Die ukrainische Offensive im Sommer und Herbst 2023 ist gescheitert. Es gab nur minimale Geländegewinne – bei enormen menschlichen Verlusten – und die durchschlagenden ukrainischen Erfolge von 2022 konnten nicht wiederholt werden. Der Oberkommandant der ukrainischen Armee, General Walerij Saluschnyj, räumte zuletzt ein, der Konflikt sei in eine Pattsituation geraten und inzwischen ein Stellungskrieg.
Zeitgleich rollt die nächste russische Gegenoffensive. Zwar kommen Moskaus Streitkräfte ebenfalls nur sehr langsam voran, doch die Zeit ist ein weiterer Feind für die Ukraine: Russland hat etwa das Vierfache der Bevölkerung der Ukraine sowie das Vierzehnfache ihres Bruttoinlandsprodukts. Das verschafft Moskau enorme Vorteile in diesem zu einem Zermürbungskrieg mutierten Konflikt. Die gravierenden Probleme in der US-amerikanischen und europäischen Rüstungsindustrie haben darüber hinaus dazu geführt, dass Russland weitaus mehr Granaten und Munition produziert, als die Ukraine vom Westen erhält.
Die Erfolge der Ukraine in den ersten Monaten des Krieges waren auf den Mut und die Entschlossenheit der ukrainischen Soldaten, einige besonders wirksame westliche Waffen und eine extrem schlechte russische Planung zurückzuführen. Außerdem konnte die Ukraine mehr Männer mobilisieren als Russland, weil Präsident Wladimir Putin zögerte, die Rekrutierung zu forcieren. Dieser einstige Vorteil hat sich nun aber ins Gegenteil verkehrt.
Wie die jüngsten politischen Entwicklungen im US-Kongress und in Europa zeigen, gibt es zudem keine Garantie dafür, dass die westliche Hilfe weiterhin in einem Umfang geleistet wird, der es der Ukraine ermöglicht, den Kampf erfolgreich fortzusetzen. Angesichts dieser Voraussetzungen gibt es keine realistische Aussicht, dass die Ukraine ihre derzeitige Position auf dem Schlachtfeld wesentlich verbessern können wird. Der Westen kann gegebenenfalls mehr Waffen liefern, aber er kann keine zusätzlichen ukrainischen Soldaten schaffen. Die Ukraine hat immer größere Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, während Russland seine Reserven abruft und die Verteidigungslinien in der Süd- und Ostukraine ständig verstärkt.
Die Stimmen im Westen, die weiterhin einen „absoluten“ ukrainischen Sieg fordern, werden immer verzweifelter.
Die Stimmen im Westen, die weiterhin einen „absoluten“ ukrainischen Sieg fordern, werden immer verzweifelter. Ein Beispiel dafür ist der Vorschlag amerikanischer Veteranen, dass die Ukraine mit zusätzlichen US-Raketen Russland durch reine Bombardierung irgendwie dazu zwingen könne, die Krim zu verlassen. Eine solche Vorstellung widerspricht allem, was in der gesamten Menschheitsgeschichte des Krieges gelernt wurde. Um ein solches Ziel nachhaltig zu erreichen, bräuchte die Ukraine des Weiteren umfangreiche Amphibienverbände, über die sie schlichtweg nicht verfügt.
Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen werden deshalb für die Ukraine immer dringlicher. Wenn die Kämpfe entlang der derzeitigen Frontlinien eingestellt würden, wären immerhin mehr als 80 Prozent der Ukraine völlig unabhängig von Russland (und erbittert mit Moskau verfeindet) und könnten ihr Bestes tun, um in die Europäische Union aufgenommen zu werden.
Angesichts der ursprünglichen Ziele, die der Kreml mit der Invasion im Jahr 2022 verfolgte, und der Geschichte der russischen Herrschaft über die Ukraine in den vergangenen 300 Jahren, wäre dies keine Niederlage für die Ukraine, sondern ganz im Gegenteil ein Sieg. Wenn der Krieg hingegen auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird, besteht die reale Gefahr, dass der ukrainische Widerstand zusammenbricht, sei es, weil schlicht und ergreifend die Mannstärke fehlt oder weil Russland mit seinen zusätzlichen Kräften erneut die Fronten in der Nordukraine eröffnen kann, von denen es sich im letzten Jahr zurückgezogen hatte – und die die Ukraine wohl nicht mehr verteidigen könnte.
Aus diesem Grund soll die US-Führung der ukrainischen Regierung insgeheim bereits geraten haben, Gespräche mit Russland aufzunehmen. Aus Sicht Kiews ist dies allerdings außerordentlich schwierig. Präsident Selenskyj und andere führende Beamte müssten ihre vorherigen Erklärungen revidieren, dass sie nicht mit Putin verhandeln und dass die einzige akzeptable Bedingung für ein (auch nur vorläufiges) Abkommen der vollständige Rückzug Russlands aus allen Gebieten ist, die seit 2014 besetzt wurden. Ultranationalistische Gruppen in der Ukraine setzen sich mit aller Macht gegen jeden Kompromiss ein. Darüber hinaus ist auch die russische Regierung derzeit nicht an einem vorläufigen Waffenstillstand interessiert, denn auch sie weiß, dass die Zeit für sie spielt.
Nur die US-Regierung kann ausreichend Druck auf die ukrainische Führung ausüben.
Unter diesen Umständen reicht es nicht aus, wenn Washington hinter den Kulissen auf Gespräche drängt, während öffentlich betont wird, nur die Ukraine könne einen Frieden aushandeln. Ebenso wäre es nicht klug, diplomatische Initiativen bis nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen in einem Jahr aufzuschieben, in der Hoffnung, dass sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die US-Hilfe so lange durchhalten und dass eine peinliche Kehrtwende mitten im Wahlkampf vermieden werden kann.
Möglicherweise hält die Ukraine nämlich nicht so lange durch, und ein großer russischer Erfolg, also die Eroberung von noch deutlich mehr ukrainischem Territorium, würde die Regierung Biden vor die Qual der Wahl stellen: eine ukrainische Niederlage hinnehmen, was eine große Demütigung für die USA und die NATO wäre, oder mit einer direkten Intervention drohen und einen Atomkrieg mit Russland riskieren.
Wie die Katastrophe in Israel und Gaza zeigt, ist es außerdem unvernünftig, darauf zu vertrauen, dass eine inhärent instabile Situation wie das amerikanisch-russische Tauziehen um die Ukraine langfristig ausgeglichen bleibt. Jederzeit könnte ein versehentlicher Zwischenfall (beispielsweise) zwischen russischen und den US-amerikanischen Luftstreitkräften über dem Schwarzen Meer zu einem dramatischen Anstieg der Spannungen führen und sogar einen Atomkrieg auslösen. Selbst wenn das Schlimmste verhindert werden würde, hätte eine solche Krise neben menschlichen Opfern auch verheerende Auswirkungen auf die Welt- und die US-Wirtschaft.
Die USA müssen sich daher aktiv in den Friedensprozess einbringen. Nur die US-Regierung kann ausreichend Druck auf die ukrainische Führung ausüben und gleichzeitig einigermaßen glaubwürdige Sicherheitsgarantien für die Zukunft bieten. Im Gegenzug kann auch nur die US-Regierung Moskau glaubhaft androhen, dass die massive US-Militär- und Wirtschaftshilfe für die Ukraine fortgesetzt wird – und gleichzeitig dem Kreml Kompromisse in Fragen anbieten, die für Russland von entscheidender Bedeutung sind.
Die derzeitige Richtung des Krieges führt in die Katastrophe.
Wenn Moskau an den Verhandlungstisch gebracht werden soll, während sich die militärische Situation doch gerade zu seinen Gunsten entwickelt, muss versichert werden, dass Washington bereit ist, ernsthaft über eine endgültige Regelung zu diskutieren, die die Neutralität der Ukraine (natürlich einschließlich internationaler Sicherheitsgarantien), gegenseitige Truppenbegrenzungen in Europa, die Aufhebung von Sanktionen und eine Form von umfassender europäischer Sicherheitsarchitektur beinhaltet, um die Gefahr weiterer Kriege in der Zukunft zu verringern.
Eine solche Vereinbarung zu initiieren, wird für die Regierung Biden angesichts ihrer wiederholten Siegesversprechen sowie ihrer Erklärungen, dass nur die Ukraine allein einen Frieden aushandeln könne, allerdings äußerst schwierig sein. Die US-Regierung wird daher Unterstützung von außen benötigen.
Die Biden-Administration sollte sich daher vertraulich an Indien, Brasilien und andere führende Länder des sogenannten „Globalen Südens“ wenden und sie bitten, sich gemeinsam für einen Waffenstillstand und Friedensgespräche stark zu machen. Washington selbst könnte dann mit Verweis auf den Willen der Mehrheit der Staaten Gespräche aufnehmen und hätte das Gesicht gewahrt. Zeitgleich könnte eine solche „Arbeitsteilung“ auch dazu beitragen, die katastrophalen Auswirkungen des Gaza-Krieges auf die Beziehungen der USA zum „Globalen Süden“ zu kompensieren. Darüber hinaus müssen die USA die Unterstützung der europäischen Verbündeten für ihre Friedensbemühungen gewinnen. Dafür dürften starke und glaubwürdige US-Bekenntnisse zur NATO notwendig sein.
Auch die Beteiligung Chinas wird für den Erfolg eines Friedensprozesses unerlässlich sein. Der chinesische Einfluss auf Moskau ist nicht zu vernachlässigen, wenn Russland davon überzeugt werden soll, seine Maximalziele in der Ukraine aufzugeben und einen Kompromissfrieden zu akzeptieren. Angesichts der gefährlich zunehmenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China würde eine solche Einladung Washingtons außerdem in Richtung Peking signalisieren, dass man gewillt ist, China als Partner und legitimen Akteur bei der Lösung globaler Probleme zu akzeptieren.
Das alles wird nicht einfach sein. In Washington dürfte die Versuchung groß sein, die Dinge schleifen zu lassen – in der Hoffnung, dass irgendetwas passiert, was die US-Diplomatie aus dem Schneider lässt. Eine solche Haltung wäre jedoch ein tragischer Fehler und ein Verrat an den grundlegenden Interessen der Ukraine und der USA selbst. Die derzeitige Richtung des Krieges führt in die Katastrophe. Nur die Vereinigten Staaten können diesen Kurs ändern, aber sie werden dafür viel Hilfe von ihren Freunden und Verbündeten brauchen.
Die englische Originalversion des Artikels erschien zuerst bei Responsible Statecraft.
Aus dem Englischen von Tim Steins