Oft heißt es, Zeit sei unser wertvollstes Gut, und wir könnten es uns nicht leisten, sie zu verschwenden. Unsere Politikerinnen und Politiker scheinen das auch so zu sehen. Sie sind niemals untätig, im Gegenteil: Sie arbeiten immer schneller. Seit einigen Jahren wird Europa weitgehend im Eiltempo per Dekret regiert, ohne ausführliche öffentliche Beratungen oder parlamentarische Kontrolle. Wir sprechen vom „Krisenmanagement“, denn tatsächlich folgte der Finanzkrise die Migrationskrise und dieser die Pandemie.

Als das Europäische Parlament Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufforderte, die Aufzeichnungen zu ihren Verhandlungen mit den Pharmakonzernen über die Lieferung von Covid-19-Impfstoffen offenzulegen, stellte sich heraus, dass sie diese überwiegend auf WhatsApp geführt hatte und die Nachrichten daher schon wieder gelöscht waren.

Jetzt tobt an unseren Grenzen ein grausiger Krieg, der ebenfalls schnelles und entschlossenes Handeln erfordert. Nicht nur werden eilig Waffen an die Ukraine geliefert, Sanktionen gegen Russland verhängt und Flüchtlinge aufgenommen, sondern es steht auch ein „beschleunigtes“ Verfahren für den EU-Beitritt der Ukraine an. Darüber hinaus ruft eine neue Bankenkrise, die sich aktuell abzeichnet, nach raschen Lösungen. Durch das schnelle Eingreifen des Eidgenössischen Finanzdepartements, der Schweizerischen Nationalbank und der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht ging eine Fusion der beiden größten Banken des Landes praktisch an einem einzigen Wochenende über die Bühne.

Willkommen in der Hochgeschwindigkeitsdemokratie. In seinem Buch Politics of Last Resort: Governing by Emergency in the European Union  schreibt Jonathan White: „Die Vorstellung, dass für die Überwindung extremer Umstände unkonventionelle Maßnahmen als letzter Ausweg erlaubt sind, steht mittlerweile im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung.“ Unsere demokratischen Regierungen agieren nicht nur wegen der raschen Abfolge von Krisen so schnell. Auch Wirtschaft und Gesellschaft unterliegen rasanten Entwicklungen. Edward Luttwak spricht von ungebremstem „Turbokapitalismus“, vorangetrieben von den digitalen Giganten. Man vergleiche nur die Geschwindigkeit von Finanztransaktionen in der Telegrafenära mit der des Internetzeitalters.

Die Beschleunigung stellt die Demokratie vor handfeste Probleme.

Hartmut Rosa vertritt die Auffassung, dass sich nicht nur die Technologie, sondern auch der soziale Wandel und das gesamte Leben beschleunigen. Im Internet findet man einen unerschöpflichen Fundus an Ratschlägen, wie man in der modernen Welt schneller agieren kann. Wer zu langsam ist, so der heimtückische Unterton, wird abgehängt. Das treibt die Menschen in Schnelllese- und Schnelllernkurse. An die rasante Kommunikation haben wir uns bereits gewöhnt, und unsere Geräte sind rund um die Uhr griffbereit, damit wir sofort auf aktuelle Nachrichten, Empfehlungen von Freunden oder Anweisungen des Chefs reagieren können. Zwangsläufig schlagen auch Staaten diesen Weg ein und versuchen, mit der Schnelligkeit von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Geldmengen Schritt zu halten.

Die Beschleunigung ist für Bürgerinnen und Bürger kein Vergnügen, aber in den meisten privaten und öffentlichen Räumen bietet auch die Verlangsamung keine Alternative. Eine schleppende Reaktion auf eine Pandemie oder den Klimawandel wäre geradezu kriminell. Die Beschleunigung stellt jedoch die Demokratie vor handfeste Probleme. Es liegt in ihrer Natur, dass die Entscheidungsfindung langsam abläuft, damit öffentliche Beratungen, Bürgerbeteiligung, parlamentarische Aufsicht und gerichtliche Überprüfung stattfinden können. All diese demokratischen Instrumente nehmen Zeit in Anspruch, die in der schnelllebigen Wirtschaft und Gesellschaft Mangelware ist.

Wie William Scheuerman zutreffend darstellt, war die liberale Demokratie der vergangenen Jahrzehnte „durchdacht, abwägend und reflektierend und daher eher auf Langsamkeit als auf Schnelligkeit angewiesen“. Heute hingegen pervertieren Beschleunigung und Zeitraffer die demokratischen Verfahren und führen dazu, dass eine kleine Gruppe von Politikerinnen und Politikern der Regierungsparteien, die die Exekutive leiten, per Erlass regieren. Parlamente und Gerichte werden zunehmend an den Rand gedrängt, weil sie Entscheidungsprozesse verlangsamen und Regierungen, die Probleme auf „effiziente“ Weise beheben wollen, „blockieren“.

Effizienz hängt allerdings nicht nur von Schnelligkeit ab, sondern auch von den gewählten Lösungsansätzen. Wenn man dem Patienten übereilt die falsche Medizin verabreicht, wird er dadurch nicht geheilt. Unablässiger Zeitdruck lässt wenig Raum für Forschung und Evidenz, für Verhandlungen und Kompromisse. In einer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft orientiert sich die Politik an den ideologischen Schemata der Verantwortlichen, abweichende Meinungen werden als Verrat am „nationalen Interesse“ oder gar als Zersetzung verunglimpft. So entsteht Populismus: In rasantem Tempo verbreitet sich „Postfaktisches“ über „soziale Medien“, während Fachleute als „Volksfeinde“ abgestempelt werden. „Der Populismus“, so Ming-Sung Kuo, „ist das Kind einer ‚pathologischen Turbodemokratie‘.“

Es fällt heute leichter, sich eine Welt ohne Demokratie vorzustellen, als eine Welt ohne Internet.

Erwartungsgemäß heißt es oft, die Demokratie möge sich doch der Beschleunigung widersetzen. Auch das Plädoyer für eine Verlangsamung wirtschaftlicher und sozialer Prozesse wird lauter. „Mach langsam, mach dich schlau“, so die Botschaft. Ich fürchte, das ist leichter gesagt als getan. Und das liegt nicht unbedingt daran, dass der Demokratie der Turbokapitalismus entglitten wäre oder die Bürgerinnen und Bürger sich vom Staat eher schnelleres als langsameres Handeln wünschten.

Vielmehr liegt es daran, dass das Internet, einer der größten Beschleuniger unserer Zeit, mittlerweile ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens ist. Es fällt heute leichter, sich eine Welt ohne Demokratie vorzustellen, als eine Welt ohne Internet. Die Demokratie muss sich daher, wenn sie nicht untergehen will, an die hohe Geschwindigkeit anpassen. Dafür braucht es im Wesentlichen ein neues Gleichgewicht zwischen Rationalität, Effizienz und Bürgerbeteiligung.

Erstens gilt es in der Praxis zwischen Entscheidungen zu differenzieren, die eine langsame und wohlüberlegte Diskussion erfordern, und solchen, die beschleunigt getroffen werden können. Im Moment improvisieren wir gern. Manchmal wird unter dem Druck mehrerer Notlagen insgeheim die Verfassung ausgehöhlt. Ein andermal versinken Probleme, die sofort gelöst werden müssten, im Parlament oder vor Gericht im Morast parteipolitischer Scharmützel.

Zweitens müssen wir die E-Demokratie ernst nehmen. Obwohl das System der parlamentarischen Repräsentation nicht gut funktioniert, lassen sich Staaten nicht gern auf demokratische Experimente ein. Das liegt daran, dass sich politische Parteien lieber an Meinungsumfragen orientieren, als sich von der direkten Beteiligung der Bürgerschaft per Internet die Hände binden zu lassen.

Drittens müssen wir in die demokratische Entscheidungsfindung Verbünde einbeziehen, die zur Bereitstellung öffentlicher Güter beitragen können und wollen. Ich denke dabei an Stadtnetzwerke, Gewerkschaften und Unternehmensverbände sowie diverse Nichtregierungsorganisationen. Studien zufolge sind solche Netzwerke, obwohl sie in einer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft effektiver agieren als zentralisierte bürokratische Staaten, von formalen demokratischen Abläufen ausgeschlossen, und das ist unklug. Allerdings sind der Zugang zu solchen Netzwerken, ihre Transparenz und ihre Rechenschaftspflichten noch verbesserungswürdig.

Wir müssen demnach dafür sorgen, dass die schnelle Demokratie im Sinne der Bürgerinnen und Bürger funktioniert – und wir sollten keine Zeit verlieren.

Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Anne Emmert