen das Gefecht der verbundenen Waffen besser beherrschen, als von westlichen Militärexperten erwartet. Leopard-Panzerspitzen erreichen Ortschaften kurz vor der Küste und stehen gegenüber der Krim. Im Zuge des ukrainischen Vorstoßes zerstören HIMARS-Raketen aus amerikanischer Produktion an einigen Stellen die neue russische Brücke bei Kertsch und machen sie damit für die Versorgung der Krim unbrauchbar. Russland antwortet darauf mit dem bisher massivsten Luftangriff auf Kiew, wo zahlreiche Opfer zu beklagen sind und die Stromversorgung zusammenbricht.

Die Gefahr des langsamen, eigentlich unbeabsichtigten Gleitens in die größte Katastrophe für ganz Europa wächst.

Der russische Präsident gibt nach einer medial inszenierten Konferenz im Generalstab eine kurze Erklärung ab. Zunächst äußert Putin, dass die Russische Föderation diejenigen NATO-Staaten, die schwere Waffen an die Ukraine geliefert haben, unabhängig von völkerrechtlichen Spitzfindigkeiten, jetzt als direkte Kriegsgegner betrachte. Der laufende Angriff auf das russische Krim-Territorium sei nur durch die massive Beteiligung westlicher Staaten möglich gewesen. Der Krieg habe jetzt eine existentielle Dimension für die Russische Föderation erreicht. Damit weite sich für Russland das Gesamtkriegsgebiet auf das Territorium der westlichen Unterstützerstaaten aus. Er verzichte auf verbale Warnungen vor einem Atomkrieg, denn seine früheren Mahnungen seien auf die leichte Schulter genommen worden. Er habe, so Putin, seinen Verteidigungsminister und den Generalstab angewiesen, einem Teil der nuklearfähigen Raketentruppen die in Depots gelagerten atomaren Gefechtsköpfe zuzuführen.

Wenn die Unterbindung der Versorgung der Krim über die Landbrücke nicht zurückgenommen werde, müsse Russland dies mit seinen taktischen Atomwaffen erzwingen. Russische Blogger berichten, dass der Kriegsverlauf die Führung im Kreml eher zusammengeschweißt und zur Entschlossenheit im weiteren Vorgehen beigetragen habe, was nicht überprüft werden kann. Nach wenigen Stunden klären amerikanische Satelliten russische Konvois auf, die ihren Marsch aus den Atomwaffendepots in die Bereitstellungsräume der atomaren Raketenbatallione angetreten haben. Diese eigentlich geheimen Aufklärungsdaten geraten an die internationale Öffentlichkeit.

Für viele überraschend kündigt China zeitgleich die bisher größten Manöver seiner Seestreitkräfte in der Straße von Taiwan an. Die ersten Kriegsschiffe seien schon ausgelaufen. Die USA und ihre NATO-Partner stehen jetzt schneller als von vielen geglaubt, am Rande einer atomaren Eskalation, deren Konsequenzen für den ganzen europäischen Kontinent nicht kalkulierbar sind. Die westlichen Regierungen, der NATO-Rat und der NATO-Militärausschuss sowie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tagen täglich. Kommentatoren erinnern an den Höhepunkt der Kubakrise. In der NATO prallen unvereinbare Risikoeinschätzungen und Positionierungen aufeinander. In Berlin beginnen große Demonstrationen für eine unverzügliche Kriegsbeendigung mit dem Slogan „Stoppt den Wahnsinn“.

Natürlich lassen sich auch optimistischere Szenarien konstruieren, in denen der Kreml eine Rückeroberung der Krim ohne nukleare Eskalation hinnimmt. Die Verantwortlichen, unter anderem in Berlin, Washington und Paris, halten bisher an der Zielsetzung fest, die Grauzone des Übergangs in eine direkte Kriegsbeteiligung nicht zu betreten. Doch die Gefahr des langsamen, eigentlich unbeabsichtigten Gleitens in die größte Katastrophe für ganz Europa wächst. Unerwartete Ereignisse und Wendungen (manchmal als „Black Swans“ oder „Wild Cards“ bezeichnet) können zudem dynamische Entwicklungen erzeugen, deren Kontrolle und Eindämmung äußerst schwierig sein dürfte. Mit den aufwachsenden deutschen Panzerlieferungen steigt die Mitverantwortung Deutschlands für den weiteren Kriegsverlauf – und dessen Folgen – und damit in letzter Konsequenz das Recht und die Notwendigkeit, auf die Führung in Kiew Einfluss zu nehmen.