Nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan wird wieder intensiver über Auslandseinsätze der Bundeswehr diskutiert. Jochen Steinhilber und Konstantin Bärwaldt mahnen in der IPG vom 14. September 2021 zu Recht eine Grundsatzdebatte an, in der nicht einfach Positionen „Pro“ und „Contra“ Auslandseinsätze gegenübergestellt werden. Wir schlagen hier einen vermittelnden Grundsatz für Entscheidungen über Auslandseinsätze vor: das Vorsichtsprinzip zur Vermeidung ziviler Opfer in Einsatzgebieten. Über Einsätze sollte vorrangig nach dem Grundsatz „do no harm“ entschieden werden. Konkret bedeutet dies, die Bundeswehr nicht in Einsätze zu schicken, bei denen das Risiko hoch ist, dass externe Truppen und ihre lokalen Verbündeten viele Zivilisten töten und verwunden.

Das Vorsichtsprinzip schließt Bundeswehreinsätze nicht grundsätzlich aus. Wenn sie alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen einschließen, sind Einsätze zur Absicherung von Waffenstillständen oder Friedensabkommen einschließlich des nachfolgenden Staatsaufbaus à priori unproblematisch.

Das Vorsichtsprinzip schließt Bundeswehreinsätze nicht grundsätzlich aus.

In extremen Fällen der Gewaltanwendung, insbesondere bei Völkermord, kann die internationale Schutzverantwortung für Einsätze sprechen. Auch die Eindämmung von internationalem Terrorismus kann Einsätze rechtfertigen. Bei beiden Arten von Einsätzen sind zivile Opfer zwar nicht auszuschließen, das Risiko ziviler Opfer ist aber begrenzt, solange internationale Truppen und ihre lokalen Verbündeten nicht inmitten der Zivilbevölkerung gegen ihre Gegner kämpfen. Wenn sich, wie in Afghanistan, ein Einsatz zunehmend in Richtung Aufstandsbekämpfung entwickelt, ist das Risiko dafür aber hoch, und die Bundeswehr sollte abgezogen werden.

Bei den aktuellen Debatten über die Folgen der erneuten Talibanherrschaft gerät in Vergessenheit, dass auch internationale Streitkräfte, einschließlich der Bundeswehr, in Afghanistan großes Leid verursacht haben. Ab Mitte der 2000er Jahre wurden die internationalen Unterstützer der afghanischen Regierung zunehmend in einen Guerillakrieg hineingezogen. Selbst als die NATO in den Jahren 2009 bis 2011 unter Führung der USA den Schutz der Bevölkerung priorisierte, führte die internationale Präsenz direkt und indirekt zu zahlreichen zivilen Opfern. Die vielen Opfer in den vergangenen 20 Jahren haben die humanitären Ziele des internationalen Engagements in Afghanistan konterkariert. Die externe militärische Unterstützung von Aufstandsbekämpfung, bei der zahlreiche Zivilisten getötet und verwundet werden, ist mit dem Ziel, die Bevölkerung zu schützen, nicht vereinbar.

Die Regeln für den Einsatz militärischer Gewalt unterscheiden sich je nach Art des Einsatzes. In klassischen UN-Blauhelmeinsätzen ist der Einsatz von Gewalt auf den Eigenschutz begrenzt. Beginnend in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre autorisierte der UN-Sicherheitsrat zunehmend auch „robuste“ Einsätze nach Kapitel VII der UN-Charta, etwa in der Demokratischen Republik Kongo, um die Bevölkerung gegen militante Gruppen zu schützen. Darüber hinausgehende Mandate betrafen die internationale Schutzverantwortung im Fall von Völkermord und ähnlichen Verbrechen und den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. In allen Fällen sollen Mandate und Einsatzregeln zivile Opfer möglichst vermeiden.

In allen Fällen sollen Mandate und Einsatzregeln zivile Opfer möglichst vermeiden.

Inwieweit dies möglich ist, hängt vor allem davon ab, ob und wie Streitkräfte Gewalt einsetzen. Das Risiko, Zivilisten unabsichtlich zu töten und zu verwunden, ist besonders hoch, wenn der militärisch unterlegene Gegner innerhalb der Bevölkerung und mit Taktiken wie Hinterhalten, Sprengfallen oder Selbstmordanschlägen agiert. Dies zeigte der Krieg in Afghanistan. Nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 und einer Phase relativer Ruhe verstärkten Aufständische ihre Angriffe auf internationale und afghanische Truppen. Die Intensivierung der Kämpfe führte zu zahlreichen zivilen Opfern, auch durch internationale Truppen. Selbst als das US-Militär 2009 das Konzept der „bevölkerungszentrierten Aufstandsbekämpfung“ einführte, mit der Priorisierung des Kampfs gegen Anführer des Aufstands bei gleichzeitigem Schutz der Zivilbevölkerung vor Regierungsgegnern, töteten internationale Truppen zahlreiche Zivilisten.

Es ist unklar, wie viele zivile Opfer internationale Truppen von 2001 bis zu ihrem Abzug im Sommer 2021 verursacht haben. Dies liegt am schwierigen Zugang zu den Kampfgebieten, der schnellen Beerdigung von Toten und der Bezichtigung des Gegners als Verursacher ziviler Opfer. Auch war die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten oftmals willkürlich: Wie ist ein Bauer, der sein Haus verteidigt, einzuordnen?

Vorhandene Zahlen sind daher nur Schätzungen, das wahre Ausmaß zivilen Leids dürfte noch größer sein. Trotzdem zeigen sie ein Bild von den katastrophalen Folgen des Krieges: Von 2009 bis 2020 sind laut den Vereinten Nationen 110 893 Zivilisten in Afghanistan getötet oder verwundet worden.

Für die meisten Opfer waren laut UN-Angaben Regierungsgegner verantwortlich. Aber auch die afghanischen Sicherheitskräfte und internationale Truppen haben Menschen getötet und verwundet. Zwischen 2007 und 2016 wurden nach Angaben der USA jährlich im Durchschnitt 582 Zivilisten von diesen Verbänden getötet; nach 2017, als die Regierung Trump ein aggressiveres Vorgehen genehmigt hatte, verdoppelte sich diese Zahl.

Ein wichtiger Grund für zivile Opfer war die Verringerung des Eigenrisikos der internationalen Truppen. Zivilisten sind schwer von Guerilla-Kämpfern zu unterscheiden, die keine Uniform tragen. Um zivile Opfer zu vermeiden, müssen Truppen daher nah am Gegner operieren, um diesen zu identifizieren, was allerdings das Eigenrisiko erhöht. Insbesondere demokratische Staaten – die zumindest in Kriegen, bei denen vitale nationale Interessen unklar sind, das Risiko für eigene Soldaten geringhalten wollen – tendieren deshalb zum Risikotransfer: Sie verlagern das Risiko zugunsten eigener Kräfte de facto auf Zivilisten, insbesondere durch Luftschläge und die Unterstützung einheimischer Kräfte. Ein Beispiel für eine solche Risikoverlagerung war die durch einen deutschen Oberst befohlene Bombardierung eines Tanklastzuges in Kunduz im September 2009.

Auch fehlendes Wissen um lokale Kontexte erhöht das Risiko für Zivilisten. Viele Militärschläge der internationalen Truppen in Afghanistan basierten auf Hinweisen von Informanten, die ihre politischen oder wirtschaftlichen Konkurrenten loswerden wollten. Um lokale Netzwerke zu verstehen, braucht es Sprachkenntnisse, gute Kontakte und jahrelange Stehzeiten. Wo man sich nicht auskennt, ist die Gefahr groß, ungewollt Schaden anzurichten. Und selbst da, wo man sich gut auskennt, ist Schaden nicht zu vermeiden, wenn die Aufständischen das wollen.

Fehlendes Wissen um lokale Kontexte erhöht das Risiko für Zivilisten.

Hinzu kommt die militärische Eigendynamik, Erfolg in der Eskalation zu suchen. Von 2009 bis 2011 galt nicht das Primat des Schutzes von Zivilisten; in dieser Zeit gingen die USA auch massiv gegen Aufständische vor, insbesondere durch nächtliche Razzien, bei denen häufig Zivilisten starben. Den Elite-Kampftruppen, die die Aufstandsbekämpfung anführten, fiel es auf Grund von Ausbildung und Eigenverständnis schwer, sich beim Gewalteinsatz zurückzuhalten.

Neben zivilen Opfern, die internationale Truppen direkt verursacht haben, hatte die internationale Militärpräsenz auch indirekte Folgen für Zivilisten. Regierungsgegner legten Sprengsätze, die für Regierungskräfte und ihre Verbündeten gedacht waren, dann aber durch Zivilisten ausgelöst wurden. Selbstmordattentäter rissen Zivilisten mit in den Tod. Aufständische töteten Personen, die sie der Kollaboration mit der NATO verdächtigten. 

Kampfeinsätze führen zwangsläufig zu zivilen Opfern. Das gilt in besonderem Maße für die Bekämpfung von Aufständen. In solche Einsätze sollte die Bundeswehr nicht mehr geschickt werden. Auch andere Formen von Kampfeinsätzen verlangen eine genauere Prüfung der direkten und indirekten Folgen für Zivilisten. Selbst wenn Gründe für einen Einsatz sprechen – etwa die Verhinderung von Völkermord – sollte das Vorsichtsprinzip für die Vermeidung ziviler Opfer Anwendung finden. Zeigt sich im Verlauf eines Einsatzes, dass zahlreiche Zivilisten getötet und verwundet werden, sollte die Bundeswehr abgezogen werden.