In Feierstimmung verbreiteten die USA Anfang Februar die Kunde von der Tötung des IS-Anführers Abu Ibrahim al-Qurashi in Syrien. Die Euphorie vermochte indes nicht darüber hinwegzutäuschen, dass diese Operation für dschihadistische Gruppen eher einen bescheidenen Rückschlag darstellte. Relevanter war sie wohl für Präsident Joe Biden, der darauf hoffen mag, mit Blick auf die midterm elections im November mit solchen Aktionen seine Popularität zu steigern. Hatte nicht schon sein Vorgänger Donald Trump vor knapp zwei Jahren die Tötung des damaligen IS-Chefs Abu Bakr al-Baghdadi gefeiert und vor ihnen Barack Obama die von Osama bin Laden?

Ein kurzer Blick auf die Vita des nun getöteten al-Qurashi zeigt in aller Klarheit, worum es bei der Geschichte von Terror und Terrorbekämpfung geht. Denn auch dieser Emir, auf den die US-Administration Millionen von Dollar ausgesetzt hatte, war einmal ein gewöhnlicher, unbekannter Offizier in der irakischen Armee. Er stammt aus einem Dorf im Distrikt Tal Afar, der im Nordwesten des Irak in der Grenzregion zu Syrien liegt. Sein Vater war Muezzin in der örtlichen Moschee. Al-Qurashis Leben – wie das der meisten IS-Führungsfiguren – geriet erst aus den Fugen, als die Amerikaner den Irak überfielen. Al-Qurashi schloss sich al-Qaida an und wurde dann verhaftet. Nach seiner Freilassung stieg er im IS auf und wurde schließlich ein „verborgener Kalif“.

Die Euphorie über die Tötung des IS-Anführers vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass diese Operation für dschihadistische Gruppen eher einen bescheidenen Rückschlag darstellte.

Stellen wir uns einmal vor, der Einmarsch im Irak wäre ausgeblieben, all die darauf folgende konfessionelle Gewalt mit Tausenden Toten und Millionen Vertriebenen hätte nicht stattgefunden. Stattdessen hätte es eine politische Lösung für den Irak gegeben. Hätte sich das Leben des Offiziers dann so tiefgreifend verändert? Und selbst wenn er sich radikalisiert hätte, wäre dies nicht im schlimmsten Fall ein innerirakisches Thema geblieben?

Das Beispiel al-Qurashi unterscheidet sich kaum vom Werdegang von Dutzenden anderen islamistischen Führern. Allen ist gleich, dass der Wendepunkt jeweils mit den verheerenden Krisen in der arabischen und islamischen Welt kam. Dass sie als Terrorführer aufstiegen, war das Ergebnis von Staatsversagen, verfehlter Sicherheitspolitik, den Konflikten widerstreitender ethnischer, religiöser und konfessioneller Gruppen sowie einer gescheiterten Entwicklung und widrigen sozioökonomischen Umständen. Die Gewalt, die daraus erwuchs, wurde zu einer globalen Bedrohung, als die internationale Politik darauf mit militärischen Interventionen, Drohnen und Kopfgeldjagden reagierte – ein Spiel, das noch lange nicht zu Ende zu gehen scheint.

Der IS ist zu einem globalen Markenzeichen geworden und unterhält Dutzende Stützpunkte weltweit.

Der geistige Vater des IS im Irak, Abu Mus’ab al-Zarqawi, wurde 2006 durch einen amerikanischen Luftschlag getötet. Auf ihn folgten eine ganze Reihe weiterer Anführer, die mehr oder weniger genauso gefährlich waren wie er. 2011 wurde Osama bin Laden bei einer US-Militäroperation in seinem Versteck in Pakistan getötet. Zahlreiche weitere Terrorführer wurden davor wie danach auf ähnliche Weise getötet. Hat die Gefahr durch Extremismus und Terror dadurch abgenommen?

Im Irak und in Syrien mag der IS heute weniger gefährlich sein als zu seiner Hochzeit. Schon gar nicht ist er mehr in der Lage, Zehntausende Kämpfer aus aller Welt anzulocken. Diese Zeit der Magie und die damit verbundenen Möglichkeiten für Propaganda, Rekrutierung und Terroranschläge sind Vergangenheit. Aber auch aus dem Irak und aus Syrien ist der IS nicht verschwunden und nährt sich noch immer von den dortigen Krisen – auch wenn die USA erklären, die Miliz sei besiegt. Nichts könnte dies besser zum Ausdruck bringen als die aufwendige und waghalsige Aktion gegen ein Gefängnis im kurdisch kontrollierten Hassakeh in Syrien, die der IS nur wenige Tage vor der Ausschaltung seines Anführers durchgeführt hatte. Sie endete mit dem Tod Hunderter IS-Kämpfer und Dutzender kurdischer Milizionäre – allerdings erst nach fast einer Woche von Kämpfen.

Insbesondere in Afrika konnte der IS sich in den vergangenen Jahren wie ein Steppenbrand ausbreiten.

Der IS mag im Irak und in Syrien unter Druck sein, aber er löst sich nicht auf. Vielmehr ist er zu einem globalen Markenzeichen geworden und unterhält Dutzende Stützpunkte weltweit. Insbesondere in Afrika konnte er sich in den vergangenen Jahren wie ein Steppenbrand ausbreiten. In Afrika gibt es eine Vielzahl an religiösen und ethnischen Konflikten. Viele Staaten sind fragil. Die Landfläche ist oft so groß, dass die IS-Ableger dort Rückzugsräume haben und sich ausbreiten können. Ihr Vorgehen dort ist teils noch schlimmer als im Originalkalifat in Irak und Syrien. Seit 2019 gab es in etwa 15 afrikanischen Ländern Dutzende von Terroranschlägen mit Tausenden von Toten. In Zentral-, West- und Ostafrika sind IS-Dschihadisten aktiv, von der Sahara über den Kongo bis nach Uganda und Mosambik. Hinzu kommen Zellen in Nordafrika.

Bisher ist das afrikanische Terrorproblem auf den eigenen Kontinent beschränkt und steht im Zusammenhang mit regionalen Krisen. Aber je internationaler dagegen vorgegangen wird und je stärker sich die Krisen vor Ort verfestigen, desto mehr Sorgen muss man sich machen, dass der Terror der Marke IS afrikanischer Prägung in die Welt exportiert werden könnte.

Eine erfolgreiche Terrorbekämpfung muss in erster Linie die Ursachen der jeweiligen Krisen in den Blick nehmen.

So wie es dem IS gelungen ist, seine Ideologie in Afrika zu verbreiten, geschah dies auch in Ostasien, insbesondere vor dem Hintergrund der Spaltungen innerhalb der Taliban in Pakistan und Afghanistan. Nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan ist es bereits zu großen Anschlägen des IS-Ablegers „Khorasan“ gekommen. Er hat unter anderem Zulauf von Dschihadisten, die samt ihren Familien aus dem Irak und aus Syrien fliehen mussten, und deren Herkunftsländer sie nicht mehr aufnehmen wollen. Aber auch Kämpfer aus Mittelasien strömen ihm zu.

Bis jetzt kämpft der „Khorasan“ noch gegen die Taliban, die Afghanistan regieren und sich weltweit als dazu in der Lage beweisen möchten. Dafür versuchen sie auch das Szenario aus der Zeit ihrer ersten Herrschaft zu vermeiden, als sie al-Qaida Unterschlupf boten und nach den Anschlägen des 11. September 2001 den großen Gegenschlag erleiden mussten.

Eine erfolgreiche Terrorbekämpfung muss also in erster Linie die Ursachen der jeweiligen Krisen in den Blick nehmen. Die Milliarden von Dollar, die für Militäroperationen und Kopfgelder ausgegeben werden, sollten für Projekte zur Stärkung staatlicher Institutionen, politischer Integration und der Wirtschaftsentwicklung eingesetzt werden. Regierungen sollten durch Projekte zum gesellschaftlichen Aufbau, zur Integration der Bürger ins öffentliche Leben und zur Stärkung von Demokratie und Zivilkultur unterstützt werden.

Aus dem Arabischen von Günther Orth