Im Rahmen einer bahnbrechenden Zivilmission der Europäischen Union sind die ersten unbewaffneten Beobachter in Armenien eingetroffen, um die sich zuspitzenden Spannungen mit dem Nachbarland Aserbaidschan im Auge zu behalten. Sie werden an der Grenze patrouillieren und ein Wiederaufflammen der Kampfhandlungen umgehend nach Brüssel melden, damit die Europäische Union rasch eingreifen und den Frieden sichern kann. In einem Gebiet, in dem auch russisches Militär und russischer Grenzschutz stationiert sind, ist dabei höchste Vorsicht geboten. Erfolg kann die Mission nur haben, wenn die EU sie umfänglich finanziert und ein Höchstmaß an Handlungsspielraum ermöglicht.
Dieser Einsatz soll, so die Theorie, die Reaktionszeit der EU oder ihrer Mitgliedstaaten im Falle wiederaufflammender Kämpfe an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze erheblich verkürzen. Ihren jüngsten Krieg führten die beiden Nachbarländer 2020 um Bergkarabach, eine Region mit mehrheitlich armenischer Bevölkerung. Seit Bergkarabach seine Unabhängigkeit von Aserbaidschan erklärte, kam es an der langen Staatsgrenze immer wieder zu Zusammenstößen, von denen der nächste immer blutiger war als der vorangegangene. 2020 verlor die armenische Regierung in Eriwan an Boden und konnte ihre Waffenarsenale nicht aufstocken, weil der traditionelle Lieferant und Sicherheitspartner Russland Waffen für den eigenen Krieg in der Ukraine zurückhielt. Folglich gewann die aserbaidschanische Staatsführung in Baku militärisch an Stärke und Selbstbewusstsein, gestützt auch durch Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen und den Rückhalt ihres strategischen Verbündeten Türkei.
Die Gefahr neuer militärischer Auseinandersetzungen ist gegeben.
Die Gefahr neuer militärischer Auseinandersetzungen ist somit gegeben. Bei der jüngsten Eskalation im vergangenen September übernahm das aserbaidschanische Militär wichtige Bergstellungen tief in armenischem Territorium. Von der Frontlinie im Süden Armeniens geht nun eine besondere Bedrohung aus. Flackern dort die Kämpfe wieder auf, könnten die aserbaidschanischen Truppen vorrücken und Armenien in zwei Teile zerschneiden, mit schwerwiegenden humanitären Folgen für die über 200 000 Menschen, die im südlichen Grenzgebiet leben und womöglich vom Rest des Landes abgetrennt würden.
Aserbaidschanisches Militär könnte auch die einzige befahrbare Straße nach Bergkarabach, den sogenannten Latschin-Korridor, unter seine Kontrolle bringen; von Baku unterstützte Aktivisten blockieren bereits seit über zwei Monaten dieses Nadelöhr und verursachen dadurch eine humanitäre Krise, weil der Nachschub an Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung für die ansässige Bevölkerung stockt. Baku könnte in einem neuerlichen Vorstoß weitere Gebiete erobern und so die armenische Führung zusätzlich unter Druck setzen, Zugeständnisse in den Friedensgesprächen zu machen, die sich ungeachtet der Feindseligkeiten hinziehen. So aber lässt sich vermutlich kein stabiles und nachhaltiges Abkommen für die Region erzielen.
Armenien möchte sich nach Jahrzehnten der Partnerschaft nicht mehr allein auf seinen strategischen Verbündeten Russland verlassen.
Mit seiner Entscheidung, EU-Beobachter einzuladen, demonstriert Armenien, dass es sich nach Jahrzehnten der Partnerschaft nicht mehr allein auf seinen strategischen Verbündeten Russland verlassen mag. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor einem Jahr hat Aserbaidschan, weil Moskau offenkundig abgelenkt war, drei größere Angriffe gefahren, die seine militärische Position jeweils spürbar gestärkt haben. Weder die russischen Friedenstruppen in Bergkarabach noch russische Soldaten und Wachen entlang der armenischen Grenzen haben etwas gegen diese Vorstöße unternommen. Deshalb verschmähte Armenien im Herbst das Angebot der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), eines Militärbündnisses unter russischer Führung, an der Grenze zu Aserbaidschan mehr Soldaten zu stationieren, und bat stattdessen die Europäische Union um Beistand.
Mit der Beobachtermission stärkt die EU ihre erst vor einem Jahr übernommene Rolle als Vermittlerin zwischen Armenien und Aserbaidschan im Streit um die Region Bergkarabach. Beide Staaten gehören seit 2009 der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union an, doch bis vor kurzem war Russland die wichtigste Macht der Region. Moskau unterhielt enge bilaterale Beziehungen zu beiden kaukasischen Ländern und vertrat die OVKS in der Minsker Gruppe, deren Vorsitz sie seit Mitte der 1990er Jahre gemeinsam mit Frankreich und den USA innehat. Nun kann Russland nicht mehr allein den Ton angeben, sondern muss die diplomatische Vermittlerrolle der EU in der Auseinandersetzung zwischen Baku und Eriwan berücksichtigen.
Die EU muss auch eine verbesserte Zusammenarbeit mit Aserbaidschan anstreben.
Die EU hat die Aufgabe, für die zweijährige Mission noch zahlreiche operative Details zu erarbeiten. Es ist der erste eigenständige und langfristig angelegte zivile Einsatz in einem Land, das sich formal in einem Sicherheitsbündnis mit Russland befindet. Die EU-Mitgliedstaaten müssen erklären, wie viele Personen sie jeweils entsenden, ob also die vereinbarte Gesamtstärke von etwa 100 Beobachtern erreicht wird. Es steht viel auf dem Spiel, und sollte es an Geld, Personal oder einem hinreichenden Mandat mangeln, kann die Mission auch scheitern.
Zudem muss die EU eine verbesserte Zusammenarbeit mit Aserbaidschan anstreben. Armenien erlaubt den Beobachtern uneingeschränkten Zutritt, doch wenn die Beobachter zuverlässig über sicherheitsrelevante Vorfälle berichten sollen, brauchen sie dieselben Rechte in Aserbaidschan. Baku ist nach wie vor skeptisch und möchte EU-Beobachtern den Zutritt zu seinem Staatsgebiet nicht erlauben. Bleibt es bei dieser Haltung, muss die EU in der Nähe gefährlicher Gebiete mit häufigen Schusswechseln die Sicherheit ihres Personals mit anderen Mitteln gewährleisten.
Auch die dritte wichtige Partei in der Region muss die EU-Mission berücksichtigen, nämlich Russland.
Auch die dritte wichtige Partei in der Region muss die EU-Mission berücksichtigen, nämlich Russland, das entlang der armenischen Grenze zu Aserbaidschan Soldaten und Grenzwachen stationiert hat. Da die Lage durch den Krieg in der Ukraine kompliziert geworden ist, gilt es für die EU nun erst recht, zu einer Kooperation mit den Russen vor Ort zu gelangen. Kontakte in der Region können einen nützlichen Informationsaustausch ermöglichen, Spannungen vermeiden und Missverständnisse ausräumen. Organisatorisch sind die russischen Kräfte in armenische Strukturen eingebunden, was die Zusammenarbeit mit den EU-Beobachtern zumindest auf Fachebene erleichtern dürfte.
Die Europäische Union sollte ihrer Mission die nötigen Instrumente an die Hand geben, um den Dialog zwischen armenischen und aserbaidschanischen Militär- und Grenzbeamten zu erleichtern, sofern dies dazu beitragen kann, Gewalt zu verhindern oder einzudämmen. Andernorts wird das bereits erfolgreich praktiziert, zum Beispiel in der EU-Beobachtermission in Georgien, die es Tiflis, den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien und dem in diesen Regionen stationierten russischen Sicherheitspersonal ermöglichte, miteinander zu reden. Die Mission half bei der Einrichtung einer „Hotline“ für die Verantwortlichen, die entlang der Trennlinien in den Konfliktgebieten für die Sicherheit zuständig sind, und arrangierte persönliche Treffen. Ähnliche Maßnahmen könnten sich an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze als nützlich erweisen.
Seit sich Russland auf den Krieg in der Ukraine konzentriert, agiert die Europäische Union als Vermittlerin zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die diplomatischen Bemühungen werden jedoch scheitern, wenn sich die beiden Länder in immer tödlichere militärische Auseinandersetzungen verstricken. Mit der Entsendung der Mission nach Armenien hat die EU ihre politische Bereitschaft unter Beweis gestellt, bei der Vermeidung von Konflikten eine neue und zentrale Rolle zu übernehmen. Nun aber muss sie ihren Beobachtern auch das flexible Mandat, die diplomatische Unterstützung und die finanziellen Mittel zugestehen, die sie für die erfolgreiche Durchführung der Mission benötigen.
Aus dem Englischen von Anne Emmert