Die Vereinigten Staaten sind auf mehreren Ebenen politisch gespalten – unter anderem ethnisch, geografisch und bezüglich des Bildungsgrads. Vor den Wahlen im November, bei denen das Wahlvolk sich wie 2016 zwischen einer Demokratin und einem Republikaner zu entscheiden hat, dürfte die deutlichste Trennlinie das Geschlecht sein. Allerdings herrscht in Studien, Meinungsumfragen und der politischen Fachwelt Uneinigkeit in der Frage, wie weit Männer und Frauen auseinanderliegen und was diese Zweiteilung für die amerikanische Politik tatsächlich bedeutet. Der Geschlechterkampf ist viel komplexer, als es zunächst scheinen mag.
Dass Männer und Frauen in Amerika in vielerlei Hinsicht auseinanderdriften, ist Fakt. Nachdem sie in den vergangenen 50 Jahren zum Beispiel in der Abtreibungsfrage erstaunlich ähnliche Ansichten vertreten hatten, stieg in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Frauen, die für das Recht auf Abtreibung sind, sprunghaft an. 1995 war der Anteil derer, die sich für das Recht auf Abtreibung aussprachen, bei den Frauen nur ein Prozentpunkt größer als bei den Männern. Heute ist der Anteil der Frauen, die das Recht auf Abtreibung befürworten, 14 Prozentpunkte größer als bei den Männern – das ist der höchste jemals verzeichnete Wert.
1999 war in der Altersgruppe der 18- bis 29-jährigen Frauen der Anteil derer, die sich als „sehr liberal“ bezeichneten, fünf Prozentpunkte größer als bei den Männern. 2023 betrug der Unterschied bereits 15 Prozent. Während junge Frauen sich tendenziell eindeutig nach links bewegen, deutet einiges darauf hin, dass junge Männer nach rechts driften. Von 2017 bis 2024 hat sich der Anteil der unter 30-jährigen Männer, die der Meinung sind, die USA seien bei der Geschlechtergleichstellung „zu weit gegangen“, mehr als verdoppelt. Dies ergeben die Daten von Daniel Cox, Senior Fellow am marktliberalen Thinktank American Enterprise Institute. Nach den Daten von Gallup tendieren junge Männer heute mehr als je zuvor in diesem Jahrhundert zu den Republikanern.
So weit scheint die Sache ziemlich simpel zu sein: Männer – insbesondere junge Männer – drängen vehement nach rechts, während Frauen – insbesondere junge Frauen – langsam nach links tendieren. Doch so einfach ist es leider nicht. Wie meine Kollegin Rose Horowitch schrieb, bewegen sich die politischen Einstellungen von Männern und Frauen gar nicht so rasant auseinander. An den Wahlurnen ist der Gender-Gap seit Langem mehr oder weniger unverändert. Männer ziehen seit Jahrzehnten republikanische Kandidaten vor, Frauen neigen seit Jahrzehnten tendenziell den Demokraten zu. Nach einer Auswertung der Wählerdaten für 2024, so Horowitch, sei Catalist – ein progressives Unternehmen, das Wahlmodelle entwickelt – zu dem Ergebnis gekommen, „dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den letzten Wahlen für alle Altersgruppen in etwa gleich groß waren“.
Ein Erklärungsversuch für diese scheinbaren Widersprüche lautet, dass die besorgniserregenden Umfragen die Zukunft vorwegnehmen und wir im November einen neuen Höchststand der Geschlechterpolarisierung erleben werden, wenn nämlich Frauen überwiegend für Kamala Harris und Männer mit überwältigender Mehrheit für Donald Trump stimmen werden. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Umfragen etwas irreführend seien und die Geschlechterpolarisierung ihren Höhepunkt bereits überschritten habe. Wenn dies zuträfe, wäre das Ganze viel Lärm um nichts. Am interessantesten ist jedoch eine dritte Möglichkeit. Der Politikwissenschaftler John Sides von der Vanderbilt University hält den Gender-Gap für durchaus real, er ist aber der Meinung, dass er eben nicht das sei, was viele Leute sich darunter vorstellen. „Die parteipolitische Polarisierung“, so Sides, „beruht mehr auf geschlechtsspezifischen Einstellungen als auf dem Geschlechterunterschied selbst.“
Die Spaltung zwischen den politischen Parteien basiert mehr auf deren Ansichten über die Geschlechter als auf dem Geschlechterunterschied selbst.
Wem das ein wenig zu akademisch klingt, versuche es mit einem Gedankenexperiment, um das Ganze zu veranschaulichen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer Mauer. Auf der anderen Seite der Mauer befinden sich 100 amerikanische Wählerinnen und Wähler, die Sie nicht sehen können. Sie sollen möglichst genau erraten, wie viele der Menschen auf der anderen Seite der Mauer Republikaner sind. Dabei dürfen Sie nur eine der beiden folgenden Fragen stellen: „Sind Sie ein Mann?“ Oder: „Sind Sie der Meinung, dass Männer heutzutage in Amerika stark diskriminiert werden?“ Bei der ersten Frage geht es um das Geschlecht, bei der zweiten um geschlechtsspezifische Einstellungen – also darum, wie die Gesellschaft mit Männern und Frauen umgeht. Laut Sides ermöglicht die zweite Frage eine viel zutreffendere Einschätzung bezüglich der Parteizugehörigkeit als die erste. Die Parteien böten nämlich unter Geschlechtergesichtspunkten keineswegs ein geschlossenes Bild, meint Sides. Schließlich werden dieses Jahr Millionen Frauen für Trump stimmen. Was die Parteien hingegen deutlich voneinander trenne, seien ihre kulturellen Einstellungen zu den Geschlechterrollen und zu der Frage, wie es sich anfühlt, in Amerika ein Mann oder eine Frau zu sein.
Die Umfragewerte bestätigen diese Aussage. In der VOTER-Erhebung (Views of the Electorate Research) vom März 2024 bezeichneten 39 Prozent der Männer sich als Republikaner; bei den Frauen waren es 33 Prozent – ein Unterschied von sechs Prozentpunkten. Doch als in der VOTER-Erhebung die Teilnehmenden gefragt wurden, wie die Gesellschaft mit Männern und Frauen umgehe beziehungsweise umgehen sollte, war der Gender-Gap auf einmal sehr viel größer. 61 Prozent der Demokraten gaben an, Frauen würden „stark“ oder „sehr stark“ diskriminiert. Bei den Republikanern waren nur 19 Prozent dieser Meinung. In diesem Fall war die Diskrepanz bei der Einstellung zum Geschlechterunterschied mehr als sechsmal so groß wie der gemeinhin breiter diskutierte Gender-Gap. Für John Sides liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Die Spaltung zwischen den politischen Parteien basiert mehr auf deren Ansichten über die Geschlechter als auf dem Geschlechterunterschied selbst. Der springende Punkt ist nicht: „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus.“ Sondern: „Republikanische Männer und Frauen sind vom Mars, demokratische Männer und Frauen von der Venus.“
Die amerikanischen Parteien senden hochgradig geschlechtsspezifische Botschaften aus, und die Nachrichtenmedien verstärken den Eindruck, die Parteien würden für männliche und weibliche Archetypen stehen. „Das ist die ‚Boys versus Girls‘-Wahl“, schrieben Mike Allen und Jim VandeHei in Axios bereits, als Kamala Harris noch gar nicht die voraussichtliche Kandidatin der Demokraten war. In dem Artikel werden Trump-Berater zitiert, für die der Parteitag der Republikaner eine Gelegenheit gewesen sei, die Grand Old Party als „Testosteron-Partei“ zu vermarkten, die „Donald Trumps brusttrommelnden Macho-Appeal gegen einen Joe Biden auffährt, der softer ist und sich vor allem um reproduktive Rechte und allumfassende Gender-Inklusivität kümmert“.
Der politische Sprachgebrauch ist heute dermaßen geschlechtsspezifisch kodiert, dass sich bestimmte Zitate blind den einzelnen Parteien zuordnen lassen. Wenn sich ein Politiker darüber beschwert, die gegnerische Partei werde „von lauter kinderlosen Katzenladys“ dominiert, kann es sich nur um die Aussage eines Republikaners handeln – in diesem Fall um J. D. Vance vor ein paar Jahren in einem Interview mit Tucker Carlson. Beschuldigt ein Politiker die gegnerische Partei als „Verein Frauen hassender He-Man-Gestalten“, spricht ganz offensichtlich ein Demokrat – in diesem Fall der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, in seiner Charakterisierung des Republikaner-Duos Trump/Vance und ihres Parteitags.
Doch es gibt einen Unterschied zwischen einer ausgeprägten Geschlechterrhetorik und einer kohärenten Vision von Weiblichkeit oder Männlichkeit. Die Republikaner haben mehrere Visionen von Männlichkeit auf Lager, die ungeschickt miteinander vermischt werden. Trump ist ein dreimal verheirateter Schwerenöter, der das effekthascherische Auftreten eines Profi-Wrestlers mit der Wut eines Menschen kombiniert, der beleidigt ist, weil er an der Tür eines Country-Clubs abgewiesen wurde. Das Resultat ist eine explosive Mischung aus aufgesetztem Macho-Getöse und tiefsitzenden Ressentiments gegen die Elite. Ein passender Begriff für diese Mixtur wäre „Alphatier-Opfer-Männlichkeit“.
Frauen machen die Mehrheit der Wählerschaft aus und überstimmen die Männer bei jeder Wahl millionenfach.
Erschwerend kommt hinzu, dass Trump zum dritten Mal hintereinander mit einem Vize-Kandidaten antritt, der stramm christlich ist und eine ausgesprochen konservative und traditionelle Vorstellung vom Verhältnis der Geschlechter vertritt. Als Trump seine Promiskuität protzend zur Schau stellte, gab sein Vizepräsident Mike Pence sich demonstrativ züchtig. Während Trumps Umgang mit Frauen ihm eine Verurteilung als Straftäter einbrachte, weigerte sich Pence, mit einer anderen Frau als seiner Ehefrau alleine zu speisen. Und im Gegensatz zu Trump, der zweimal geschieden ist, stellt sein neuer Vize-Kandidat Vance die Institution der Scheidung grundsätzlich infrage. 2021 bezeichnete Vance die Möglichkeit, Ehen schnell wieder zu lösen, als „einen der großen Streiche, die die sexuelle Revolution der amerikanischen Bevölkerung gespielt hat“, und übte harsche Kritik an der Idee, „die Leute sollten den Ehepartner leichter wechseln können als ihre Unterwäsche“.
Die Grand Old Party mag geschlechterpolitisch in der Anstands- und Scheidungsfrage uneins sein, aber es gibt einen Kitt, der die Partei zusammenhält: die nostalgische Sehnsucht nach sozialen Dominanzhierarchien und das Opponieren gegen die kosmopolitischen Sitten und Gebräuche der Linken. Der Historiker Gary Gerstle von der Universität Cambridge hat dargelegt, dass die aus der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre hervorgegangene progressive Bewegung sich einer Kulturpolitik verschrieben habe, die „sich von Traditionen, Ererbtem und festgeschriebenen gesellschaftlichen Rollen befreit hat“ und die „die Vorstellung ablehnt, dass die patriarchalische, heterosexuelle Familie zelebriert werden sollte“. Das Zauberwort der progressiven Geschlechterpolitik lautet nicht „Tradition“, sondern „Befreiung“ – verstanden als radikaler Bruch mit dem Zwang der Geschichte. Tradition (für die Konservativen ein Schutzwall) ist für die Progressiven eine Zwangsjacke.
Frauen machen die Mehrheit der Wählerschaft aus und überstimmen die Männer bei jeder Wahl millionenfach. Daher könnte es für die Demokraten strategisch klug sein, sich eine politische Sprache und ein politisches Programm zuzulegen, die besonders das weibliche Wahlvolk ansprechen. „Das Problem ist, dass auch Männer wählen“, meint allerdings Richard Reeves, Autor des Buchs Of Boys and Men. Die Linke ist inzwischen geschickter darin, toxische Männlichkeit mit Scham zu belegen, als mit einer positiv besetzten Männlichkeit aufzuwarten, die sich vom Weiblichen deutlich abhebt. Wer diesen Satz liest und progressiv eingestellt ist, wird vielleicht mit den Augen rollen bei dem Gedanken, jede linke politische Bewegung habe die Aufgabe, die Männer emotional zu hätscheln. Doch falls im November ein massiver Rechtsruck unter den jungen männlichen Wählern Trump zum Sieg verhelfen sollte, würden die Demokraten sich wohl oder übel eine neue Botschaft ausdenken müssen, um die Abwanderung der jungen Männer zu stoppen.
„Die Demokratische Partei hat sich offenbar bewusst dafür entschieden, jungen Männern keine politische Priorität einzuräumen“, meint Daniel Cox. Umgekehrt mache „die Grand Old Party sich unter Trump anscheinend keine Gedanken darüber, ob sie junge Frauen womöglich verprellen könnte“. Selbst wenn die amerikanische Politik 2024 zum Geschlechterkampf geraten sollte, muss dies deswegen noch lange kein Genderkonflikt sein. Hoffen wir, dass es dazu nie kommen wird. Worum es aber geht, ist ein Grundkonflikt zwischen den Parteien in der Frage, welche Rolle das Geschlecht spiele, was Geschlecht bedeute und wie Geschlecht zu definieren sei – und das ist, offen gesagt, schon seltsam genug.
© The Atlantic Online
Aus dem Englischen von Christine Hardung