Ami Ayalon, früherer Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes, gestand kürzlich in einem Interview mit dem New Statesman mit entwaffnender Offenheit: „Wir müssen davon ausgehen, dass wir einen Krieg mit der Hisbollah führen werden, nicht weil wir oder sie es wollen, sondern weil wir die Kontrolle verlieren.“ Dieses Gefühl der Ohnmacht beschränkt sich nicht auf den Libanon oder den Israel-Palästina-Konflikt.

Wir wollten keinen Krieg mit Russland, aber wir haben jeden Einfluss auf das übergriffige Verhalten von Präsident Wladimir Putin verloren. Wir wissen, dass unkontrollierte Märkte erneut abstürzen und massive soziale Schäden verursachen können, aber wir verfügen nicht über die nötigen Werkzeuge, um die globalen Märkte in Einklang zu bringen. Wir verstehen die schrecklichen Folgen des Klimawandels, aber wir brechen immer wieder unsere eigenen Umweltversprechen unter dem Druck von Unternehmen, Landwirten oder Dieselfans. Wir beklagen den raschen oder gar wilden Fortschritt der Künstlichen Intelligenz, aber wir wollen trotzdem erst einmal abwarten. Wir rechnen mit einer neuen Gesundheitsgefahr durch unbekannte Viren oder multiresistente Keime, aber der Abbau der öffentlichen Gesundheitssysteme schreitet ungehindert voran.

Wir wissen, dass unkontrollierte Märkte erneut abstürzen und massive soziale Schäden verursachen können, aber wir verfügen nicht über die nötigen Werkzeuge, um die globalen Märkte in Einklang zu bringen.

Gegen dieses Gefühl der Ohnmacht braucht es vielmehr eine sozialpsychologische als eine politische Therapie. Apokalyptiker werden nie an eine bessere Zukunft glauben, ganz gleich, was geschieht. Allerdings waren sogar berühmte Pessimisten wie Thomas Hobbes überzeugt, eine Regierung könne und solle etwas bewirken: Nur in einem „Naturzustand“ ohne Leviathan sei das Leben „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ gewesen, ein Kampf „aller gegen alle“. Leider glauben heute nur noch wenige Menschen, Regierungen könnten unsere Zukunft sichern.

In den 1980er Jahren galt ich als naiver Optimist, wenn ich erklärte, dass Arbeiterstreiks in Polen oder Lichterketten im Baltikum die Sowjetunion und die Berliner Mauer zum Einsturz bringen könnten. Ich bin immer noch überzeugt, dass reiche und gebildete Europäerinnen und Europäer die „Polykrise“ unserer Zeit überwinden können. Wir konnten Russland daran hindern, die gesamte Ukraine zu besetzen, die europäische Schuldenkrise von 2009/10 wurde eingehegt, ständig werden neue Medikamente entdeckt, und die gerade beschlossene KI-Verordnung der EU bietet den Bürgerinnen und Bürgern zumindest einen gewissen Schutz vor neuen Überwachungstechnologien.

Dennoch wird der Europäische Green Deal gerade vor unseren Augen rückgängig gemacht wird – mit verheerenden, vor allem mittel- bis langfristigen Folgen. Das Wettrüsten beschleunigt sich und vertrauensbildende Maßnahmen nehmen ab, was das Risiko eines mutwilligen oder fahrlässigen Kriegsausbruchs erhöht. Die Finanz- und Migrationskrisen werden zwar eingehegt, aber die zugrunde liegenden Probleme nicht befriedigend gelöst, sodass sie in verschärfter Form zurückkehren könnten.

All diese einzelnen Herausforderungen verstärken sich zudem gegenseitig. Wir können über die Bedeutung dieser oder jener Bedrohung diskutieren und entsprechende Untergangsprophezeiungen hinterfragen. Dennoch muss man feststellen, dass sich zahlreiche grundsätzliche Probleme anhäufen, die ohne angemessene Lösungen nicht einfach verschwinden werden. Wie sind wir in dieses Durcheinander geraten?

Diese emotionale Polarisierung macht es schwer, politische Maßnahmen zu treffen, die auf breite öffentliche Zustimmung stoßen.

Gewöhnlich werden inkompetente oder böswillige Politiker für den beklagenswerten Zustand unserer Regierungsführung verantwortlich gemacht. Das Problem daran ist, dass wir je nach ideologischer Haltung unterschiedliche Politikerinnen und Politiker beschuldigen. Wer Liberale aus den Mitte-rechts- oder Mitte-links-Parteien wählt, kritisiert Populisten für Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, „alternative Fakten“, wenn nicht gar offene Lügen, und autoritäre Tendenzen, die die Demokratie untergraben. Wer Populistinnen und Populisten wählt, beschuldigt die Liberalen, die gewöhnlichen Leute zu vernachlässigen und immer mehr Macht auf die Märkte und nicht gewählte Institutionen wie die Europäische Kommission, Zentralbanken oder Verfassungsgerichte zu übertragen. Liberale werden zudem bezichtigt, die Grenzen für „illegale“ Migrantinnen und Migranten, „subventionierte“ chinesische Produkte und „fremde“ Kulturen zu öffnen.

Diese emotionale Polarisierung macht es schwer, politische Maßnahmen zu treffen, die auf breite öffentliche Zustimmung stoßen. Diese Unterstützung braucht man aber, um all die komplexen Herausforderungen auf entschiedene, kohärente, langfristige und parteiübergreifende Weise anzugehen. Allerdings bleiben die Probleme auch dann bestehen, wenn sich Populisten und Liberale einigen, was darauf hindeutet, dass Polarisierung nur einer von vielen Faktoren ist, die unseren Mangel an Kontrolle in dieser chaotischen Gemengelage erklären.

Beispielsweise brachte die russische Invasion in der Ukraine so gegensätzliche politische Akteure zusammen wie den sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und die italienische Rechtsaußen-Premierministerin Giorgia Meloni, die zur europäischen Opposition zählt. Doch selbst mit vereinten Kräften gelang es ihnen nicht, die russische Aggression zu stoppen – mit verheerenden Folgen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die gesamte EU.

Wirtschaftssanktionen bieten zwar eine überzeugende Alternative zu direktem militärischem Eingreifen, aber damit allein lässt sich kein Aggressor aufhalten.

Ich will damit nicht sagen, wir hätten europäische Truppen in die Ukraine entsenden oder im Gegenteil die Ukraine aufgeben sollen. Es geht darum, dass auch wohlmeinende Politik auf manch irreführenden Annahmen beruht. So glaubten wir etwa, die Ukraine könne sich selbst verteidigen, ohne das russische Kernland anzugreifen. Die Lieferung offensiver statt rein defensiver Waffen an die Ukraine wurde korrekt als Eskalation bewertet, doch dem lag die Annahme zugrunde, die Kosten der Kriegsführung wären für Russland bald nicht mehr tragbar. Diese Kosten fielen niedriger aus, weil auch unsere Sanktionen nur bescheidene Wirkung zeigten. Wirtschaftssanktionen bieten zwar eine überzeugende Alternative zu direktem militärischem Eingreifen, aber damit allein lässt sich kein Aggressor aufhalten.

Es war auch eine Illusion zu glauben, die europäischen Gesellschaften könnten ohne bedeutende Unterstützung der öffentlichen Hand die Kosten des Krieges bewältigen. Die Anzahl der Geflüchteten oder der Import von Getreide aus der Ukraine beeinträchtigte viele gesellschaftliche Gruppen, die von den Staaten vernachlässigt wurden. Die Investitionen in der Ukraine stammen ebenfalls aus den Taschen anderer und es wurden kaum Anstrengungen unternommen, diese Kosten gleichmäßig zu verteilen. Wütende Bürgerinnen und Bürger gingen auf die Straße und das setzte Regierungen und deren Maßnahmen unter Druck.

Ohne eine europäische Armee lässt sich Putin nur schwer beeindrucken.

Unsere Hoffnung, die Welt würde Europa helfen, das Problem an der Ostgrenze zu lösen, war ebenfalls fehlgeleitet. In Afrika, Lateinamerika, Asien und im Mittleren Osten gab es wenig Sympathien für das reiche und selbstsüchtige Europa. Trotz der verspäteten Unterstützung des US-Kongresses, der Ende April erst die Ukraine-Hilfen freigab, besteht selbst in Nordamerika die weit verbreitete Überzeugung, die Ukraine sei im Wesentlichen ein europäisches Problem. Und ohne eine europäische Armee lässt sich Putin nur schwer beeindrucken.

Angesichts unserer Unfähigkeit, die Ostgrenze Europas zu sichern, wird deutlich, dass man die Kontrolle über schwerwiegende Probleme nicht einfach mit einer geeinten, auf edle Ziele verpflichteten Führung zurückerlangt. Vielleicht ist die Demokratie nicht länger in der Lage, die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in den „hybriden“ Problemlagen von heute zu erfüllen. Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass nicht Europa, sondern China das 21. Jahrhundert bestimmen wird.

Obwohl Autokratien wie China und Russland viel Schaden anrichten können, weiß ich aus meiner Lebenserfahrung auf der „falschen Seite“ des Eisernen Vorhangs, dass sie längst nicht so mächtig sind, wie sie scheinen. Die wichtigste Quelle der Macht ist Wissen, das auf der Freiheit des Denkens und des Meinungsaustauschs beruht. Wie Napoleons Außenminister Talleyrand in einem berühmten Bonmot sagte: „Sie können mit Bajonetten allerlei ausrichten, aber Sie können nicht darauf sitzen.“ Die Geschichte zeigt, dass alle Völker früher oder später Freiheit fordern – und wenn sie das tun, erzittern die Autokratien.

Macht ist jedoch ein relativer, kein absoluter Begriff. Autokratien können erstarken, wenn Demokratien schwächeln. Die Mängel der Demokratie beunruhigen mich am meisten, weil sie unseren wichtigsten Vorteil gegenüber den Autokratien untergraben. Was können wir tun, um demokratische Regierungsführung zu stärken?

Zunächst müssen wir die Polarisierung überwinden, die jeden wichtigen Kompromiss verhindert, der zu einem neuen Gesellschaftsvertrag führen könnte. Eine Regierung, die sich nicht auf einen Gesellschaftsvertrag stützen kann, agiert schwach und willkürlich. Demokratie kann nicht nur für die jeweilige Bevölkerung ausgeübt werden, sie muss von ihr gestaltet werden. Wahlen können zu Regierungswechseln führen, aber die Bürgerinnen und Bürger haben nicht das Gefühl, dass ihre Stimme zählt.

Deshalb sind die meisten Bürgerinnen und Bürger in Europa mit der demokratischen Funktionsweise ihrer Länder nicht zufrieden. Wenn wir glauben, ein integriertes Europa könne uns helfen, in dieser unruhigen Lage ein Stück weit die Kontrolle zurückzugewinnen, dann brauchen wir auch auf europäischer Ebene einen echten Gesellschaftsvertrag. Das aktuelle Wiedererstarken von Nationalismus und Souveränitätsdenken deutet allerdings nicht in diese Richtung.

Zweitens müssen wir den räumlichen und zeitlichen Horizont der Demokratie erweitern. Demokratische Regierungsführung findet weiterhin nur innerhalb der Grenzen von Nationalstaaten statt und verteidigt die kurzfristigen Interessen der heutigen Wählenden. Kein Wunder, dass die Demokratie in einer zunehmend vernetzten Hochgeschwindigkeitswelt ins Stolpern gerät.

Wer für Demokratie werben will, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Wie kann eine nationale Regierung Weltkonzerne effektiv regulieren? Erfolgreiche Migrationspolitik erfordert das langfristige Engagement zahlreicher Akteure an weit entfernten Schauplätzen, die die Ursachen der Migration wie Krieg oder Armut bekämpfen. Der Klimawandel wird vor allem künftige Generationen betreffen, die bei heutigen Wahlen keine Stimme haben und daher vom politischen Radar verschwinden. Das Internet hat unseren Begriff von Zeit und Raum verändert, doch die Demokratie hat das kaum zur Kenntnis genommen – das sollten wir verändern.

Drittens müssen wir unsere Anstrengungen, im Ausland für Demokratie zu werben, intensivieren und nicht aufgeben. In der „flachen Welt“ von heute brauchen wir nämlich echte Partner, um Frieden, soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung zu fördern. Nach den gescheiterten Versuchen einer Demokratisierung in Afghanistan und Irak fordern manche die Rückkehr zu einer Geopolitik alter Schule, die auf strategische Bündnisse mit Autokraten setzte, während andere sich lieber auf den eigenen Hinterhof konzentrieren wollen. Eine EU, die um den eigenen Nabel kreist und nur mit ihren Problemen beschäftigt ist, wird jedoch kaum Unterstützung gewinnen – und wer Autokraten umgarnt, ist nicht nur unmoralisch, sondern dumm: Haben wir die tragischen Geschichten unserer „strategischen Bündnisse“ mit Reza Pahlavi im Iran, Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien oder Muammar Gaddafi in Libyen schon vergessen?

Wer für Demokratie werben will, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir zeigen können, dass unsere Demokratien in der Lage sind, Gesellschaftsverträge zu vereinbaren, die zu Frieden und Wohlstand führen, werden Menschen in anderen Teilen der Welt Lust bekommen, diesem Beispiel zu folgen. Europa wird seine Attraktivität nicht durch herablassende Reden und die Gewährung rein paternalistischer Unterstützung wiedergewinnen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Sabine Jainski