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Europa wird von einer Waffe bedroht, die ein Fachmann in Berlin jüngst mit Streubomben verglich. In der Vergangenheit wurde sie fast nie auf uns gerichtet, so dass wir Europäer ihren flächendeckenden Zerstörungen nichts entgegenzusetzen haben, schließlich mussten wir damit bisher nicht rechnen. Nicht nur das: Sogar die Logik, nach der die Waffe eingesetzt wird, ist uns fremd. Wir können uns eigentlich immer noch nicht so richtig vorstellen, warum uns jemand derart angreifen würde.
Das klingt nach Science Fiction oder längst vergangenen Zeiten – ist aber in geoökonomischer Hinsicht die bittere Realität. Denn der globale Wirtschaftskrieg sucht zunehmend auch Europa heim und beeinträchtigt unseren Wohlstand. Charakteristisch für ihn ist, dass große Mächte zwischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik nicht unterscheiden – und ihre Wirtschaftskraft strategisch für Einflussgewinn und Dominanz anderer im Sinne ihrer „Grand Strategy“ einsetzen. Auch andersherum lassen sie ihre Vormachtstellung etwa beim Militär rücksichtslos so spielen, dass für sie der größtmögliche wirtschaftliche Erfolg herauskommt.
Das regelbasierte, multilaterale System, in dem sich Europas Interessen recht gut wahren ließen, geht zunehmend in einen bipolaren Großmachtwettbewerb zwischen Amerika und China über. Weil beide Länder aktuell zum Glück bevorzugen, keinen militärischen Krieg gegeneinander zu führen, verlagert sich die Auseinandersetzung in einen Wirtschaftskrieg. Besonders bitter für Europa: Statt die internationale Ordnung und ihre Institutionen gemeinschaftlich zu reformieren und zusammen gegen unfaire Praktiken vorzugehen, verhalten sich die Amerikaner auch uns gegenüber in wirtschaftlicher Hinsicht eher wie Gegner denn wie Freunde.
Ausgerechnet die USA haben Deutschland und Europa gezeigt, wie Großmächte uns heute erpressen können: Entweder ihr macht das, was wir machtpolitisch wollen, oder ihr habt große wirtschaftliche Kosten.
Und Europa? Europa ist besonders verwundbar, weil wir so nicht denken wollen und weil wir die Instrumente nicht haben, um uns effektiv zu schützen. Ausgerechnet die USA haben Deutschland und Europa gezeigt, wie Großmächte uns heute erpressen können: Entweder ihr macht das, was wir machtpolitisch wollen, oder ihr habt große wirtschaftliche Kosten. So richtet sich die wirtschaftliche Streubombe – die sogenannte Sekundarsanktion, die breitflächig alle trifft, ob Freund oder Feind – nun auch auf uns. Seit ihrem Aussteig aus dem Atomabkommen mit Iran 2018 drohen die USA europäischen Unternehmen, sie verlören ihren Marktzugang in Amerika, wenn sie weiter mit Iran Handel treiben. Sie nutzen die Vormacht des US-Dollars, um zu bestimmen, mit wem Deutsche Handel treiben.
Das Gefährliche für die deutsche Wirtschaft und unseren Wohlstand liegt dabei aber nicht im Verlust des Iran-Geschäfts. Bislang ist der Schaden vor allem außenpolitisch und rüstungspolitisch – und das erklärt (leider), warum die Bundesregierung bislang nicht entschieden genug unsere Interessen schützt. Aber die Handlungen der Trump-Administration könnten als Blaupause für künftige Meinungsverschiedenheiten und vor allem für andere Mächte – etwa China und Russland – dienen, die nun alle gesehen haben, dass sich Europa angesichts einer aggressiven Sanktionspolitik nicht effektiv schützen kann. In einigen Jahren könnte Peking Deutschland signalisieren: Entweder ihr sagt nichts gegen unsere strategischen Firmenübernahmen, zu Menschenrechtsfragen und Gebietsansprüchen – oder eure Unternehmen müssen dran glauben.
Es greift deshalb zu kurz, angesichts der ‚Streubomben‘ einfach abzuwarten, bis vielleicht bald eine neue Regierung in Washington an der Macht ist. Längst bedienen sich auch schon der US-Kongress und die Demokraten des Machtinstruments der Sekundarsanktionen. Ein parteiübergreifender Text könnte Anfang Dezember Gesetz werden, der deutsche Unternehmen für ihre Beteiligung an Handelsaktivitäten mit Russland sanktionieren soll. Man stelle sich vor, welche Signalwirkung eine solche Entscheidung hätte – das Risiko für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand erhöhte sich deutlich. Wir haben am European Council on Foreign Relations die Auswirkungen von US-Sekundarsanktionen auf unseren Handel mit Russland oder China beispielhaft analysiert. Ein Handelsvolumen von bis zu 191 Milliarden Euro mit Russland könnte für Europa im Jahr betroffen sein, wenn Washington gegen uns so vorginge wie im Fall Iran. Beim Handel mit China ist gar bis zu einer Milliarde Euro am Tag gefährdet. Deutschland wäre in beiden Fällen besonders betroffen.
Das Repertoire unserer Politik zum Schutz vor Sekundarsanktionen sollte Kompensation, Umgehung und Gegenmaßnahmen umfassen.
Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner sind für eine solche Situation kaum vorbereitet. Als Donald Trump androhte, Zölle gegen unsere Autokonzerne zu verhängen hatten wir ihm mit umfangreichen Gegenzöllen etwas entgegenzusetzen – und konnten VW, Daimler und Co. bis heute schützen. Geht es um Sanktionen, fehlen uns an allen Ecken und Enden die Kompetenzen und Instrumente.
Wie könnten wir uns also besser schützen?
Das Repertoire unserer Politik zum Schutz vor Sekundarsanktionen sollte Kompensation, Umgehung und Gegenmaßnahmen umfassen.
Kompensation
Zusammen mit ihren europäischen Partnern sollte die Bundesregierung einen Kompensations- und Solidaritätsmechanismus aufbauen, um die Kosten im Zusammenhang mit Sanktionen und Sekundarsanktionen gleichmäßiger zu schultern. Schon nach dem US-Ausstieg aus dem Iran-Atomabkommen gab es Vorschläge, Unternehmen, die die europäische Blocking Regulation befolgen, Kompensationen zu zahlen. Die Regulation verbietet es europäischen Akteuren, US-Sanktionen Folge zu leisten.
Oft entstehen besonders hohe Kosten im Zusammenhang mit Sekundarsanktionen und Schutz vor diesen für bestimmte Wirtschaftssektoren oder bestimmte Länder der Europäischen Union. Ein Kompensationsmechanismus könnte für Ausgleich sorgen – und so auch politisch sicherstellen, dass die EU geschlossener agieren kann.
Um den Mechanismus schlagkräftig zu machen sollte der Staat bedeutende finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, doch die Bundesrepublik oder auch Europa können unsere Unternehmen nicht annähernd vollständig für Verluste durch Ausschluss vom amerikanischen oder chinesischen Markt kompensieren. Deshalb muss der Mechanismus eine bedeutende Versicherungskomponente haben – Unternehmen zahlen selbst ein, um sich gegenüber dem politischen Risiko der Sekundarsanktionen besser (wenn auch nicht umfassend) abzusichern.
Umgehung
Des Weiteren sollte Berlin zusammen mit seinen Partnern möglichst schnell beweisen, dass das neue Zahlungsvehikel INSTEX, mit dem bei bestimmten Transaktionen mit Iran das Dollar-System und damit US-Sanktionen umgangen werden, tatsächlich funktioniert. Wir brauchen es als Teil einer breiteren Strategie, mehr Handel in Euro statt in Dollar abzuwickeln und um anderen zu signalisieren, dass sie bei Missbrauch ihrer beherrschenden Stellung diese langfristig riskieren.
INSTEX ist ein heikles und schwieriges Thema – gerade weil die USA vor kurzem auch entschieden haben, die iranische Zentralbank, die ein möglicher Partner für die INSTEX-Transaktionen wäre, direkt mit Sanktionen zu belegen. Es ist wichtig, dass Europa unter Beweis stellt, dass es sich dabei nicht nur um einen Papiertiger handelt.
Gleichzeitig rücken deshalb andere mögliche Maßnahmen in den Mittelpunkt. Um europäischem Recht Geltung zu verschaffen, könnten in Europa Untersuchungen eingeleitet werden gegen Unternehmen, die im Verdacht stehen, die EU-Blocking-Regulation zu missachten.
Gegenmaßnahmen
Kurzfristig sind weder kompensatorische noch Sanktionen umgehende Maßnahmen besonders aussichtsreich, denn es braucht Zeit, sie effektiv aufzubauen. Zudem ist die Vormacht des Dollars ein struktureller Faktor, der sich auf kurze Frist nicht ändern wird. Umso mehr bräuchten wir in Deutschland und Europa eine langfristige Strategie, um unsere Sanktionsresilienz systematisch zu vergrößern.
Gleichzeitig kann und sollte die Bundesregierung schon heute nicht-europäischen Politikern klarmachen, dass es sich wirtschaftlich und politisch nicht lohnt, europäische Unternehmen mit Sanktionen zu belegen. Wie die europäische Kommission Listen mit möglichen Gegenzöllen veröffentlichte und so Trump von Autozöllen abhielt, muss Europa einen Mechanismus aufbauen, der schnell und glaubwürdig greift, wenn europäischen Unternehmen aus politischen Gründen der Marktzugang verwehrt wird oder ihre Vorstände bedroht werden. Konkret heißt das: Angesichts drohender Sanktionen identifiziert die EU Marktsektoren, in denen die USA, China oder andere asymmetrisch von Europa abhängen, und Personen, die in diesen Sektoren tätig sind, sowie ausländische Vermögenswerte, die sich in Europa befinden. Käme es zu Sanktionen gegen unsere Unternehmen, so würden wir innerhalb kurzer Zeit mit Gegenmaßnahmen gegen diese Entitäten reagieren. In den meisten Fällen wird es schon reichen, dass wir glaubwürdig zeigen, was wir tun könnten und würden. Idealerweise entscheiden sich dann andere Akteure gar nicht erst, europäische Unternehmen zu bestrafen.
Für all dies bräuchten wir eine europäische Antwort auf die amerikanische OFAC-Agentur. OFAC ist im Washingtoner Finanzministerium die mächtige Abteilung, die für amerikanische Sanktionspolitik zuständig ist. Sie hätte in Europa ein paar andere Kompetenzen und einen anderen Zweck, deshalb könnten wir sie etwa „European Agency for Protection against Economic Coercion“ nennen. Eine solche europäische Antwort könnte die möglichen Gegenmaßnahmen deutlich machen, indem sie Wirtschafts- und Sicherheitspolitiker – also Außenhandelsanalyse und Geostrategie – zusammenführt und eine echt geoökonomische Reaktion vorschlägt. Je mehr die Agentur dabei direkt und unabhängig implementieren kann, desto glaubhafter ist Europa als Akteur. In einem ersten Schritt wird aber der EU-Rat über die Gegenmaßnahmen abstimmen müssen.
Dies alles erfordert, dass wir in Deutschland und Europa anfangen, Wirtschaftspolitik und Geopolitik als Teil derselben Sphäre aufzufassen.
Dies alles erfordert, dass wir in Deutschland und Europa anfangen, Wirtschaftspolitik und Geopolitik als Teil derselben Sphäre aufzufassen. Das Auswärtige Amt, das in der Bundesregierung die am stärksten internationale und geopolitische Perspektive hat, verfügt nicht über die wirtschaftspolitischen Instrumente, die man aus geopolitischer Sicht einsetzen müsste. Die Europäische Union ist wirtschaftspolitisch ein international starker Akteur, aber es fehlt ihr – auch der neuen „geopolitischen“ Kommission unter Ursula von der Leyen – die geopolitische und außenpolitische Kompetenz.
Neben den Maßnahmen auf europäischer Ebene braucht auch die Bundesregierung eine zentrale Stelle, die Außen- und Wirtschaftspolitik viel mehr als bisher zusammenführt. Für eine strategisch geführte Sanktionspolitik und Politik der „economic statecraft“ könnte die Bundesregierung einen Beauftragten für „economic statecraft“ im Kanzleramt einsetzen, dessen Team die verschieden Fachleute zusammenbringt.
Es braucht aber auch einen Mentalitätswechsel, besonders der politischen Entscheidungsträger. In Berlin, Frankfurt oder auch Brüssel hört man weiterhin oft, dass die Bundesregierung oder die EU sich nicht in die Entscheidungen wirtschaftlicher Akteure einmischen könnten.
Das ist paradox. Wir würden stattdessen argumentieren, dass es keineswegs besser ist, wenn sich die amerikanische oder chinesische Regierung relativ problemlos in diese Entscheidungsprozesse einmischen können. Doch es fehlt der politische Wille, wirklich etwas zu ändern. Vielleicht auch, weil man meint, der Schaden sei noch begrenzt und es werde alles schon nicht so schlimm.
Dabei ignorieren viele, dass die Vereinigten Staaten bereits die nächsten Strafmaßnahmen vorbereiten: Anfang Dezember könnte der Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA) – von sowohl Republikanern als auch Demokraten unterstützt – Unternehmen und ihre Vorstände sanktionieren, die am Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 beteiligt sind. Reagiert Berlin auch dann kaum, würde das zu weiteren solcher Maßnahmen gegen Deutschland einladen. Das Thema Nord Stream ist schwierig. Aber vielleicht werden Entscheidungen über unseren Handel künftig sowieso nicht mehr in Deutschland oder Europa getroffen.