Europa und die Vereinigten Staaten sind drauf und dran, in den internationalen Beziehungen nach Jahrzehnten des Konsenses verschiedene Wege einzuschlagen. Die NATO ist seit 1949 die wichtigste Konstante der globalen Sicherheitsarchitektur. Das ursprünglich zwischen den USA, Kanada und zehn westeuropäischen Ländern geschlossene Bündnis gewann den Kalten Krieg und dehnte sich anschließend auf fast ganz Europa aus. Es ist die erfolgreichste Verteidigungsallianz der modernen Weltgeschichte. 2025 könnte sie indes zusammenbrechen.

Schuld daran wäre die tiefe Kluft, die sich zwischen dem populistischen Flügel der Republikanischen Partei in den USA – der von Donald Trump angeführt wird, derzeit jedoch klar die Parteimehrheit stellt – und den existenziellen Sicherheitsinteressen weiter Teile Europas auftut. Der unmittelbare Auslöser für den NATO-Zusammenbruch könnte der Krieg in der Ukraine sein. Wenn in einer der beiden großen politischen Parteien der USA das dominierende Lager nicht einsieht, warum man einem demokratisch orientierten Land beim Zurückschlagen der russischen Invasion helfen sollte, so lässt das darauf schließen, dass sich das Zentrum des politischen Spektrums verschoben hat und die USA für Europa kein verlässlicher Bündnispartner mehr sind. Die Europäer sollten sich entsprechend wappnen.

In den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass Trumps russlandfreundliche und NATO-feindliche Haltung in der republikanischen Politik kein kurzes Intermezzo war. Vielmehr ist der Argwohn gegenüber einer US-Beteiligung an der militärischen Unterstützung der Ukraine im populistischen Herzen der Partei mittlerweile tief verankert. In der Präsidentschaftsdebatte der Republikaner sprachen sich Ron DeSantis und Vivek Ramaswamy – die beiden Kandidaten, die besonders die neue trumpistische Basis ansprechen – kürzlich gegen mehr Hilfen für die Ukraine aus. DeSantis klang dabei noch eher zurückhaltend: Er versprach, weitere Unterstützung von einem größeren Engagement Europas abhängig zu machen, und erklärte, er würde lieber Soldaten an die US-mexikanische Grenze schicken.

Ramaswamys Ton war schärfer: Er bezeichnete die aktuelle Situation als „katastrophal“ und forderte die vollständige und sofortige Einstellung der US-Hilfen für die Ukraine. Ramaswamy ging später sogar noch weiter, indem er im Grunde erklärte, man könne die Ukraine zerstückeln und Wladimir Putin weite Teile des Landes überlassen. Trump nahm zwar an der Debatte nicht teil, hatte aber bereits zuvor das Interesse der USA an einem Sieg der Ukraine kleingeredet. Er scheint territoriale Zugeständnisse der Ukraine an Russland zu befürworten. Trump, DeSantis und Ramaswamy umwerben jeweils dieselben Wählerinnen und Wähler, die laut Umfragen etwa drei Viertel der republikanischen Wählerschaft ausmachen.

Sollte Putin große Teile der Ukraine behalten, würde daraus kein Frieden erwachsen.

Ein wichtiger Stimmungsmesser ist auch die Heritage Foundation, ein bekannter konservativer Thinktank, der schon seit den Reagan-Jahren in den politischen Zirkeln der Grand Old Party sehr viel Einfluss hat. Vor der großangelegten russischen Invasion im Februar 2022 vertrat die Heritage Foundation einen harten Kurs gegen Russland und veröffentlichte sogar einen Aufruf zur Aufnahme der Ukraine in die NATO. In jüngster Zeit fordern Vertreter der Stiftung, die Hilfe einzustellen, bis die Biden-Regierung einen Plan zur Beendigung des Krieges vorlegt – ein Ding der Unmöglichkeit, sofern Russland nicht zustimmt. Einige rechte Demagogen stellen sich noch offener auf Putins Seite. So erklärte Talkshow-Moderator Tucker Carlson im August in Budapest die ablehnende Haltung gegenüber Russland in den USA mit antichristlichen Vorurteilen.

Solche Behauptungen sind nicht zuletzt deshalb lachhaft, weil in kaum einer Gesellschaft der Welt die Religion weniger zählt als in Russland. Die zunehmende Ablehnung von Militärhilfen für die Ukraine in der amerikanischen Rechten stellt die Zukunft der NATO massiv infrage. Die europäischen Staaten bewegen sich unterdessen in die entgegengesetzte Richtung. Da sich Beweise für russische Gräueltaten in der Ukraine häufen und Russland zu praktisch jedem Verbrechen bereit ist, um das Staatsgebiet (und die Menschen) seines Nachbarlandes zu erobern, sehen viele europäische Staaten (insbesondere Russlands Nachbarn im Westen) ihre Zukunft durch den Krieg unmittelbar gefährdet. Sollte Putin große Teile der Ukraine behalten, würde daraus kein Frieden erwachsen, sondern eine Art Dauerkrieg, in dem ein revanchistisches Russland bewiesen hätte, dass es seinen Nachbarn Land entreißen kann.

Auch wenn Joe Biden die Wiederwahl gelingt, könnte eine republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus, im Senat oder in beiden Kammern die Unterstützung der USA für die Ukraine erheblich schwächen. Und falls Trump oder einer seiner Nachahmer Präsident wird, dürfte sich Europa mit einer neuen US-Regierung konfrontiert sehen, die jegliche Militärhilfe für die Ukraine einstellt. Mit einem solchen Schritt würden die USA selbst langfristig Freiheit und Stabilität in Europa behindern. Das atlantische Bündnis würde zerbrechen, und darauf sind die europäischen Staaten nicht vorbereitet.

Tatsächlich hat sich Europa in Sicherheitsfragen jahrzehntelang weitgehend hinter den USA versteckt. Für die Amerikaner war das vorteilhaft, weil sie ihre Führungsrolle im wichtigsten strategischen Bündnis der Welt auf diese Art behaupten konnten. Die europäischen Staaten wiederum konnten weniger Geld für ihre Verteidigung ausgeben, als es ansonsten nötig gewesen wäre. Als Folge dieser Diskrepanz erreicht Europa für sich genommen weder das Spektrum noch den Umfang der militärischen Fähigkeiten der USA.

Sollten die Vereinigten Staaten die Ukraine in eineinhalb Jahren einfach im Stich lassen, könnte Europa die ausbleibende Hilfe keinesfalls ersetzen.

Die Militärhilfen an die Ukraine verdeutlichen den Unterschied zwischen beiden Seiten. Im Laufe des vergangenen Jahres haben die europäischen Staats- und Regierungschefs nachdrücklicher als Washington gefordert, leistungsstarkes und modernes Gerät nach Kiew zu schicken, konnten jedoch, weil sie auf europäische Systeme angewiesen waren, nicht ausreichend liefern. Großbritannien und Frankreich stellten Langstrecken-Marschflugkörper bereit – in Großbritannien als Storm Shadow und in Frankreich als SCALP bekannt –, die sie gemeinsam entwickelt haben, doch die beiden Länder können wesentlich weniger militärisches Gerät entbehren als die USA. Der Großteil der Militärhilfe kam aus den Vereinigten Staaten, allerdings war die Biden-Regierung zurückhaltend mit dem Transfer moderneren Materials wie der Abrams-Panzer (die auf den Schlachtfeldern der Ukraine noch nicht aufgetaucht sind), F-16-Kampfjets (die erst 2024 eingesetzt werden können) und des Kurzstrecken-Raketensystems ATACMS (für dessen Nicht-Lieferung die Regierung weiterhin fadenscheinige Argumente findet).

Da sich in der Republikanischen Partei die pro-russische und anti-ukrainische Position verfestigt, müssen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs darauf einstellen, in der Militärhilfe den größten Teil selbst zu stemmen, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn Europa müsste seine Produktionskapazitäten für Munition und anderes wichtiges militärisches Material sowie für moderne Systeme wie Langstreckenraketen ausbauen.

Sollten die Vereinigten Staaten die Ukraine in eineinhalb Jahren einfach im Stich lassen, könnte Europa die ausbleibende Hilfe keinesfalls ersetzen. Die europäischen Regierungen müssten Wege finden, den Rückzug der USA abzufedern. Dafür wäre Fingerspitzengefühl und Geschick notwendig – und die Vorbereitungen müssten bald beginnen. Die Militärverantwortlichen in Europa müssen ihre ukrainischen Amtskollegen in aller Stille fragen, was sie brauchen und was die Europäer liefern können, falls die Hilfe aus den USA ausbleibt. Zudem müssten sie ihre Produktion entsprechend hochfahren. Im Zuge einer solchen Planung sollten die Verantwortlichen auch darüber nachdenken, wie sie Europa allein gegen einen russischen Angriff verteidigen könnten.

Die europäischen Regierungen müssten Wege finden, den Rückzug der USA abzufedern.

Seit Jahren diskutieren europäische Militärplaner darüber, ob einzelne europäische Staaten zugunsten einer maximalen Gesamtsicherheit ihr Militär nicht besser spezialisieren sollten: Statt dass jeder Staat seine eigene kleine Armee, Marine und Luftwaffe betreibt, könnte sich jedes Land auf die Rolle konzentrieren, die am besten zu den örtlichen Gegebenheiten, der Bevölkerung und dem Industriestandort passt, und sich in den übrigen Bereichen auf die jeweils anderen Staaten mit ihren komplementären Kapazitäten verlassen. Wenn Europa gemeinsam die Waffenproduktion für die Ukraine beschleunigen würde, käme auch diese Frage wieder auf den Tisch.

Sollten die Europäer eine derart umfassende militärische Planung nicht anpacken, könnte das eine interne diplomatische Krise nach sich ziehen. Die Länder Osteuropas (wie Polen und Rumänien) und Nordeuropas (wie die baltischen und skandinavischen Staaten) brauchen unbedingt einen Sieg gegen Russland. Sollte Europa nicht bald mit einer einheitlichen und gemeinschaftlichen Planung der militärischen Produktion beginnen, könnten Länder im Westen und Süden, die sich weniger durch einen russischen Angriffskrieg bedroht fühlen, dem Beispiel einer neuen US-Regierung folgen, ihre Ukraine-Hilfe einstellen und eine Einigung mit Russland suchen. Das würde im besten Falle Verbitterung und Misstrauen nach sich ziehen, im schlimmsten einen dauerhaften Bruch der europäischen Zusammenarbeit.

Es steht zu hoffen, dass sich diese Szenarien nicht bewahrheiten. Die Wahl eines NATO- und Ukraine-freundlichen US-Präsidenten im Jahr 2024 könnte es der Ukraine ermöglichen, einen militärischen Sieg zu erringen und ein Friedensabkommen zu erreichen (das auch den NATO-Beitritt der Ukraine umfasst). Damit wäre die Sicherheit in Europa garantiert. Aber diese Hoffnung entbindet die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht von der Verpflichtung, der anderen Möglichkeit vorzubauen, dass nämlich eine US-Regierung die NATO an die Wand fährt und ungeachtet der genozidalen Verbrechen Russlands gegen ein europäisches Land Putins Nähe sucht. Wenn die Europäer nicht bald damit anfangen, sich auf das Worst-Case-Szenario vorzubereiten, sind sie im Falle des Falles selbst schuld.

© The Atlantic

Aus dem Englischen von Anne Emmert