Noch hat die US-Regierung unter Joe Biden nicht einmal ihre politischen Prioritäten sortieren können – nach vier erratischen Trump-Jahren eine überaus notwendige Übung. Doch schon ist sie gezwungen, außenpolitisch Flagge zu zeigen. Jüngst der Krieg zwischen Israel und der Hamas, gleichzeitig der Abzug der Truppen aus Afghanistan, das komplizierte Verhältnis zu Russland, die gestörten Beziehungen innerhalb der NATO, die Empfindlichkeiten der deutschen Regierung wegen der Gaspipeline North Stream 2 – die Liste der außenpolitischen Baustellen ließe sich beliebig fortsetzen. Besonders wichtig aber scheinen die Beziehungen in Asien zu sein. Die einzigen Regierungschefs, die in Washington bisher persönlich mit Präsident Biden sprachen, waren der japanische Premierminister Yoshihide Sugo im April und am 21. Mai Südkoreas Präsident Moon Jae-in.
Präsident Moon drängt Präsident Biden, Verhandlungen mit Nordkorea aufzunehmen. Er hat bis zum Ende seiner Amtszeit 2022 nur noch wenig Zeit, sein zentrales Anliegen zu realisieren: die Beziehungen zu Nordkorea zu normalisieren. Voraussetzung für die Integration Nordkoreas in die internationale Gemeinschaft ist die Umwandlung des seit dem Ende des Koreakriegs im Jahr 1953 geltenden Waffenstillstands in einen Friedensvertrag. Die Beseitigung der Nuklearwaffen Nordkoreas hat auch für die Biden-Regierung Priorität. Doch bislang ist nicht klar erkennbar, wie diese Ziele und möglicherweise sogar die gegenseitige völkerrechtliche Anerkennung erreicht werden sollen.
Die in der Vergangenheit angewandten Konzepte haben den Aufstieg Nordkoreas zu einer Atommacht nicht verhindern können. In den 1990er Jahren war die Clinton-Regierung mit Verhandlungen weit vorangekommen, letztlich scheiterten sie jedoch an den unvereinbaren Interessen zwischen den USA und Nordkorea. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Nordkorea noch nicht über Atomsprengköpfe. In den 2000er Jahren versuchte es die Bush-Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Verhandlungsangeboten und Sanktionen. Aber auch dieser Versuch misslang, weil sich Nordkoreas Position aufgrund der schleppenden Verhandlungen und verschärften Sanktionen weiter verhärtete. Im Jahr 2008, am Ende der Regierungszeit Bush, hatte Nordkorea vermutlich Nuklearmaterial für vier bis sechs Sprengköpfe.
Bleibt abzuwarten, wie die Regierung Kim Jong-un in Pjöngjang reagiert. Washington gibt sich keinen Illusionen hin.
Die Obama-Regierung versuchte es mit „strategischer Stabilität“: nichts an den vorhandenen Verhältnissen ändern und mit Druck auf Nordkorea den Fortschritt des Raketen- und Atomprogramms zumindest eindämmen. Doch dies misslang: Am Ende der Amtszeit Obamas verfügte Nordkorea möglicherweise über 25 Atomsprengköpfe. Schließlich versuchte es Donald Trump mit öffentlichkeitswirksamen Fototerminen und seinen berühmten „Deals“. Auch dieser Versuch schlug kläglich fehl, obwohl Trump und Kim vereinbarten, die koreanische Halbinsel (also Nord- und Südkorea) zu denuklearisieren. Das Kommuniqué des Treffens war jedoch zu nebulös, um wirkliche Fortschritte zu erzielten. Nach Einschätzung von Experten verdoppelte Nordkorea sein Atomarsenal in den letzten vier Jahren auf bis zu 45 Atomsprengköpfe.
Präsident Biden kündigte beim jetzigen Besuch von Präsident Moon an, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Doch weder die gemeinsame Abschlusserklärung zum Treffen noch die im vergangenen Monat veröffentlichte Leitlinie der US-Nordkoreapolitik liefern einen eindeutigen Hinweis, wie diese in Zukunft aussehen soll. Ganz allgemein heißt es, man wolle „zurück zum diplomatischen Dialog“.
Offensichtlich lässt Präsident Biden seinem Amtskollegen aus Südkorea freie Hand, seinerseits – in enger Abstimmung mit den USA – zu einem „abgestimmten, praxisorientierten Schritt für Schritt-Ansatz der Diplomatie zu kommen. Bleibt abzuwarten, wie die Regierung Kim Jong-un in Pjöngjang reagiert. Washington gibt sich keinen Illusionen hin. Die ersten zarten Avancen der USA wies Kims einflussreiche Schwester Kim Yo-jong mit harschen und martialischen Reaktionen als unseriös zurück. „Macht gegen Macht und guter Wille gegen guten Willen“, ließ Nordkorea die USA in einer Mischung aus Warnung und Entgegenkommen wissen.
Für Südkoreas Präsident Moon ist Nordkoreas Nuklearprogramm eine Sache des Überlebens. Für Washington dagegen ist die Mobilisierung von Verbündeten gegenüber China am wichtigsten.
Präsident Biden wäre bereit, Nordkoreas Präsidenten Kim zu treffen, wenn sich Nordkorea zu ernsthaften Verpflichtungen bereitfände. Aber was sind ernsthafte Verpflichtungen? Geht es wieder um Vorbedingungen? Einen Tag nach dem Treffen in Washington vermeldete die offizielle Nordkoreanische Nachrichten Agentur (KNCA) den Bau einer neuen Kimchi-Fabrik, die Eröffnung eines Agitpropzentrums und auch die Errichtung von Wohnungen in Pjöngjang. Auf das Treffen zwischen Biden und Moon hat Nordkorea bislang dagegen nicht reagiert. Aufgrund der Covid-19-Pandemie hat Nordkorea sich immer mehr abgeschottet und ist noch isolierter, als es aufgrund der Sanktionen ohnehin schon seit Langem war.
Während für Südkoreas Präsident Moon Nordkoreas Nuklearprogramm „eine Sache des Überlebens“ ist, verfolgt Washington eine Reihe weiterer außen- und wirtschaftspolitischer Interessen in Asien. Am Wichtigsten scheint in Washington die Mobilisierung von Verbündeten gegenüber China zu sein. Jüngst reaktivierten die USA, Japan, Australien und Indien den seit 2007 bestehenden, in der Zwischenzeit etwas vernachlässigten, sogenannten Quad-Sicherheitsdialog.
Während zwischen den Quad-Partnerländern deutliche Übereinstimmung angesichts Chinas aggressiver Außen- und Sicherheitspolitik besteht, wird diese Befürchtung in Südkorea nicht rückhaltlos geteilt. Denn China ist Südkoreas wichtigster Handelspartner, und die südkoreanische Regierung glaubt zu Recht, dass die Lösung des nordkoreanischen Atomprogramms nicht ohne Chinas tätige Unterstützung möglich ist. Mit Rücksicht auf China hält sich Südkoreas Regierung an drei Tabus: erstens, keine Teilnahme an der Quad-Initiative. Aus dem Quartett wird also kein Quintett. Zweitens bejaht sie zwar die US-südkoreanische Militärallianz, möchte aber keine Militärallianz unter Einbezug Japans. Das Verhältnis zwischen Südkorea und Japan ist seit der japanischen Kolonisierung Koreas erheblich belastet. Trotz mancher Annäherungsversuche verschlechterten sich zuletzt die japanisch-koreanischen Beziehungen sogar. Das dritte Tabu betrifft den Ausbau des amerikanischen Raketenabwehrsystems THAAD (Terminal High Altitude Area Defense), das von Südkoreas vorheriger Regierung akzeptiert wurde, aber von Beijing als Provokation betrachtet wird. Die aktuelle Regierung treibt den Ausbau nicht weiter voran.
Wird weiterhin die Position des „alles oder nichts“ zur Beseitigung der nordkoreanischen Atomwaffen vertreten oder stattdessen Nordkorea gar als de-facto Nuklearmacht informell anerkannt?
Werden die USA eine vorsichtige diplomatische Initiative unter Einbezug Chinas und Südkoreas mit Kim Jong-un wagen – trotz der vorhandenen amerikanisch-chinesischen Spannungen? Und wird die amerikanische Regierung zunächst die zu erwartenden Provokationen aus Pjöngjang ignorieren, um mit langem Atem weiter zu verhandeln? Wird weiterhin die Position des „alles oder nichts“ zur Beseitigung der nordkoreanischen Atomwaffen vertreten oder stattdessen Nordkorea gar als de-facto Nuklearmacht informell anerkannt? Oder wird ein gradueller Weg zur Annäherung möglich sein? Wie umgehen mit einem Regime, das fast sämtliche diplomatische Gepflogenheiten missachtet und auch vor dem Bruch des Völkerrechts nicht zurückschreckt?
Noch ist die außenpolitische Strategie Washingtons alles andere als klar und geradlinig. Präsident Biden posaunt zwar nicht das einfache „Für“-oder-„gegen“-mich so offen hinaus, wie dies unter Trump geschah. Die außenpolitische Maxime ist aber offensichtlich doch, Verbündete gegen China zu mobilisieren. So kommt es in Asien für die USA zu einem Balanceakt, weil sich manche Ziele nur in Kooperation und nicht in Konfrontation zu China realisieren lassen. Und auch Südkorea setzt zu einem Seiltanz an, dessen Ausgang angesichts der noch nicht klar erkennbaren außenpolitischen Strategie in Washington offen ist.