Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert eine tiefe Zäsur: Das Ende einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung, in der nach dem Ende des Kalten Kriegs zuallererst für die Förderung von Stabilität und Frieden in der Welt, nicht für die Verteidigung der europäischen Sicherheit geplant wurde.

Deutschland hat in Reaktion auf den russischen Angriff einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der ein auch international sichtbares Signal für eine neue deutsche Sicherheitspolitik setzt. Deutschland liefert Waffen an die Ukraine, erhöht den Verteidigungsetat, setzt ein Sondervermögen für die Bundeswehr ein und unterstützt den Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeiten.

Jenseits dieser konkreten verteidigungspolitischen Initiativen – deren praktische Relevanz sich erst in der Umsetzung zeigen wird – steht Deutschland vor einer Neubestimmung grundlegender Prämissen seiner Außenpolitik. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 standen sie unter Beschuss, jetzt sind die klassischen Koordinaten deutscher Politik gegenüber Russland zerstört. Dazu zählt neben der vertieften Wirtschaftskooperation und dem Aufbau enger zivilgesellschaftlicher Beziehungen auch der politische Dialog mit Russland. Die deutsche Außenpolitik steht heute vor dem Scherbenhaufen der Politik kooperativer und gemeinsamer Sicherheit in Europa.

Spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 standen sie unter Beschuss, jetzt sind die klassischen Koordinaten deutscher Politik gegenüber Russland zerstört.

Auf der internationalen Ebene spiegelt sich diese Entwicklung in der seit geraumer Zeit beobachtbaren Erosion der regelbasierten internationalen Weltordnung. Endgültig ins Rampenlicht gerückt wurde die Krise der liberalen Friedensordnung der Nachkriegszeit durch den zynischen Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine parallel zu einer laufenden Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Ukrainekrise.

Die Grundannahmen der liberalen Friedensordnung waren bereits seit geraumer Zeit weltweit zunehmend unter Druck geraten: von der Stärke des Rechts auszugehen, nicht vom Recht des Stärkeren; die Fähigkeit internationaler Institutionen, globale Probleme kooperativ zu bearbeiten; der Freihandel sowohl als Motor wirtschaftlicher Entwicklung als auch als Weg zum Frieden. In schneller Folge führten die Krim-Annexion, die Handlungsunfähigkeit der internationalen Gemeinschaft im Syrien-Krieg, der britische Ausstieg aus der EU und der globale Aufstieg populistischer Kräfte zum Abgesang auf diese Ordnung oder zumindest zur Anerkennung ihrer tiefen Krise.

Heute leben wir in einem Interregnum, einer Zwischenzeit, in der – wie Antonio Gramsci es für die 1920er und 1930er argumentierte – die Krise darin besteht, dass „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“. Die alte Ordnung wird durch existenzielle Probleme herausgefordert, die in ihrem Rahmen nicht mehr gelöst werden können. Aber es ist noch keine neue hegemoniale Ordnung entstanden. Die bisherige Entwicklung deutet darauf hin, dass diese neue Ordnung im Plural geschrieben werden wird. Dass also eine Welt mit mehreren Ordnungen entstehen wird, in der die liberale Ordnung fortbestehen, vielleicht sogar intern gestärkt werden kann, aber ihre globale Reichweite der Vergangenheit angehören wird.

Wir leben in einem Interregnum: Die alte Ordnung wird durch existenzielle Probleme herausgefordert, die in ihrem Rahmen nicht mehr gelöst werden können. Aber es ist noch keine neue hegemoniale Ordnung entstanden.

Die Invasion der Ukraine stellt einen Wendepunkt dar, der diese Entwicklung beschleunigen kann. Es ist noch zu früh für die Entwicklung von Szenarien für diese Welt. Aber bereits jetzt ist deutlich geworden, dass Deutschland sich in dieser Welt außen- und sicherheitspolitisch neu orientieren wird. Ob die Regierungserklärung von Olaf Scholz eine Zeitenwende in der Praxis deutscher Außen- und Sicherheitspolitik einläutet, ist noch offen. Klar ist aber, dass wir schon länger in einer Zwischenzeit und einer Umbruchphase leben, in der außen- und sicherheitspolitisch vielfältig die Weichen neu gestellt werden müssen. Welchen Fragen muss sich außenpolitisches Handeln hier stellen?

Eine erste Frage hat die Regierungserklärung von Olaf Scholz zum Ukraine-Krieg vorläufig beantwortet: Wie soll die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auf die russische Invasion reagieren? Zumindest kurzfristig soll nun mehr in die Sicherheit Deutschlands investiert und eine leistungsfähige Bundeswehr geschaffen werden. Die tatsächliche Reichweite dieser primär verteidigungspolitischen Richtungsänderung wird sich erst in ihrer Implementierung entscheiden. Denn eine Reform einer Bundeswehr in desolatem Zustand steht schon lange auf der Agenda. Insbesondere ein radikaler Umbau ihres Beschaffungswesens ist – wie hinlänglich bekannt – seit langem notwendig. Denn auch das neu geschaffene Sondervermögen für den Ausbau der Bundeswehr wird wenig nutzen, wenn nicht die Organisation verbessert und die Absorptionsgrenze des Beschaffungssystems erhöht wird.

Gerade die Planung für kollektive Verteidigung stand allerdings lange nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Anzahl zwischenstaatlicher Kriege war über Jahrzehnte massiv rückläufig. Viele Einsätze der Bundeswehr konzentrierten sich stattdessen auf Stabilisierung und Friedenssicherung in innerstaatlichen Konflikten im Ausland. Auch diese Zeit ist seit dem katastrophalen Scheitern des Afghanistaneinsatzes im vergangenen Jahr und den aktuellen großen Problemen im Einsatz in Mali vorbei. Dass diese notwendige Reform und Ausrüstung der Bundeswehr durch enge parlamentarische Kontrollen begleitet werden muss, liegt bei einer Parlamentsarmee auf der Hand.

Es wird eine Welt mit mehreren Ordnungen entstehen, in der die liberale Ordnung fortbestehen, vielleicht sogar intern gestärkt werden kann, aber ihre globale Reichweite der Vergangenheit angehören wird.

Eine zweite Frage geht über die Stärkung der defensiven Fähigkeiten Deutschlands deutlich hinaus: Wie können wir für die vielfach miteinander verflochtenen zentralen Herausforderungen unserer Zeit planen? Eine Zeitenwende nur im Feld der Verteidigungspolitik auszurufen, reicht bei weitem nicht aus. Deutsche Außenpolitik muss dem Impuls widerstehen, zurückzugehen in eine alte Zeit. Der Ukrainekrieg gründet zwar auf einem alten Konflikt – aber in einer neuen Zeit.

Wir befinden uns in einer Zeit multipler und sich überlagernder Krisen und Katastrophen, nicht in einem singulären Konflikt, sondern in Krisenlandschaften – oder gar in einer Polykrise. Wir leben auf einem Planeten, dessen Belastungsgrenzen erreicht und zunehmend überschritten werden. Und wir haben es vielfach mit komplexen Problemen und höchst ungewissen Lösungspfaden zu tun – also mit sogenannten wicked problems, die durch politisches Handeln nur schwer zu beeinflussen sind.

Deutsche Außenpolitik kann nicht in einem dezisionistischen Hieb zukünftig auf nur eine dieser Krisen fokussieren, sei sie auch noch so akut und gefährlich. Wir müssen lernen, in komplexen Krisenlandschaften zu leben, ohne die Komplexität dieser neuen Welt auf unzulässige Weise zu reduzieren. Hierfür müssen wir verstehen, dass diese Krisen vielfach und eng miteinander verbunden und letztendlich notwendig nur durch globale Kooperation zu bewältigen sind. Und wir müssen eine zunehmend paradoxe Welt akzeptieren, die – wie es ja auch die Pandemie hinlänglich gezeigt hat – gleichzeitig von Konnektivität und von einer Unterbrechung dieser Verbindungen bestimmt sein wird.

Viel offensiver als bislang muss Europa seine Gegenerzählung, seinen politischen und gesellschaftlichen Gegenentwurf zu den erstarkten autoritären Regimen in seiner Nachbarschaft – und auch in seiner Mitte – kommunizieren.

Eine dritte Frage folgt aus dieser Analyse: Mit wem soll die deutsche Politik den nun kommenden Weg beschreiten? Der Ukrainekrieg ist ein Krieg in Europa. Die deutsche Außenpolitik muss in der ausgerufenen Zeitenwende endlich ihren europäischen Reflex stärken. Nach den langen Jahren der reinen Verwaltung des großen Projekts der europäischen Integration muss die EU jetzt den Ukrainekrieg zu einem Wendepunkt machen – und Russland damit die Möglichkeit nehmen, Europa in seinem Sinne neu zu ordnen. Das europäische Friedensprojekt muss geschützt werden – und dafür muss Europa zwingend enger zusammenwachsen.

Unterstützt und angetrieben durch die deutsche Außenpolitik braucht auch die Entwicklung der EU mehr als Verteidigungspolitik. Viel offensiver als bislang muss Europa seine Gegenerzählung, seinen politischen und gesellschaftlichen Gegenentwurf zu den erstarkten autoritären Regimen in seiner Nachbarschaft – und auch in seiner Mitte – kommunizieren. Viel dringender als bisher brauchen wir nun Entscheidungen für eine Ever Closer Union. Der deutsche Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik kann sich nur innerhalb der Gemeinschaft europäischer Staaten vollziehen – und muss diese daher schützen und stärken.