Der offenbar versehentliche Abschuss eines Passagierflugzeugs der Fluglinie Azerbaijan Airlines durch die russische Luftabwehr am 25. Dezember 2024 erweist sich zunehmend als wichtiger Faktor in den sich dynamisch entwickelnden Beziehungen zwischen dem Kreml und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die bisherige Machtordnung von „imperialem Zentrum“ und „Satelliten“ wird zunehmend abgelöst durch ein komplexeres System von gemeinsamen Vereinbarungen zwischen den verschiedenen Akteuren. Mit seiner Weigerung, Moskau aus der Verantwortung für die Flugzeugkatastrophe zu entlassen, übernimmt Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew in diesem Prozess eine Vorreiterrolle.

Der Flugzeugabsturz hätte in den internationalen Medien wohl deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten, wäre er nicht just in die Weihnachtszeit der westlichen Welt gefallen. In Aserbaidschan hingegen beherrschte das Unglück die Schlagzeilen und löste landesweit tiefe Trauer und Bestürzung aus. In den sozialen Medien des Landes dominierte über mehrere Tage der Hashtag #Russiamustapologize. Nach alter bürokratischer Tradition versuchten die russischen Zivil- und Militärbehörden so lange wie möglich, jede Verantwortung von sich zu weisen. Doch Baku forderte Moskau auf, seine Schuld einzugestehen, transparente Ermittlungen einzuleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Druck kam von höchster Stelle. Zum Zeitpunkt der Tragödie war Alijew gerade auf dem Weg nach Sankt Petersburg. Nach der Nachricht ordnete er sofort an, kehrtzumachen und nach Aserbaidschan zurückzufliegen. Dies war der Auftakt zu einer weiteren Abkühlung des Verhältnisses zu Russland. Einige Tage später erklärte Alijew, das Flugzeug sei von einem landgestützten Luftabwehrsystem abgeschossen worden, und zeigte sich empört über den Versuch der russischen Seite, sich aus der Affäre zu ziehen. Selbst mit einem Telefonat und einer ausweichenden Entschuldigung gelang es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht, die Situation zu beruhigen. Am 6. Januar machte Alijew bei einem Treffen mit Angehörigen der Opfer erneut Vertreter Russlands für die Katastrophe verantwortlich.

Von einem Schuldeingeständnis ist Russland weit entfernt.

Alijews Rhetorik wirft Fragen nach dem Zustand der Beziehungen zwischen Russland und Aserbaidschan auf. Die hatten sich scheinbar positiv entwickelt, seit Baku im September 2023 die umstrittene Region Bergkarabach unter seine Kontrolle gebracht hatte. Etwa zeitgleich begannen die aserbaidschanischen Medien, freundlichere Töne gegenüber Russland anzuschlagen, und seit Putins Baku-Besuch im August 2024 arbeiten die beiden Länder bei Infrastrukturvorhaben intensiver zusammen. Alijew betonte immer wieder, dass der erste ausländische Investor in Bergkarabach der russische Fahrzeughersteller KAMAZ gewesen sei.

Im Sommer 2024 hieß es, Aserbaidschan werde möglicherweise bei der Aufrechterhaltung der russischen Gasexporte nach Europa über die Ukraine behilflich sein. Diskutiert wurde unter anderem ein Tauschgeschäft, bei dem aserbaidschanisches Gas über die Ukraine in die Slowakei und nach Ungarn geliefert werden sollte. Auch wenn dieser Vorstoß im Sande verlief und der Gastransit durch die Ukraine am 1. Januar eingestellt wurde, dürfte Alijew erfreut gewesen sein, demonstrieren zu können, dass Aserbaidschan als Vermittler zwischen Russland und Europa fungieren könnte.

Der Abschuss des Azerbaijan-Airlines-Fluges J28243 führt jedoch dazu, dass für Alijew an einer Konfrontation mit Moskau kein Weg vorbeiführt. In der offiziellen aserbaidschanischen Stellungnahme zu Alijews Gespräch mit Putin über den Absturz wurde behauptet, das Flugzeug sei infolge „physischer und technischer Einwirkung von außen“ abgestürzt. Trotz der vorsichtigen Formulierung bleibt wenig Raum für Zweifel. Die russische Seite hingegen bekundete in ihrer Erklärung zu dem gleichen Gespräch ihr Beileid zu dem „tragischen Vorfall“, der „sich in Russlands Luftraum ereignet“ habe. Mit anderen Worten: Von einem Schuldeingeständnis ist Russland weit entfernt.

Für die Zukunft kann Alijew den Vorfall dazu nutzen, in anderen Verhandlungen mit Moskau die eigene Position zu stärken – zum Beispiel in den Gesprächen über den sogenannten Sangesur-Korridor. Alijew fordert beharrlich, dass an der umstrittenen Verkehrsroute, die Aserbaidschan mit der Exklave Nachitschewan verbindet und über armenisches Gebiet verläuft, auch aserbaidschanische Grenzsoldaten zum Einsatz kommen. Moskau steht der Einrichtung des Korridors jedoch seit jeher skeptisch gegenüber, weil es die Gefahr sieht, dass Türkei und Aserbaidschan näher zusammenrücken und Russland seine Funktion als externer Schlichter im Südkaukasus endgültig einbüßt.

Durch den Krieg gegen die Ukraine sind Russlands Handlungsspielräume massiv eingeschränkt – Aserbaidschan ist bereit, dies zu seinem Vorteil zu nutzen.

Durch den Krieg gegen die Ukraine sind Russlands Handlungsspielräume massiv eingeschränkt – Aserbaidschan ist bereit, dies zu seinem Vorteil zu nutzen. Dabei könnte Alijew sich von den kolonialen Hinterlassenschaften der Sowjetunion befreien – nicht durch Demokratisierung, sondern durch mehr außenpolitische Unabhängigkeit vom ehemaligen Zentrum des Imperiums. Nicht nur der Kreml kann den ehemaligen Sowjetrepubliken seine Regeln diktieren, sondern der Spieß lässt sich auch umdrehen.

Andererseits war Bakus Reaktion auf die Luftfahrtkatastrophe nicht bloß geopolitisch motiviert. Ebenso ausschlaggebend war die öffentliche Meinung in Aserbaidschan. Fotos der Schäden an dem später in Kasachstan verunglückten Flugzeug lösten in der aserbaidschanischen Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung aus. Alijew musste sich entscheiden: Entweder stellte er sich auf die Seite des eigenen Volkes oder auf die Seite Russlands. Diese Entscheidung geriet in gewisser Weise zur Legitimationsfrage. Bezieht Alijew seine Legitimation von innen oder von außen? Der aserbaidschanische Machthaber überlegte nicht lange und bekundete seine Solidarität mit der aufgebrachten Bevölkerung seines Landes.

Bis zu Aserbaidschans triumphalem Sieg im Zweiten Karabachkrieg 2020 war es Alijew kaum gelungen, aus dem Schatten seines Vaters Heydar Alijew herauszutreten, der auch sein Vorgänger im Amt des Staatspräsidenten war. Deshalb will Alijew demonstrieren, dass er mit internationalen Staatenlenkern wie Putin und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf Augenhöhe verhandeln kann. Durch seine unnachgiebige Haltung zu der Flugzeugkatastrophe behauptet Alijew sich einmal mehr in seiner Rolle als „Beschützer der Nation“ – einer Nation, die sich auf keinen Fall unterdrücken lässt und auch in der Lage ist, ihrem großen und gefährlichen Nachbarland die Stirn zu bieten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation basiert häufig auf ihrem Bewusstsein, dass ihr Land sich Respekt zu verschaffen weiß. Vor diesem Hintergrund ist Aserbaidschans Reaktion auf den Abschuss des Passagierflugzeugs ein Musterbeispiel für Nation Building. Indem er die Herausbildung einer nationalen Identität befördert, handelt Alijew instinktiv oder bewusst im Einklang mit besten staatswissenschaftlichen Grundsätzen.

Trotzdem könnte Alijews Vorgehen sich auch als Fehlschlag erweisen. Wer Moskau mit taktischen Manövern attackiert, muss damit auch etwas erreichen. Andernfalls macht sich womöglich Enttäuschung breit. Es ist alles andere als ausgemacht, dass Putin von seiner traditionellen Kompromisslosigkeit abweicht, die Verantwortung für das Flugzeugunglück übernimmt und die Schuldigen an Baku ausliefert. Denn wenn Putin nachgibt, werden alle anderen Verbündeten Russlands nachziehen und genauso behandelt werden wollen.

Die englische Originalversion des Artikels erschien zuerst bei Carnegie Politika.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld