Ein Wendepunkt, vielleicht ein Durchbruch schien aus der Sicht Vieler erreicht: Am 10. Juli 2015 gab das Auswärtige Amt auf einer Pressekonferenz bekannt, die Bundesregierung spreche nun im Hinblick auf die Ereignisse des Krieges vor 110 Jahren von Völkermord durch die „Schutztruppe“ im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Dies kam nach Jahren der Verweigerung und Leugnung überraschend und verdient als Ausdruck einer internationalen Diskursverschiebung Beachtung.

Wir wollen eine kurze Skizze und eine Zwischenbilanz dieses Prozesses mit einigen Hinweisen auf die Gründe verbinden, aus denen mit einem Abschluss der Auseinandersetzungen um den kolonialen Völkermord in Namibia dennoch so bald nicht zu rechnen sein wird. Zugleich verweisen wir damit auch auf Herausforderungen, vor denen kritische Teile der Zivilgesellschaft wie der formalen Politik in Deutschland nach wie vor stehen, wenn es darum geht, weiter Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit aus dem längst überfälligen Eingeständnis auch die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.

 

Das Vorspiel

Als der Papst Ende April öffentlich und rückhaltlos den Völkermord an Armenierinnen und Armeniern 100 Jahre zuvor benannte und als solchen anerkannte, stieß er eine internationale öffentliche Debatte an, die binnen weniger Tage zu dramatischen Folgen führte. Es war, als sei endlich ein Bann gebrochen. Die Notwendigkeit, sich einer durch Staatsverbrechen geprägten Vergangenheit zu stellen, wurde ebenso betont wie die Hoffnung, durch Aussprechen der Wahrheit im Stillen schwärende Wunden zu heilen. Nachdrücklich betonten auch seriöse deutsche Medien, in welch hohem Maße der Völkermord an Armenierinnen und Armeniern die Kriterien erfüllt, die in der UN-Konvention zur Verhinderung des Verbrechens des Völkermordes von 1948 niedergelegt sind.

Vom Papst musste der Hinweis nicht überraschen, dass die Opfer dieses Völkermordes Christen waren, Angehörige der „ersten christlichen Nation“, als die Armenien sich gern präsentiert. Auch die Wortmeldungen des EU-Parlaments und des Bundestages sowie des Bundespräsidenten blieben nicht ohne Wirkung, wie die überaus gereizten Reaktionen der türkischen Regierung bewiesen. Im Bundestag wurde ein Antrag in erster Lesung behandelt, der ebenfalls diesen Völkermord benannte und von der Türkei Konsequenzen forderte. Die Fraktionsspitzen der Regierungsparteien hatten sich dabei unverkennbar gegen Anstrengungen der Regierung durchgesetzt, das V-Wort aus dem offiziellen Diskurs herauszuhalten. Dieses Vorgehen erinnerte deutlich daran, wie vor elf Jahren eine Resolution, damals zum Umgang mit deutscher Geschichte und Verantwortung in Bezug auf den Kolonialkrieg von 1904 bis 1908 in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia entschärft, ja in ihr Gegenteil verkehrt wurde, weil das Auswärtige Amt seinerzeit darauf bestand, das Wort „Völkermord“ dürfe darin nicht vorkommen.

Denn der Papst irrte in einem wesentlichen Punkt. Es geht nicht um Opferkonkurrenz, wenn hier nachdrücklich darauf hingewiesen wird, dass der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bereits zehn Jahre vor 1915 in einer deutschen Kolonie verübt wurde. Vielmehr nährten seit Jahren die beständigen Versuche, die damaligen Verbrechen zu verdrängen und totzuschweigen, den Verdacht, dass Verbrechen an Schwarzen und Kolonisierten vielleicht doch weniger zählen als die an einer Minderheit mit jahrtausendealten Kirchenbauten – oder zumindest weniger Präsenz im öffentlichen Gedächtnis finden als diese.

 

Die Kernfrage

Zur Erinnerung: Unter General Lothar von Trotha verfolgte die kaiserliche „Schutztruppe“ eine gezielte Vernichtungsstrategie gegen Herero und Nama. Dieses Vorgehen schloss die bewusste Abschottung von Zehntausenden in der wasserlosen Omaheke-Steppe ebenso ein wie die Vernichtung durch Arbeit und Vernachlässigung in damals schon so bezeichneten Konzentrationslagern. Bis zu 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama fielen Schätzungen zufolge dieser Strategie zum Opfer.

Vor allem die Kriegsführung gegen die Herero gilt in der heutigen Genozidforschung zweifelsohne als Fallbeispiel. Der nach dem verantwortlichen Verfasser benannter „Whitaker Report“ verweist auf die deutsche Vernichtungsstrategie gegen die Herero als ersten organisierten Völkermord im 20. Jahrhundert. Der Bericht wurde am 2. Juli 1985 namens der United Nations Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities der Commission on Human Rights of the United Nations Economic and Social Council in Genf vorgelegt. Als offiziellem Dokument der Vereinten Nationen kommt diesem eine Deutungshoheit zu, die schwerlich zu ignorieren ist.

Darum scherte sich das Auswärtige Amt nicht, als es 2004 darum ging, eine von den damaligen Regierungsfraktionen SPD und Grüne vorbereitete Resolution zum 100. Jahrestag dieses Völkermordes in seinem Sinne zu „entschärfen“. Die Vermeidung des Wortes Völkermord in dem schließlich verabschiedeten Text machte die zustande gekommene Endfassung der Erklärung nicht zu einem Instrument der Versöhnung, sondern rief im Gegenteil als halbherzige Makulatur in Namibia Empörung hervor.

Dem Papst konnte man zugutehalten, dass er sich wirklich irrte und vielleicht sogar bereit ist, dies einzugestehen. Die deutsche Politik und ein Großteil des öffentlichen Diskurses in Deutschland verdiente einen solchen Vertrauensvorschuss hingegen längst nicht mehr. Sie hatten derartigen Kredit durch Leugnung oder Verdrängung der damaligen Vorgänge verspielt und sich zum Völkermord in Namibia sehr viel eher wie sukzessive türkische Regierungen zu dem an Armenierinnen und Armeniern verübten verhalten. Als die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit Heidemarie Wieczorek-Zeul anlässlich der Gedenkfeier zur hundertjährigen Wiederkehr der Ereignisse in Namibia im August 2004 erklärte, dass es sich seinerzeit nach dem heutigen Verständnis um einen Völkermord gehandelt habe und General von Trotha dafür heute als Kriegsverbrecher vor Gericht gebracht und verurteilt würde, blieb sie allein auf weiter Flur. Allenfalls wurde Wieczorek-Zeuls einsamer Vorstoß benutzt, um zu behaupten, damit habe sich doch alles erledigt – so im März 2012 im Bundestag anlässlich der Ablehnung zweier von der Linken sowie SPD und Grünen eingebrachter Resolutionen.

Spiegelbildlich zu dem erwähnten Verweis auf die UN-Konvention haben höchste staatliche Repräsentanten wie der damalige Bundespräsident Herzog in Bezug auf Namibia behauptet, die UN-Konvention gelte nicht, weil sie nach dem Völkermord verabschiedet worden sei – was schließlich auch für den Völkermord an Armenierinnen und Armeniern und auch für den Holocaust gelten müsste. So versuchte die offizielle deutsche Politik, das Wort „Völkermord“ im Zusammenhang mit den Verbrechen in Namibia zu vermeiden und nach Möglichkeit auch anderen den Mund zu verbieten. Dafür mag es naheliegende, wenn auch keine guten Gründe geben. Zu diesen gehört wohl in erster Linie die Angst vor der Forderung nach Reparationen, die von namibischen Opfergruppen erhoben wurden, nachdem sie auf anderem Wege kein Gehör fanden. Eine Angst, die auch unter anderen Kolonialmächten umgehen dürfte, falls ein Präzedenzfall geschaffen würde. Welcher historische Zufall, dass auf ganz anderer Ebene durch eine griechische Regierung, die sich anders als ihre Vorgängerinnen nicht mehr weg duckte, angesichts der Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht in diesem Land, ebenfalls Forderungen nach Reparationen – anders formuliert nach Wiedergutmachung – erhoben wurden. Und auf die reagierte die offizielle deutsche Politik ebenfalls mit wegwerfenden Bemerkungen und schmallippigem Zynismus. Wie weit sie damit kommt, muss die Zukunft zeigen.

 

Ein Durchbruch

Die kritische Zivilgesellschaft in Deutschland hat die aktuelle Debatte in Verbindung mit einem historischen Datum zu einem weiteren Hinweis auf eigene längst überfällige Hausaufgaben erfolgreich genutzt. Am 9. Juli jährte sich das Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia zum hundertsten Mal. Zu diesem Anlass trat ein breites Bündnis mit einem Appell an die Öffentlichkeit. Mehr als hundert ErstunterzeichnerInnen aus Wissenschaft, Kunst, Kultur und Politik (darunter Mitglieder des Bundestages der Linken, Grünen und SPD) verlangten darin die überfällige Anerkennung des in Deutsch-Südwestafrika Geschehenen als Völkermord und forderten die notwendigen Konsequenzen ein: einen Dialog mit den Nachfahren der Opfer und die Bereitschaft zur Bearbeitung der Vergangenheit. Die enthusiastische Resonanz, die diese Initiative in kurzer Zeit seitens von Opfergruppen in Namibia gefunden hatte, bekräftigte zugleich, dass es nach wie vor Wege zu ernsthafter Verständigung und Versöhnung gibt.

Letztlich sind Opfer stets Opfer und Menschen zugleich, ungeachtet ihrer Herkunft. Sie werden nicht wieder lebendig, und die Folgen begangener Gräuel lassen sich nicht rückgängig machen. Doch der Umgang mit Staatsverbrechen bleibt eine aktuelle politische Entscheidung. Die Übernahme der Verantwortung durch die den Tätern folgenden Generationen ist ebenso wichtig für deren Gesellschaft wie das Recht der Nachfahren jener Opfer auf die Anerkennung durch die „Tätergesellschaft“; beides ist weder an Hautfarbe noch an gewisse Zeiten gebunden. Ein Jahrhundert nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft ist es schon längst an der Zeit, das damals begangene Unrecht beim Namen zu nennen. Wer B sagt und den Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern vor hundert Jahren als das benennt, was es war, darf auch den Balken im eigenen Auge nicht weiter ignorieren, sondern sollte endlich auch A sagen und sich zu einer klaren Aussage zum Völkermord in Namibia durchringen. Auch wenn dies nicht aus Einsicht geschieht, sollten unsere „VolksvertreterInnen“ zu einem solchen Bekenntnis im „deutschen Namen“ wenigstens durch den Appell engagierter Gruppen der Zivilgesellschaft nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in Namibia genötigt werden.

Diese Einsicht hat sich binnen weniger Tage – vermutlich dank eines erheblichen Engagements der deutschen Medien und des entsprechenden Drucks – unerwartet auch in den höheren staatlichen Etagen artikuliert. Noch am 6. Juli wurde die Gruppe, die gemeinsam mit einer hochrangigen Delegation aus Namibia den erwähnten Appell an den Bundespräsidenten überreichte, vor dem Bundespräsidialamt abgefertigt, ohne auch nur hereingebeten zu werden. Wenige Tage später befürwortete Bundestagspräsident Lammert in einem Zeitungsartikel die Anerkennung des Völkermordes durch die Bundesrepublik, und auch Außenminister Steinmeier ließ sich ähnlich vernehmen. Am 10. Juli kam dann der eingangs vermerkte offizielle Schwenk. Dies muss als ein bedeutsamer Erfolg zivilgesellschaftlicher Bemühungen sowohl auf namibischer wie auf deutscher Seite verstanden werden, zumal es auch immer mehr gelingt, hier gemeinsam und koordiniert zu handeln.

 

Offene Fragen

Allerdings bleiben kritische Punkte bislang ungeklärt beziehungsweise deuten auf eine nicht zufriedenstellende Konstellation: Offizielle Verlautbarungen begrenzen die Diskussion auf die Ebene zwischen der deutschen und namibischen Regierungen. Diese sollen auch nach der klärenden Sprachregelung weiterhin quasi unter sich ausmachen, wie damit umzugehen sei. Dies lässt allerdings immer noch die Nachkommen der Opfergruppen und deren organisatorische Vertretungen (insbesondere der Herero und Nama, aber auch der Damara) außen vor. Ob ein direkter Dialog mit diesen vorgesehen ist, bleibt bestenfalls unklar, mögliche Modalitäten werden gar nicht erst thematisiert. Ob es daher gegenüber den Opfergruppen zu einer offiziellen Entschuldigung kommt, bleibt abzuwarten – von der weiterhin höchst prekären Frage adäquater Entschädigungsleistungen ganz abgesehen.

Trotz des bis vor kurzem kaum zu erwartenden Durchbruchs dürfte deshalb das deutsch-namibische Verhältnis, das bereits durch eine Sprachregelung im Bundestag zur Unabhängigkeit der einstigen Kolonie als besondere Verantwortung Deutschlands ausdrücklich anerkannt wurde, weiterhin nicht gänzlich frei von Belastungen und Herausforderungen bleiben. So lange keine direkte Kommunikation mit und ideelle wie auch materielle Kompensationsleistung an die Nachfahren der seinerzeit betroffenen Gruppen erfolgt, bleiben zivilgesellschaftliche Akteure in beiden Ländern weiter gefordert, sich im Sinne einer aufrichtigen Völkerverständigung zwischen den ehemaligen Täter- und Opfergesellschaften zu engagieren.