Chinas Umgang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zeichnet sich durch eine Reihe von Gegensätzen aus. Die chinesische Regierung betont einerseits, die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten müsse gewährleistet werden, enthielt sich andererseits aber bei der Abstimmung über die Verurteilung Russlands im UN-Sicherheitsrat. Sie weist den USA und der NATO die Verantwortung zu, die Sicherheitsinteressen Moskaus nicht ausreichend berücksichtigt zu haben, ruft aber dennoch zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf.

Peking hat den Völkerrechtsbruch Russlands bis dato nicht verurteilt, jedoch wiederholt erklärt, sich an westliche Sanktionen gegenüber Moskau halten zu wollen. So haben die wichtigsten chinesischen Handelsbanken bereits 2022 angekündigt, keine Akkreditive zur Außenhandelsfinanzierung mehr mit Russland abzuschließen, und chinesische Hersteller, keine Ersatzteile und Komponenten für die russische Luftfahrtindustrie mehr zu liefern.

In China selbst gibt es hinsichtlich des Krieges ganz unterschiedliche Positionen. Nationalistische Kreise weisen primär den USA und der NATO die Schuld zu und hoffen auf einen russischen Sieg, insbesondere auch im Hinblick auf die Reaktion bei einem künftigen militärischen Vorgehen gegenüber Taiwan. Namhafte Intellektuelle hingegen setzen sich durchaus kritisch mit der Politik ihrer Regierung auseinander.

So vertritt der Soziologe Sun Liping von der Tsinghua-Universität die Meinung, Russland sei keine Großmacht mehr, und werde von den USA und vom Westen nicht ernst genommen. Durch die Invasion melde Putin neuerlich einen Weltmachtanspruch an. Der Krieg werde allerdings Russland und seine internationale Rolle weiter schwächen. Sein Kollege, der Historiker Qin Hui, ist wiederum der Meinung, dass Putin sein Imperium wiedererrichten und als „neuer Zar“ fungieren wolle. Zugleich wolle er von inneren Problemen ablenken. Sein Krieg habe im Grunde bereits mit der Annexion der Krim im Jahre 2014 begonnen. Je mehr Russland zum Paria-Staat werde, desto kostspieliger sei eine Unterstützung Putins für China, besonders in Bezug auf Sanktionen und die Negativwirkung auf das globale Ansehen des Landes.

Nationalistische Kreise weisen primär den USA und der NATO die Schuld zu.

Andere Wissenschaftler wie Hu Wei, Vorsitzender des Public Policy Research Center in Shanghai, raten der chinesischen Regierung, sich von Russland zu distanzieren. Der Krieg habe die internationale Führungsrolle der USA gestärkt, wodurch die Gefahr einer Isolierung Chinas wachse. China sei die einzige Macht, die dem Vorgehen Putins Grenzen setzen könne, das könne und müsse Peking nutzen. Wang Huiyao, Präsident des Thinktanks Center for China and Globalization, schreibt, China möchte im Kern keine anti-westliche Allianz mit Russland, sondern sei mehr daran interessiert, seine Beziehungen zu den USA und anderen westlichen Staaten zu stabilisieren.

Der Marsch der Wagner-Söldner auf Moskau unter ihrem Anführer Jewgeni Prigoschin wurde in China unterschiedlich wahrgenommen. Vertreter des chinesischen Außenministeriums betonten in einem Gespräch mit dem russischen Sonderbeauftragten und Vize-Außenminister Andrey Rudenko am 25. Juni lapidar, es handle sich um eine innere Angelegenheit Russlands und China unterstütze die Wahrung der Stabilität in diesem Land. Von Xi Jinping kann man annehmen, dass ein Sturz Putins für ihn einen erheblichen Rückschlag bedeuten würde: der Verlust eines wichtigen Partners im Machtkampf mit den USA, Instabilität in einem Nachbarland, mit dem Peking 4 000 Kilometer gemeinsamer Grenze teilt, sowie eine größere Unberechenbarkeit, wohin Moskau tendiert.

Die Volksbefreiungsarmee publizierte auf ihrer medialen Plattform gleichzeitig einen Bericht über Maos Bemühen 1927, die absolute Führung der Kommunistischen Partei über die Streitkräfte sicherzustellen, wohl um Xi Jinping zu signalisieren, dass sich solch ein Ereignis wie in Russland in China nicht ereignen könne. Zugleich dürfte Xi die Vorzüge seiner Politik in den letzten zehn Jahren bestätigt finden: auf der einen Seite die erfolgreiche Bekämpfung von Korruption in den Streitkräften, aber auch die verstärkte Unterordnung der Streitkräfte unter sein Kommando.

Auf der Funktionärsebene wurden Zweifel an der Stabilität Russlands geäußert.

Auf der Funktionärsebene wurden Zweifel an der Stabilität Russlands geäußert und gefragt, ob das Land ein zuverlässiger Partner sei. In den sozialen Medien wiederum wurde vielfach diskutiert, was dieser Vorfall für China bedeute. Es wurden historische Parallelen gezogen, etwa im Hinblick auf die Rebellion des Generals An Lushan im Jahre 775, der sich zum neuen Kaiser erklärte hatte, letztlich aber scheiterte. Allerdings büßte China aufgrund der dadurch bedingten Schwächung politischen Einfluss auf benachbarte Völker ein. Der Tenor dieser Debatten ist, dass es auch in China immer wieder Ränkespiele dieser Art gegeben hat, der Ausgang jedoch ungewiss sei und sich in der Gegenwart nicht wiederholen dürfe, um eine Schwächung Chinas zu vermeiden.

Interessant ist das Aufkommen einer chinesischen Debatte über Imperien und deren Rolle in der heutigen Welt. In westlichen wissenschaftlichen Diskussionen spielte diese in den letzten Jahrzehnten eine eher nachgeordnete Rolle. Die Welt ging davon aus, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion die Geschichte der Imperien zu Ende gegangen sei. Francis Fukuyama proklamierte entsprechend das „Ende der Geschichte“.

Der international bekannte Politikwissenschaftler Yu Keping, Direktor des Forschungszentrums für Chinesische Politik an der Peking-Universität, legte nun die erste chinesische Monografie zum Thema Wiederkehr der Imperien vor. Sein Ausgangspunkt ist die Rückkehr von Imperien vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Russland ist für ihn dabei ein Paradebeispiel dieser Rückkehr, welche nachhaltig negative Folgen für die globale Ordnung und den weiteren Fortschritt der Globalisierung mit sich gebracht hat. Yus kritische Position ist zugleich Ausdruck der Tatsache, dass die Frage des russischen Angriffs auf die Ukraine in der intellektuellen Gemeinschaft Chinas und auch innerhalb der chinesischen Bevölkerung kontrovers diskutiert wird.

Laut Politikwissenschaftlern an der Tsinghua- und der Peking-Universität ist die chinesische Gesellschaft in dieser Hinsicht gespalten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weisen darauf hin, dass signifikante Teile der Bevölkerung, besonders in den südlichen Landesteilen, im städtischen Raum, unter älteren Jahrgängen sowie höheren Einkommensschichten und unter Gebildeten, das russische Vorgehen verurteilten. So erklärte der Dekan einer großen und renommierten Pekinger Politikwissenschaftsfakultät, in seiner Fakultät gebe es nicht einen einzigen Unterstützer Putins. Diese Unterschiede treten auch auf unterschiedlichen Online-Plattformen zutage. So ist auf WeChat, welches großteils von Gebildeten, Städtern und einkommensstärkeren Schichten verwendet wird, die Ablehnung größer als auf Douyin, wo sich vielfach ein ungezügelter Nationalismus breitmacht.

Die Kosten der engen Anlehnung an Russland sind hoch und haben zur Verschlechterung des Ansehens Chinas in den westlichen Ländern beigetragen.

Ein langjähriger chinesischer Russlandkenner und Professor an einer großen Pekinger Universität ist der Auffassung, Russland sei nicht in der Lage, die Ukraine zu erobern, da es bereits einen erheblichen Teil seiner zur Verfügung stehenden Ressourcen verbraucht habe. Es dürfe nicht übersehen werden, dass Putin von den russischen Eliten manipuliert worden sei. Die wichtigen Gebietsgouverneure stützten ihn und auch die Bevölkerung stehe in ihrer großen Mehrheit hinter ihm. Der Krieg werde sich von daher lange hinziehen, denn Putin müsse Erfolge vorweisen, um seine Macht nicht zu verlieren. Dieser Zeitpunkt sei aber noch nicht in Sicht, zumal die Maximalforderungen Moskaus und Kiews gegenwärtig völlig konträr seien. Letztlich sei Chinas Einfluss daher begrenzt.

Die Kosten der engen Anlehnung an Russland sind hoch und haben zur Verschlechterung des Ansehens Chinas in den westlichen Ländern beigetragen. Zahlreiche chinesische Expertinnen und Experten haben vor einer zu engen Anlehnung gewarnt. Inzwischen scheint Präsident Xi ihre Kosten begriffen zu haben, zumal die EU, Japan und Südkorea weitgehend an der Seite der USA stehen. Trotzdem möchte Xi an einer „russlandfreundlichen Neutralität“ festhalten.

China hat im März 2023 einen eigenen Vorschlag zur Beendigung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine vorgelegt. Während Präsident Selenskyj diesen Vorschlag begrüßte, wurde er vom Westen als „zu allgemein“ abgetan. Laut chinesischen Expertinnen und Experten weist dieser Vorschlag auf das Problemgemenge hin. Ein Lösungsvorschlag ist es nicht und kann es gegenwärtig auch nicht sein, da bisher weder Kiew noch Moskau zu ernsthaften und kompromissbereiten Verhandlungen bereit sind. Gleichwohl hat Xi den früheren chinesischen Botschafter Li Hui sowohl nach Moskau als auch nach Kiew entsandt, um Möglichkeiten für eine Verhandlungslösung auszuloten. Sollte es China langfristig gelingen, zu einer Lösung beizutragen, würde das sein internationales Renommee, vor allem in Europa, deutlich erhöhen.

Letztlich sucht Peking zwar kooperative Beziehungen mit Moskau, ist im Prinzip aber gegen den Krieg in der Ukraine. Eine Verurteilung Russlands hätte nur geringen Nutzen für China, denn an der US-amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber China würde sich wohl grundsätzlich nichts ändern. Sollte sich jedoch China von Russland abkoppeln, würde so jede Form der Einflussnahme auf Moskau unmöglich gemacht werden. Solange Peking Moskau nicht verurteilt, sondern gute Beziehungen pflegt, erhält es sich auch seine Einflussmöglichkeiten. Zudem ist noch in guter Erinnerung, dass das Land in den 1960er und 1970er Jahren sowohl von Moskau als auch von Washington isoliert war. Eine Situation, die sich nicht wiederholen soll.

Die russische Abhängigkeit von China ist heute erheblich größer als umgekehrt.

Zugleich hat China kein Interesse an einer weiteren Eskalation des Krieges. Insbesondere, weil dieser zu einem Schulterschluss zwischen der EU und den USA sowie zu größerer Übereinkunft der EU-Staaten untereinander geführt hat, was sich negativ auf das Seidenstraßen-Projekt und den chinesischen Außenhandel auswirkt. China befürchtet zudem Russlands Abstieg und dessen Folgen für Peking, gemäß dem Motto: „Wenn der Westen Russland niederringt, wird China der Nächste sein.“

Bei der Beziehung zwischen Russland und China handelt es sich nicht um eine Allianz, sondern um ein Zweckbündnis zur Eindämmung des globalen US-amerikanischen Einflusses. China sieht den primären Herausforderer in den USA, nicht in Russland. Zudem ist die Beziehung ausgesprochen asymmetrisch: China ist nicht mehr Juniorpartner Moskaus, wie in den 1950er Jahren, sondern mittlerweile zum Seniorpartner aufgestiegen. Die russische Abhängigkeit von China ist heute zudem erheblich größer als umgekehrt. Russland gilt lediglich als ein Partner gegen die China herausfordernde US-Dominanz.

Für China bleiben die USA und auch die EU wirtschaftlich deutlich wichtiger. So beträgt die ökonomische Leistung Russlands lediglich ein Zehntel der von China. Russlands Bruttoinlandsprodukt entspricht gerade einmal dem einer chinesischen Provinz wie Guangdong. Zudem gibt es Interessenkonflikte zwischen beiden, etwa im Hinblick auf den wachsenden Einfluss Chinas in den Ländern Zentralasiens, der auf dem Gipfel Pekings mit fünf zentralasiatischen Staaten im Mai noch einmal deutlich wurde. Den fünf Ländern wurden massive Unterstützungsprogramme beim Ausbau ihrer Infrastruktur zugesagt sowie die Vertiefung der Beziehungen auf allen Gebieten. Stimmen aus Moskau warnen bereits vor diesem wachsenden Einfluss, vor allem mit Bezug auf Zentralasien.

In westlichen Debatten werden China und Russland oft fälschlicherweise gleich eingeordnet. Eine Gleichsetzung Putins mit Xi übersieht jedoch die tiefgehenden Interessenunterschiede sowie die unterschiedlichen Motive beider, auch im Hinblick auf die Gestaltung der Weltordnung. Für China sind die Beziehungen zum Westen letztlich wichtiger als die zu Russland, zumal zwischen beiden Ländern historisch gesehen, stets eine Kultur des wechselseitigen Misstrauens bestand. Indem beide Länder in einen Topf geworfen werden, verspielt der Westen nicht nur die Chance internationaler Kooperation mit China, sondern heizt den geopolitischen Konflikt zusätzlich an.

Xi hat im April eine Global Security Initiative vorgeschlagen, um eine Lösung für globale Fragen wie Krieg und Frieden, die Verletzung der Souveränität von Staaten sowie das verbreitete Blockdenken zu besprechen und im Rahmen der UN-Charta eine neue globale Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Dies signalisiert zwar Pekings Bereitschaft zum Dialog in globalen Fragen, Voraussetzung für diesen wäre jedoch eine Einigung der USA und Chinas über Grundfragen einer neuen Charta sowie Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Dies aber liegt gegenwärtig in weiter Ferne.