Der Mensch ist bereit, so einiges zu tun, um die eigene Haut zu retten. Wenige demonstrieren das derzeit so anschaulich wie Spaniens zwei Nationaltrainer nach der Rubiales-Affäre. Die Lächerlichkeit ist allgegenwärtig. Die Nationaltrainer Luis de la Fuente, der die Männer trainiert, und Jorge Vilda, verantwortlich für die Frauennationalelf, distanzieren sich klar und deutlich von ihrem Kollegen und Freund Luis Rubiales, nachdem sie kurz zuvor noch lautstark geklatscht hatten, als dieser von „falschem Feminismus“ sprach und behauptete, „sozial ermordet“ zu werden. Eine solche plötzliche Wende gegen den Verbandschef kam wenig überraschend. Und die beiden werden in der Debatte nicht die einzigen sein, die verzweifelt versuchen, ihre eigene Haut zu retten.
Die Welt ist seit #Metoo nicht mehr dieselbe. Immer mehr Regierungen, Vereine und Organisationen schreiben sich Sexismusbekämpfung auf die Fahnen, Solidarität wird feierlich angekündigt. Die Empörung über den ungewollten Kuss beim WM-Finale, die momentan durch die Medien weltweit geht, scheint der perfekte Beweis dafür zu sein, dass wir in einer aufgeklärten Welt leben, in der die Integrität jedes Menschen zu achten ist und ein Verstoß gegen sie geächtet wird.
Der Sexismus im Sport ist nicht unabhängig von dem im Großraumbüro oder Schwimmbad.
Nun muss auch die Illusion, Politik sei vom Sport fernzuhalten, dran glauben. Gerade im Sport hat das Patriarchat seine Finger – wenn nicht sogar beide Hände – im Spiel. Der Sexismus im Sport ist nicht unabhängig von dem im Großraumbüro oder Schwimmbad. Er bedient sich der gleichen Mittel: Manipulation, Kontrolle, Verharmlosung. Egal wo und egal von wem er reproduziert wird, ob Mann oder Frau, ob beabsichtigt oder aus Versehen, er wandert in den letzten Winkel einer Gesellschaft, und solange diese Eigenschaft nicht erkannt und ausgesprochen wird, handelt es sich bei jedem Protest lediglich um Symptombekämpfung.
Groß ist der Aufschrei über den Kuss und die skandalöse Reaktion des spanischen Fußballverbands im Anschluss. Unter anderem äußerten sich der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, die Arbeitsministerin Yolanda Diaz sowie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und zeigten sich geschockt. Der vorherrschende Kanon: So etwas dürfe man nicht dulden. So etwas darf in einer progressiven Gesellschaft nicht passieren. Die spanische Staatsanwaltschaft leitete sogar Ermittlungen wegen mutmaßlicher sexueller Nötigung gegen Rubiales ein. Hermoso bekommt die Unterstützung, die sich alle Opfer von sexualisierter, häuslicher, psychischer wie physischer Gewalt wünschen – die Unterstützung, die sie verdienen. Während die Welt für Gerechtigkeit aufsteht, weil sie Sexismus live im Fernsehen beobachtet hat und den Rücktritt von Rubiales fordert, sitzen Millionen Frauen vor ihren Fernsehern und fühlen sich in ihrem alltäglichen Leiden endlich gesehen.
Der lautstarke Protest, der in den sozialen und traditionellen Medien um die Welt geht, kommt einem Moment des Erwachens gleich.
Der lautstarke Protest, der in den sozialen und traditionellen Medien um die Welt geht, kommt einem Moment des Erwachens gleich. Auf einmal haben alle eine Meinung und die Debatte wird an Abendbrottischen, in der Bahn und im Büro geführt. Ein Ruck in die richtige Richtung scheint möglich. Wenn wir diese Chance zu nutzen wissen.
Denn die Gesellschaft muss jetzt dranbleiben. Sich festbeißen in der eigenen Wut, Kraft tanken aus der Solidarität, die aus allen Richtungen kommt. Ein Event solchen Ausmaßes, welches mehrheitlich von der Solidarisierung mit einer Frau und ihrem Recht auf Integrität getragen wird, darf nicht vorübergehen, ohne dass tiefgreifende Konsequenzen gezogen werden.
Denn so wichtig die Reden von Politikerinnen und Politikern und die hitzigen Online-Debatten auch sind, in einem bisher unvergleichbaren Ereignis wie diesem besteht die Gefahr, die Chance auf Veränderung auf halber Strecke zu ersticken. Wenn versäumt wird, es in den patriarchalen Kontext einzuordnen, und es stattdessen als Einzelevent verbucht wird, ist dies keine Feminismusbewegung. Keine Revolution der Geschlechtergerechtigkeit. Es wäre lediglich eine Scheinvorstellung, ein Theaterstück, das so komponiert ist, dass sich am Ende alle besser fühlen können. Das Ziel – der Rücktritt Rubiales – ist greifbar nah und wenn es passiert, ist es angebracht, sich dafür auf die Schulter zu klopfen. Es ist jedoch leicht zu übersehen, dass die wahre Arbeit noch vor uns liegt. Denn wenn man meint, es reiche aus, einen Mann von der Bühne zu zerren, aber die Drehbuchautorinnen, die Bühnenbildner und das ignorante Publikum vergessen werden, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Karten für den zweiten Akt verkauft werden.
Nicht „nur“ ein ungewollter Kuss im Live-Fernsehen, auch eine sexistische Bemerkung am Arbeitsplatz und eine ungerechte Aufteilung der Care-Arbeit verdienen ihre eigenen Aufschreie.
Dieses Event muss etwas in den Köpfen der Menschen verändern. Es muss Fragen ins Bewusstsein rufen, die sich bei jeder neuen Begegnung, bei jeder E-Mail, bei jedem Einkauf und bei jedem Kinobesuch automatisch aufs Neue stellen. Fragen, die die bisher für viele unsichtbaren Fäden des Sexismus aufdecken. Nicht „nur“ ein ungewollter Kuss im Live-Fernsehen, auch eine sexistische Bemerkung am Arbeitsplatz und eine ungerechte Aufteilung der Care-Arbeit verdienen ihre eigenen Aufschreie, die eigene Anprangerung, wenn sich wirklich etwas ändern soll.
Wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, alle Ausprägungen von Sexismus zu sehen, zieht diese Chance ungenutzt dahin und es ändert sich wenig bis nichts auf langfristige Sicht. Man könnte leicht in die Annahme abrutschen, es sei genug getan, bis es ein weiterer Kuss, eine Vergewaltigung oder ein Femizid weit genug in die öffentliche Debatte schaffen, um geächtet zu werden. Verblendet von freudiger Erinnerung an den Sieg über einen bösen Sexisten, könnte das den Fortschritt lähmen. Das wäre gefährlicher für den Feminismus als jeder Macho in einer Führungsposition.
Aufstehen gegen Rubiales ist das einzig Richtige. Aber das System, für das seine Handlungen und die seines Verbandes stehen, darf nicht aus den Augen verloren werden. Die Macht, die sich in subtilem Alltagssexismus verbirgt, ist es ebenso wert, entrüstet getadelt zu werden. Andernfalls, besonders durch Nichtstun, reproduziert man ein System der Ungleichheit, in welchem Frauen weniger Mitsprache haben als Männer, als weniger wertvoll angesehen werden als Männer. Ein System sozialer Benachteiligung, das nicht nur Frauen schadet, sondern die ganze Gesellschaft schwächt.
Wir kommen nicht umhin, ganz unten, in den Tiefen der gesellschaftlichen Strukturen anzufangen, und dürfen nicht aufhören, bis niemand mehr auch nur auf den Gedanken kommen würde, jemanden ohne Einwilligung zu küssen. Erst dann können wir von einem wirklichen Erfolg für den Feminismus sprechen.