Es war einer jener Sätze, die eine ganze Amtszeit – ja, eine ganze Ära – überstrahlen. Eine Woche nach seiner Wahl zum Bundeskanzler sagte Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in seiner ersten Regierungserklärung: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Die neue sozial-liberale Koalition machte sich rasch ans Werk: Am 18. Januar 1972 – also vor 50 Jahren – trat die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes in Kraft.

Die damalige gesellschaftliche Stimmung brachte Wolfgang Mischnik, der langjährige Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, auf den Punkt. In der Debatte über das Mitbestimmungsgesetz sagte er 1976: „Der gleiche Staatsbürger, der Gesetzgebungsorgane wählt, auf die Bildung seiner Regierung Einfluss nehmen kann, darf als Wirtschaftsbürger nicht wieder zum Untertan degradiert werden.“ Es entstand die sogenannte paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsräten bei mehr als 2 000 Beschäftigten. Das heißt, diese Aufsichtsräte werden zu gleicher Anzahl mit Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitnehmer- und der Anteilseignerseite besetzt. Allerdings kann der oder die von der Anteilseignerseite gestellte Aufsichtsratsvorsitzende das Doppelstimmrecht ziehen und in einer Pattsituation letztlich entscheiden.

Die Fortschritte beim Betriebsverfassungsgesetz waren enorm: Beschlossen wurden verbesserte Zugangsrechte für Gewerkschaften in die Betriebe, stärkere Rechte für die Betriebsräte, erweiterte Mitbestimmungsrechte in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Hinzu kamen ein besonderer Kündigungsschutz und verstärkte Fortbildungsmöglichkeiten. Die Altersgrenze für die Wählbarkeit wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt, auch Beschäftigte ohne deutschen Pass erhielten nun ebenfalls das passive Wahlrecht.

Unternehmen, die Mitbestimmung leben, stehen auch wirtschaftlich besser da: Sie wirtschaften nachhaltiger, haben höhere Investitionsquoten und bilden mehr aus.

Diese Reformen haben das Leben in den Betrieben und in der Gesellschaft nachhaltig verbessert, zum Beispiel bei der Integration und Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund. Laut einer Untersuchung der IG Metall nehmen Beschäftigte mit Migrationshintergrund inzwischen anteilig genauso häufig Mandate wahr wie deutschstämmige Kolleginnen und Kollegen. Das ist ein gelungenes Beispiel für Integration – und für Demokratie.

Unternehmen, die Mitbestimmung leben, stehen auch wirtschaftlich besser da: Sie wirtschaften nachhaltiger, haben höhere Investitionsquoten und bilden mehr aus. Die Arbeitsplätze in diesen Unternehmen sind sicherer als in Firmen, in denen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer außen vor bleiben. Und nicht zuletzt stabilisiert Mitbestimmung das demokratische System. Wissenschaftliche Arbeiten wie die „Leipziger Autoritarismusstudie“ belegen empirisch den Zusammenhang zwischen erlebter Mitbestimmung im Betrieb und einer grundsätzlich positiveren Einstellung der Beschäftigten zur Demokratie insgesamt.

Wie alle vier Jahre, schlägt ab dem 1. März 2022 wieder die Stunde der Demokratie in den Betrieben. Allein im Bereich der IG Metall werden in rund 10 700 Betrieben etwa 73 000 Betriebsratsmitglieder von den Belegschaften gewählt. Viele blicken indes auf das Tesla-Werk in Grünheide, wo am 28. Februar erstmals ein Betriebsrat gewählt wird. Dass Tesla sein europäisches Werk in Brandenburg baut, ist ein gutes Zeichen für den Industriestandort Deutschland und erhöht die Attraktivität und die Zukunftsfähigkeit der Region um Berlin.

Während bei einer deutschen AG oder GmbH mit mehr als 500 Beschäftigten ein Aufsichtsrat gebildet werden muss, in dem die Arbeitnehmerschaft mit einem Drittel der Mandate vertreten ist, gilt bei der SE: Mitbestimmung ist Verhandlungssache.

Noch ist allerdings offen, ob bei Tesla ein Betriebsrat entsteht, der tatsächlich die Belegschaft repräsentiert. Tesla hat Beschäftigte in hierarchischer Reihenfolge eingestellt – also erst in den Führungsetagen und danach in den Fertigungshallen. Das führt dazu, dass der Betriebsrat nicht unbedingt repräsentativ für die Belegschaft sein wird. Denn in den Betriebsrat können nur Betriebsangehörige gewählt werden, die zum Zeitpunkt der Wahl mindestens sechs Monate im Unternehmen sind. Eine Überprüfung, ob die Größe des Betriebsrats noch zur Zahl der Beschäftigten passt, ist erst 24 Monate nach der Betriebsratswahl möglich.

Zur Mitbestimmung gehört indes nicht nur der Betriebsrat, der sich aus dem Kreis der Beschäftigten zusammensetzt, sondern auch die Unternehmensmitbestimmung mit einem Aufsichtsrat, in dem auch Externe sitzen – zum Beispiel Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften. Eine solche Unternehmensmitbestimmung wird es bei Tesla erst einmal nicht geben. Denn das Unternehmen hat eine Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) gegründet, die Tesla Manufacturing Brandenburg SE. Während bei einer deutschen AG oder GmbH mit mehr als 500 Beschäftigten ein Aufsichtsrat gebildet werden muss, in dem die Arbeitnehmerschaft mit einem Drittel der Mandate vertreten ist, gilt bei der SE: Mitbestimmung ist Verhandlungssache. Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene Mitbestimmungsstatus ist „eingefroren“, bleibt also für immer. Das heißt für Tesla: Selbst wenn das Unternehmen wie angekündigt später einmal 12 000 Beschäftigte hat, würde es ohne Aufsichtsrat bleiben.

Mit dieser Praxis steht Tesla nicht allein. Rund 200 Unternehmen in Deutschland nutzen unterschiedliche Modelle, um die paritätische Mitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat zu umgehen. Ein Viertel aller deutschen SE mit mehr als 2 000 inländischen Beschäftigten ist sogar ausschließlich oder überwiegend im Inland aktiv, obgleich die SE eigentlich für grenzüberschreitend tätige Unternehmen gedacht ist. Der Deutsche Gewerkschaftsbund setzt sich dafür ein, dass gesetzlich ein sogenanntes Escalator-Prinzip eingeführt wird. Eine SE müsste dann die Mitbestimmung im Aufsichtsrat anpassen, wenn die Zahl der Beschäftigten die Schwellenwerte deutscher Mitbestimmungsgesetze übersteigt.

Rund 200 Unternehmen in Deutschland nutzen unterschiedliche Modelle, um die paritätische Mitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat zu umgehen.

Die Parteien der Ampel-Koalition haben sich verständigt, dieses Thema anzugehen. Im Koalitionsvertrag, dem sie die an Willy Brandt angelehnte programmatische Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ gegeben haben, wurde vereinbart, die „missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts zu verhindern“. Die neue Bundesregierung will sich „dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann“.

Transnationale Gesellschaften wie die SE gab es in den 1970er-Jahren noch nicht, als die Mitbestimmung zum letzten Mal grundlegend reformiert wurde. Damals galten Fahrtenschreiber noch als neue technische Einrichtungen. Heute verändern künstliche Intelligenz, agile Arbeit, Homeoffice, Industrie 4.0 oder Datenbrillen die Arbeitsformen und Arbeitsinhalte von Millionen Beschäftigten. Die Herausforderungen sind gewachsen: Wenn wir die Industrie ökologisch und sozial umgestalten wollen, geht es um nicht weniger als die größte Umwälzung seit Erfindung der Dampfmaschine. Völlig zu Recht sind die Ansprüche der Menschen gewachsen: Sie wollen stärker in Entscheidungen einbezogen werden.

Jede sechste Gründung eines Betriebsrats wird behindert.

Im Koalitionsvertrag steht: „Die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung kann nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam gestaltet werden.“ Die Unternehmen alleine werden es nicht hinbekommen. Das zeigt die letzte große Beschäftigtenbefragung der IG Metall aus dem Jahr 2020. Mehr als die Hälfte der gut 250 000 Befragten hat darin beklagt, dass ihr Betrieb keine Strategie habe, um sich fit für die Zukunft zu machen. Die drohenden Folgen sind bekannt: Industriebetriebe und Arbeitsplätze, die gestrichen oder in Niedriglohnländer verlagert werden, verschwinden für immer aus Deutschland.

Erste Ansätze, um die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen, gibt es bereits: Arbeitsminister Hubertus Heil will das Strafrecht verschärfen. Arbeitgeber, die Betriebsratswahlen behindern, sollen von der Justiz auch ohne vorliegende Strafanzeige verfolgt werden. Ein guter Schritt, denn die Behinderung von Betriebsratswahlen ist weder ein Kavaliersdelikt noch eine Ausnahme – jede sechste Gründung eines Betriebsrats wird behindert.

Wenn wir die Industrie ökologisch und sozial umgestalten wollen, geht es um nicht weniger als die größte Umwälzung seit Erfindung der Dampfmaschine.

Auch an einem anderen Punkt will Arbeitsminister Heil den Koalitionsvertrag zügig umsetzen und ein „zeitgemäßes Recht für Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe“ schaffen. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 hatte den Gewerkschaften ausdrücklich den Zutritt zu den Betrieben eröffnet. Heutzutage beauftragen Unternehmen ihre IT-Administratoren schon einmal damit, gezielt gewerkschaftliche Informationen abzufangen. Es muss klargestellt werden: Die Zutrittsrechte aus der analogen Welt müssen auch im digitalen Zeitalter gelten.

An anderer Stelle greift der Koalitionsvertrag allerdings zu kurz. Während die Regierung auf Transformationsnetzwerke, Qualifizierung und regionale Strukturpolitik setzt, um die sozial-ökologische Transformation zu gestalten, enthält der Koalitionsvertrag nicht die Reformen des Betriebsverfassungsgesetzes, die für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Vorhaben notwendig wären.

Die gewerkschaftlichen Zutrittsrechte aus der analogen Welt müssen auch im digitalen Zeitalter gelten.

Die wichtigste Ergänzung wäre eine echte Mitbestimmung des Betriebsrats bei strategischen Fragen und Qualifizierung. Damit könnte verhindert werden, dass Arbeitsplätze abgebaut werden und industrielle Substanz zerstört wird, die wir für die ökologische Wende brauchen. Außerdem gäbe es ein Bindeglied zwischen den vielfältigen neuen Förder- und Qualifizierungsmaßnahmen und den Beschäftigten im Betrieb. Dass die Koalition darauf verzichtet hat, ist ein Konstruktionsfehler mit Folgen.

Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen müssen die strategische Ausrichtung der Unternehmen und Betriebe mitgestalten können. Dazu gehört ein generelles Mitbestimmungs- und Initiativrecht bei der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, bei der Personalplanung und der Beschäftigungssicherung. Wenn der ökologische und digitale Übergang auch ein sozialer und gerechter werden soll, gelingt das nur mitbestimmt. Wer angesichts der großen Herausforderungen mehr Fortschritt wagen will, muss auch mehr Mitbestimmung wagen.