Ist die Demokratie in Deutschland bedroht? Viele Menschen sind derzeit dieser Meinung. In Ostdeutschland könnte die Alternative für Deutschland (AfD) die nächsten Landtagswahlen gewinnen – eine Partei, die vom Bundesverfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall geführt werden darf. Ganze Landesverbände der Partei sowie deren Jugendorganisation gelten als „erwiesen extremistische Bestrebungen“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Björn Höcke, Deutschlands bekanntester Rechtsextremist, Ministerpräsident Thüringens wird. Nach dem Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke fühlte sich die FAZ sogar an Weimar erinnert. Minister sehen sich veranlasst, vor Umsturzfantasien zu warnen. Im Europawahlkampf gehe es darum, die Demokratie zu verteidigen und Nazis abzuwehren.

Doch treffen diese Einschätzungen zu? Ein Blick über den Tellerrand hilft, die reellen Gefahren für die Demokratie zu ermitteln. Bei den europäischen Nachbarn waren oder sind rechtsextreme Parteien an der Regierung – teilweise seit vielen Jahren. In Italien stellen die „Brüder Italiens“ die Regierungschefin. In der Schweiz kommen zwei von sieben Bundesräten von der Schweizerischen Volkspartei. Die Partei Die Finnen stellt als zweitgrößter Koalitionspartner neun Ministerinnen und Minister in der neuen finnischen Regierung. In Schweden tolerieren die Schwedendemokraten eine Minderheitsregierung. Mit gut 20 Prozent der Sitze sind sie die größte Partei in dieser Formation. In den Niederlanden duldete die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders die erste Rutte-Regierung und wird nun wohl der größte Koalitionspartner der neuen Rechts-Regierung. Auch die österreichische FPÖ war zuletzt 2019 Regierungspartei.

Obwohl diese Parteien teilweise deutliche Unterschiede aufweisen, gibt es auch viele Gemeinsamkeiten – etwa ausländerfeindliche und nationalistische Rhetorik und Politik. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass Regierungsbeteiligungen dieser Parteien nicht zu einem grundlegenden Demokratieabbau geführt haben. Der Kern der Demokratie – etwa freie Wahlen, eine unabhängige Justiz, freie Medien, Gewaltenteilung oder eine freie Zivilgesellschaft – ist weitgehend intakt geblieben. Einen Umsturz oder state capture wie in Ungarn hat es nicht gegeben. Rechtsextreme Parteien sind zwar durch Wahlen in Regierungsverantwortung gekommen, sie sind aber auch wieder abgewählt worden.

Auf dem Weg zur Macht und in Regierungen sind diese Parteien zudem oft moderater geworden. Große Wählergruppen lehnen extremistische Positionen tendenziell ab. Außerdem wirken der Zwang zum Kompromiss in Koalitionen, die Grenzen von Verfassungen oder die EU-Mitgliedschaft Extremismus entgegen. Befürchtungen, die Regierung Meloni werde zu Demokratieabbau in Italien führen, haben sich nicht bewahrheitet. Das gleiche gilt für die Niederlande, die Schweiz, Finnland, Dänemark und Schweden. Ebenso für Österreich, wo es in Kärnten und im Burgenland Koalitionen zwischen FPÖ und SPÖ gab.

Deutschland ist über die Jahrzehnte toleranter, emanzipierter, bunter und damit demokratischer geworden.

Die Erfahrungen der Nachbarn bedeuten jedoch nicht automatisch, dass eine starke AfD kein Demokratieproblem ist. Diese Gleichung stimmt schon deshalb nicht, weil Erfahrungen eines Landes nicht ohne Weiteres auf die eines anderen übertragen werden können. Zudem ist die AfD extremistischer als ihre europäischen Pendants. In ihrem eigenen Umfeld gefangen, ausgegrenzt und ohne echte Machtperspektive, hat die AfD sich seit ihrer Gründung radikalisiert. Andere rechtsextreme Parteien in Europa haben sich eher in die andere Richtung entwickelt. Sie halten die AfD für zu extremistisch und haben sie aus der Fraktion Identität und Demokratie (ID) im Europaparlament ausgeschlossen, da sie durch den Extremismus der AfD ihre Wahlchancen gefährdet sehen. Sollte dieser Rausschmiss vor allem aus Überzeugung erfolgt sein, wäre er eine sehr gute Nachricht für die Demokratie in Europa. Eine fraktionslose und damit fast bedeutungslose AfD wäre eine weitere.

Obwohl ein Vergleich zwischen Ländern immer schwierig ist, legen die Erfahrungen der Nachbarn einen Schluss nahe: Wie gefährlich rechtsextreme Parteien für Demokratien sind, hängt vor allem von der Stärke der Demokratie selbst ab. Dieser Aspekt fehlt größtenteils in der deutschen Debatte. So sind eine starke Zivilgesellschaft, die föderale Struktur Deutschlands und die Mitgliedschaft in der EU Stärken der deutschen Demokratie. Große Mehrheiten unterstützen diese, auch wenn es viele Vorbehalte gibt, wie Demokratie im Alltag funktioniert. Deutschland ist über die Jahrzehnte toleranter, emanzipierter, bunter und damit demokratischer geworden. Trotz stärkeren Zuspruchs für die extremen Ränder ist die politische Mitte weiterhin das Kraftzentrum der deutschen Politik.

Diese Stärken dürfen jedoch nicht über die Schwächen hinwegtäuschen – etwa eine strukturelle Schwächung des professionellen Journalismus, eine stärker polarisierte Debatte, ein Mangel an Gelassenheit sowie ein weit verbreitetes Gefühl der Verunsicherung. Die unbeliebte und oft zerstrittene Bundesregierung hilft in dieser Lage nicht. Unter dem Strich bedeutet dies: Deutschland im Jahr 2024 ist eher mit Österreich, der Schweiz, Italien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden oder Finnland zu vergleichen. Es gibt offensichtlich viel mehr Parallelen zu diesen Ländern als zu Deutschland 1933. Fast nichts spricht dafür, dass die AfD Deutschlands Demokratie umkrempeln wird.

Nichtsdestotrotz leistet sich Deutschland eine introvertierte und alarmistische Debatte. Die Erfahrungen der Nachbarn spielen in der deutschen Diskussion praktisch keine Rolle. Fast niemand will hören, wie es dort mit Rechtsextremen gehalten wird und was von den Nachbarn gelernt werden könnte. Der Rausschmiss der AfD aus der ID-Fraktion hätte eine Diskussion über die Entwicklung rechtsextremer Parteien in Europa zur Folge haben können, aber die Nachrichten an den Tagen nach dem Rausschmiss wurden vom „Nazi-Eklat“ auf Sylt dominiert. Selbst der Bundeskanzler sah sich veranlasst, das Gegröle zu kommentieren.

Fast nichts spricht dafür, dass die AfD Deutschlands Demokratie umkrempeln wird.

Die deutsche Debatte dreht sich zudem viel um die eigene Geschichte und damit um sich selbst. Es werden Vergleiche mit Weimar gezogen, egal wie haltlos sie sind. Treffen zwischen Identitären, AfD- und CDU-Politikern zu Remigration sind abscheulich, aber offensichtlich keine „Wannseekonferenz 2.0. Solche absurden Vergleiche kosten wertvolle Glaubwürdigkeit. Sie polarisieren und schwächen die Demokratie.

„Wehret den Anfängen“ ist eine zentrale Einsicht aus der deutschen Geschichte, aber sie bedeutet nicht, strategielos der eigenen Empörung freien Lauf zu lassen und auf Mobilisierung im eigenen Lager zu setzen. Sie bedeutet vor allem, Moderate von Extremisten zu trennen, zu überzeugen und neue Mehrheiten zu gewinnen. Das ist immer schwierig. Zur Zeit fällt dies aber besonders der politischen Linken schwer.

Anstatt der Kraft der offenen Debatte und der eigenen Überzeugungskraft zu vertrauen, gibt es von links viele Rufe nach Verboten, Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz. Es gibt austauschbare Reden mit den üblichen Soundbites wie „Demokraten müssen sich unterhaken“ oder „man muss klare Kante gegen rechts zeigen“. Die Überzeugung, Rechtsextremen keine Plattform geben zu dürfen, ist vor allem im linken Meinungsspektrum weit verbreitet, obwohl die AfD damit ihre Lieblingsbühne bekommt, nämlich keine Bühne zu haben, ausgegrenzt zu werden und Opfer zu sein. Im Ergebnis wirkt Links in weiten Teilen abgekapselt, inhaltsleer und sprachlos. Für die AfD ist dies ein Geschenk.

Im selbsterzeugten Kunstnebel von Weimar fällt es zudem schwer, verständlich zu machen, wofür die AfD konkret steht: für antipluralistische Überzeugungen, die ihre politischen Gegner als „Alt- oder gar Systemparteien“ diffamiert, für die Diskreditierung Deutschlands als „Unrechtsstaat“, für ausländerfeindliche Politik, für verantwortungslose Klimapolitik, für Sympathien mit Putin oder für eine Politik, die Europa vom Spieler zum Spielball der Weltpolitik macht. In der aufgeheizten Debatte werden zudem Kritik an Sachpolitiken und Verteidigung von Demokratie oft vermengt. Damit wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD schwierig, obwohl diese es ist, die sich große Mehrheiten wünschen.  

Kurzum: Demokratie lässt sich besser mit Selbstbewusstsein und einer offenen Debatte verteidigen.  Deutschland hat viele Gründe, in die Stärke der eigenen Demokratie zu vertrauen. In der Wagenburg „gegen rechts“ wird diese aber häufig nicht wahrgenommen.