„535“ lautet die Zahl des Jahres – zumindest für die globale Medienbranche. 46 Journalistinnen und Journalisten, Politblogger und andere Mitarbeiterinnen von Medienunternehmen sind in Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet worden. 489 Medienschaffende verbrachten das Jahr 2021 ganz oder teilweise hinter Gittern. Macht in der Summe 535. Bei den Inhaftierungen kam es allein binnen eines Jahres zu einer Steigerung von 20 Prozent und zum Höchststand seit 1995, vermeldete die NGO Reporter ohne Grenzen in ihrer Jahresbilanz. Nach Berechnungen der Journalisten-Vereinigung haben in den vergangenen 20 Jahren mehr als 1 600 Journalisten und Journalistinnen ihren Job nicht überlebt, deutlich mehr als die Hälfte davon im vergangenen Jahrzehnt. Ist das dennoch eine quantité négligeable gemessen an den Millionen Kriegstoten der jüngeren Vergangenheit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, denn es sollte nicht übersehen werden, dass die Menschen, die diesen Beruf ausüben, als Multiplikatoren wirken und die öffentliche Meinungsbildung erheblich beeinflussen. In aller Regel im Geiste der liberalen Demokratie.

Der spektakulärste Fall des Jahres 2021 trug sich im Luftraum Nordosteuropas zu. Mitte Mai soll ein Ryanair-Flieger den exilierten belarussischen Politblogger Roman Protasewitsch von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius bringen. Kurz vor dem Landeanflug, noch in einem belarussischen Überflugkorridor, dreht das Flugzeug jedoch plötzlich ab. Angeblich gibt es eine Bombendrohung. Ein belarussischer Kampfjet geleitet das Flugzeug nach Minsk. Und noch am Flughafen legen Geheimpolizisten dem Oppositionellen Protasewitsch die Handschellen an. Eine Mischung aus Entführung und Bauerntrick. Nach schweren Tagen im Folterkeller und einem kurzen Übertünchen der Marterspuren in der Maske wird Protasewitsch dann im Staatsfernsehen als „neuer Freund“ von Diktator Alexander Lukaschenko vorgeführt.

Die Grenzen zwischen klassischem Journalismus und politischem Aktivismus sind fließend geworden.

Der Fall zeigt nicht nur, wie menschenverachtend autoritäre Regime agieren können. Er zeigt auch, dass die Grenzen zwischen klassischem Journalismus, der nur über Ereignisse berichten und sie mit Bedacht einordnen will, und politischem Aktivismus fließend geworden sind. Denn Protasewitsch hat über seine Kanäle nicht nur Informationen geliefert, sondern auch politische Proteste organisiert. In Deutschland wird dies Haltung genannt, in vielen anderen Staaten Terrorismus.

Kein völlig identisches, aber meist ähnliches Muster der Journalistenverachtung findet sich in weiteren Ländern, die – in Abstufungen – ein strukturell toxisches Verhältnis zur Presse- und Meinungsfreiheit haben: China, Myanmar, Vietnam, Saudi-Arabien und viele mehr. Nicht zu vergessen die zahlreichen Kriegs- und Krisengebiete wie Afghanistan, Syrien, Libyen und der Jemen.

Allerdings leben Journalisten nicht nur bei den üblichen Verdächtigen besonders gefährlich, sondern auch in Ländern, die man zunächst einmal vielleicht nicht auf der Liste hat. Wie zum Beispiel in Mexiko. In der größten Demokratie Mittelamerikas werden Journalisten und Journalistinnen immer wieder ermordet oder verschwinden einfach für immer. So wurden 2021 in Mexiko mehr Journalisten ermordet als in Afghanistan. Dies mag in erster Linie an der brutalen Vorherrschaft der Drogenkartelle liegen. Allerdings hat sich auch der als linker Reformer gewählte Präsident López Obrador in seinen ersten drei Amtsjahren nicht gerade als Schutzpatron der Presse profiliert. Vielmehr gehört zu seinen häufigen Übungen die Medienschelte, die nicht selten die Vorstufe zu Versuchen bildet, die Meinungsfreiheit zu beschneiden.

Inzwischen haben die massiven Angriffe auf die Pressefreiheit auch die EU erreicht.

Inzwischen haben die massiven Angriffe auf die Pressefreiheit auch die EU erreicht. Im Oktober 2017 wurde auf Malta die Investigativ-Reporterin Daphne Caruana Galizia durch eine Autobombe getötet. Nur wenige Monate später wurde der slowakische Journalist Ján Kuciak zusammen mit seiner Verlobten per Kopfschuss förmlich hingerichtet. Beide Journalisten hatten über korrupte Verbindungen zwischen Regierungsmitgliedern und Unternehmern recherchiert. Im Juli 2021 wurde der niederländische Starjournalist Peter de Vries mitten in der Amsterdamer Fußgängerzone erschossen, mutmaßlich von einem Killer der Drogenmafia. Zu solchen Mitteln greifen die Feinde der freien Presse in EU-Ländern bislang noch selten. Weit häufiger als Killer bringen sie auf Medienrecht spezialisierte Rechtsanwälte zum Einsatz, die mit Hilfe von Klagen – meist wegen angeblicher Behauptung falscher Tatsachen – unliebsame Journalisten mundtot machen wollen.

Dass kritische Journalistinnen und Politblogger in vielen Ländern zunehmend unter Beschuss geraten, spiegelt einen größeren politischen Trend wider. Und zwar den, dass sich auf verschiedensten Erdteilen populistische und/oder autoritäre Regierungen ausbreiten, ob mit oder ohne demokratische Legitimation. Diese Staatsführungen reagieren nicht nur auf politische Fundamentalkritik äußerst gereizt, sondern auch auf Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft. Insofern kommt häufig die organisierte Kriminalität mit ins Spiel.

Staatsführungen reagieren nicht nur auf politische Fundamentalkritik äußerst gereizt, sondern auch auf Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft.

Aber auch die Vierte Gewalt hat über die Jahre aufgerüstet und macht es den Mächtigen und Verdächtigen schwerer als früher. Seit circa 2002 haben journalistische Medien eine gewaltige Strukturkrise erlebt: Anzeigen, auf die sie in der Print-Ära noch ein Quasi-Monopol hatten, sind im Digital-Zeitalter zu anderen Anbietern abgewandert, vor allem zu Google, Facebook und großen Online-Portalen ohne journalistische Inhalte. Die meisten Medien haben auf diese Umsatzeinbrüche mit Personalabbau und inhaltlicher Verflachung reagiert. Einige aber auch damit, ihr Profil zu schärfen und journalistische Leuchttürme zu bauen, bevorzugt in Gestalt investigativer Enthüllungsgeschichten.

Was 2014 mit den Luxemburg-Leaks startete und sich 2016 mit den Panama Papers und Paradise Papers fortsetzte, erreichte im Oktober 2021 seinen vorläufigen Höhepunkt mit den Pandora Papers, einer „Büchse“ voller Informationen über Steueroasen und ihre Nutznießer. Im zweifelhaften „Club der Steuervermeider“ fanden sich unter anderem der damalige tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš, der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskij sowie weitere einflussreiche bis herrschende Persönlichkeiten aus Aserbaidschan, Russland, Jordanien, Großbritannien, Zypern und Kenia. Hierzulande konnte man den Eindruck gewinnen, dass allein die Süddeutsche Zeitung mit ein wenig Hilfe einiger öffentlich-rechtlicher Sender den internationalen Finanzsumpf offen-, wenn auch nicht trockengelegt hätte. Tatsächlich arbeitete bei den Recherchen aber das Internationale Netzwerk Investigativer Journalisten zusammen, ein Zusammenschluss von 280 Journalisten aus über 100 Ländern. Einige davon kommen aus Deutschland.

Journalisten haben sich die Globalisierung auf ihre eigene Art und Weise zunutze gemacht und sich weltweit vernetzt.

Die Journalisten-Branche, zumindest deren Elite, hat sich folglich die Globalisierung auf ihre eigene Art und Weise zunutze gemacht und sich weltweit vernetzt. Aber auch auf nationaler und regionaler Ebene betätigen sich Journalistinnen und Journalisten als unangenehme „Wühler“, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern und um Politik- oder Wirtschaftsskandale aufzudecken. Dabei müssen sie ihren Quellen nicht mehr unbedingt persönlich treffen und sich von einem Informanten zum nächsten hangeln, wie man das noch aus dem berühmten Film „Die Unbestechlichen“ (1976) kennt, als Robert Redford alias Bob Woodward und Dustin Hofmann alias Carl Bernstein wie Hausierer von Tür zu Tür gehen mussten und ihren Hauptinformanten „Deep Throat“ in der dunkelsten Ecke einer Tiefgarage trafen. Im Post-Watergate-Zeitalter nutzen Journalisten – egal, in welchem Land – bevorzugt digitale Informationskanäle mit möglichst perfekter Verschlüsselung, nachdem sie zuvor mit ausgefeilten Software-Tools recherchiert haben.

Viele Regierungen und ihre Geheimdienste mobilisieren inzwischen massiv ihre Abwehrkräfte gegen dieses geschickte Vorgehen investigativer Redaktionen. Und einige Unternehmen sind ihnen dabei gerne zu Diensten. Nicht zuletzt die israelische Firma NSO. Mit ihrem Top-Seller Pegasus lässt sich die Kommunikation von Smartphones ausspähen. Bereits 2016 wurde die Existenz dieser Spyware öffentlich bekannt, aber erst im Juli 2021 erzielte Amnesty International mit einer Studie über Pegasus den erhofften Aufschrei von Politik und Medien. Es stellte sich heraus, dass die Spyware neben anderen eher demokratiefernen Ländern außerhalb Europas auch in Ungarn zum Einsatz gekommen ist – nicht zuletzt gegen investigativ recherchierende Journalisten. Auch der Bundesnachrichtendienst setzt Pegasus ein, zu welchem genauen Zweck und in welchem Umfang bleibt bisher sein Geheimnis.

Das Jahr 2021 endet immerhin mit einem Hoffnungsschimmer. Anfang Dezember bekamen Maria Ressa, die philippinische Investigativ-Journalistin des Blogs Rappler, und Dmitri Muratow, Redakteur des russischen Zeitung Nowaja Gaseta, den diesjährigen Friedensnobelpreis verliehen. Die Gaseta gehört zu den wenigen noch verbliebenen unabhängigen und regierungskritischen Medien in Russland. Ressa und Muratow nahmen den Preis gewissermaßen stellvertretend für alle anderen in Empfang, die zum „bedrohten Volk“ der Journalisten gehören. Eine große Geste, die sagen will: „Ihr seid nicht vergessen!“

Der Symbolpolitik des Friedensnobelpreises müssen auch Taten folgen.

Der Symbolpolitik müssen allerdings auch Taten folgen. In einem Interview mit der taz hat die neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kurz vor ihrem Amtsantritt erklärt, dass sie Außenpolitik als wertebasierte „Weltinnenpolitik“ verstehe. Ganz in diesem Sinne forderte sie auch sogleich die Freilassung der inhaftierten chinesischen Politbloggerin Zhang Zhan. Wie und in welchem Maße die neue Bundesregierung hier ihren politischen Einfluss in der Tagespolitik geltend machen wird, muss sich aber erst noch zeigen. Denn die Ampel-Koalition steht vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur Menschenrechtspolitik, deren integraler Bestandteil die Wahrung der Pressefreiheit ist, gegen scheinbar schnöde Handelsinteressen auszubalancieren. In die Waagschale „übergeordneter“ Interessen dürfte auch die internationale Klimapolitik geworfen werden. Inwieweit das Pendel dann noch zugunsten vermeintlicher Einzelschicksale kritischer Journalisten ausschlagen kann, wird wohl weniger von den Imperativen der Moral als von den Gesetzen der geopolitischen Schwerkraft abhängen.