Finanzkrise, Eurokrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Coronakrise. All diese Krisen hängen zusammen, verstärken und bedingen sich gegenseitig. Um sie in den Griff zu bekommen, müssen wir die Art, wie wir produzieren und konsumieren, wohnen und uns fortbewegen, radikal verändern. Doch der große Umbau geht viel zu langsam voran oder droht gänzlich zu scheitern.
Mit Vehemenz fordern die Jüngeren, den großen Umbau nun endlich anzupacken. Das Bundesverfassungsgericht gibt ihnen recht: Die Schonung zukünftiger Freiheit erfordere, schon heute der Größe der Herausforderungen angemessene Maßnahmen zu treffen. Aus historischem Schaden klug geworden sind jedoch viele Deutsche skeptisch gegen große Versprechen, alles neu zu machen. Noch immer wünscht sich eine Mehrheit einen unaufgeregten Politikstil. Allerdings wurde unter dem Mäntelchen der „Alternativlosigkeit“ eben keine „sachbezogene Politik jenseits von links und rechts“ gemacht, sondern der neoliberale Rückbau des Staates vorangetrieben.
Spätestens in der Coronakrise dämmerte es den Bürgerinnen und Bürgern, dass die Fähigkeiten des Landes, große Krisen in den Griff zu bekommen, erheblich geschwächt sind. Allerhöchste Zeit, denn die Geschichte kehrt zurück in der Gestalt von China und Russland, Flüchtlingsströmen und Klimakatastrophen, Künstlicher Intelligenz und Negativzinsen. Die selbsterklärte Insel der Glückseligen muss schnellstens lernen, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden. Doch warum klappt es nicht mit dem großen Umbau? Das liegt in erster Linie an den derzeit vorherrschenden Konzepten des Politischen, die untauglich sind für die Gestaltung der Großen Transformation.
In Berlin und Brüssel herrscht seit Jahren eine Reformstrategie der „kleinen Schritte“. Die technokratische Reparaturwerkstatt zerlegt große Krisen in kleine, bearbeitbare Sachprobleme, die Schritt für Schritt einer Lösung zugeführt werden. Unter normalen Umständen funktioniert die Mischung aus wissenschaftlicher Expertise und guter Regierungsführung durchaus. Wenn die großen Krisen aber zusammenhängen und sich gegenseitig verstärken, dann reicht diese Politik der Spiegelstriche nicht mehr aus.
Die selbsterklärte Insel der Glückseligen muss schnellstens lernen, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden.
Aus Frustration über das mutlose Weiter-so von Staat und Wirtschaft hat sich im progressiven Spektrum ein alternativer Ansatz herausgebildet, den ich moralischen Aktivismus nenne. Dessen Vertreterinnen und Vertreter erklären die Krisen unserer Zeit als ethisches Versagen der Individuen. Wenn nur genügend Menschen einsehen, dass sie ihr Verhalten anpassen müssen, so die Logik, dann verändert sich die Welt. Und tatsächlich haben ja bereits Millionen von Menschen damit begonnen, die Art, wie sie konsumieren, sich fortbewegen und wohnen klimagerecht zu gestalten.
Der moralische Aktivismus hat allerdings zwei blinde Flecken. Erstens: Durch den Fokus auf die Individuen und ihre Lebensstile bleiben die Machtkonzentrationen verborgen, welche die Energie- Finanz- und Produktionssektoren strukturieren. Wenn Verteilungskonflikte, Machtasymmetrien oder Klasseninteressen aus dem Blickfeld geraten, dann bleibt den verantwortlichen Unternehmern, ethischen Konsumenten und postmateriellen Selbstverwirklichern nur die individuelle Selbstoptimierung, um die Welt zu verbessern.
Zweitens: Sind individuelle Verhaltensänderungen das Ziel, dann beschränkt sich die Rolle der moralischen Aktivisten darauf, mit Nachdruck das als richtig Erkannte zu fordern, ganz egal, ob dadurch potentielle Verbündete verprellt werden. Weil politische Auseinandersetzungen aber immer eingebettet sind in soziale Kämpfe um die gesellschaftliche Hierarchie, empfinden viele Menschen moralische Belehrungen als Missachtung ihres Lebensstils und die geforderten Verbote als Bevormundung. In den Kulturklassenkämpfen dieser Tage provoziert daher jeder Moralappell zur Umkehr nur ein trotziges Jetzt-erst-recht der anderen Seite. Wenn aber auf jeden Klimaaktivisten ein Klimaleugner kommt und für jeden, der sich an die Corona-Auflagen hält, ein Coronaleugner, dann bewegt sich in der Summe viel zu wenig.
Wo die technokratische Herangehensweise politische und soziale Widerstände antizipiert und sich deswegen im mutlosem Klein-Klein verzettelt, ist der moralische Aktivismus blind für die politische Ökonomie und erschöpft sich in der leeren Geste der Symbolpolitik. Statt in der Pose des moralisierenden Appells zu verharren, brauchen wir jedoch gangbare Wege, den großen Umbau zu gestalten. Politik als die Kunst des Möglichen zu verstehen darf aber auch nicht länger als Ausrede für ein uninspiriertes Weiter-So missbraucht werden. Kleinere Kurskorrekturen werden nicht ausreichen, um die vielen miteinander verwobenen Krisen zu lösen. Wer die Systemkrise überwinden will, muss die gesellschaftliche Ordnung, die immer neue Krisen hervorbringt, grundlegend umbauen.
Politikwechsel dieser Tragweite rufen jedoch den Widerstand derjenigen hervor, die vom Status Quo zu profitieren glauben. Gegen den Widerstand der Beharrungskräfte können die zur Überwindung der Krise notwendigen Pfadwechsel aber von keiner einzelnen sozialen Gruppe – und sei sie noch so mächtig – durchgesetzt werden, sondern nur durch ein breites gesellschaftliches Bündnis. Wer breite Allianzen bauen will, darf also nicht spalten, sondern muss sich mit Verbündeten zusammentun.
Der Versuch, der Gesellschaft eine avantgardistische Agenda überzustülpen, muss also an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen scheitern.
Was es braucht, ist ein Ansatz, den ich „Transformativen Realismus“ nenne. Er baut breite Plattformen, auf denen sich Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Identitäten, Weltsichten und Werten versammeln können, um gemeinsam für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Der entscheidende Unterschied zu anderen Ansätzen der Bündnispolitik besteht darin, wer diese Plattformen definiert. Meist ist es die kritische Bildungselite, die Sachlösungen formuliert, die politische Agenda setzt und sie in der öffentlichen Debatte vertritt. Diese Agenda reflektiert jedoch in erster Linie die Ängste und Hoffnungen, das Weltbild und den Lebensstil der Hochgebildeten.
Der Gestus der selbsternannten moralischen Avantgarde ruft allerdings reaktionäre Querdenker auf den Plan. In den moralistischen Schreikämpfen, die derzeit den öffentlichen Diskurs vergiften, neutralisieren sich diese beiden Gruppen. Der Versuch, der Gesellschaft eine avantgardistische Agenda überzustülpen, muss also an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen scheitern.
Das heißt nicht, dass die kritische Bildungselite keine Rolle zu spielen hat. Ihre Expertise, ihre Diskursmacht, aber auch ihre Leidenschaft sind unverzichtbar. Sie muss jedoch zum sozialen Kompromiss mit anderen Lebenswelten bereit sein, denn nur eine breite transformative Allianz ist in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen durchsetzungsfähig. Das bedeutet, die kritische Bildungselite sollte darauf verzichten, eine als einzig richtig erkannte Agenda durchzudrücken oder sich gar moralisch über den Lebensstil anderer zu erheben.
Wer kann die transformativen Allianzen zwischen verschiedenen Lebenswelten bilden? Das Schmieden sozialer Kompromisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist seit jeher die Stärke der Sozialdemokratie. Auch im 21. Jahrhundert ist es die Rolle der Sozialdemokratie, möglichst viele Menschen in die Große Transformation mitzunehmen. In der polarisierten und fragmentierten Gesellschaft ist diese Aufgabe jedoch noch komplexer geworden. Heute muss es gelingen, Brücken zwischen der weißen und der bunten Arbeiterklasse sowie der alten und der neuen Mittelklasse zu bauen.
Das Scheitern des Neoliberalismus eröffnet die Chance, die gesellschaftlichen Allianzen neu zu ordnen. Zwar gibt es nach wie vor breite Widerstände gegen den investierenden Staat, gegen ein solidarisches Europa und gegen mehr Klimaschutz. Allerdings haben wichtige Akteure in der Coronakrise damit begonnen, ihre Interessen neu zu definieren. Sie wissen, dass der Staat mittelfristig kräftig Geld ausgeben muss, um die schwächelnde Nachfrage anzukurbeln. Die historisch niedrigen Zinsen eröffnen dafür die nötigen finanziellen Spielräume. Klug investiert können mit dem billigen Geld die Fundamente einer sozial und ökologisch nachhaltigen Wirtschaft gelegt werden.
Um gesellschaftliche Mehrheiten für dieses neue Entwicklungsmodell zu mobilisieren, müssen diese technisch anmutenden Politikleitbilder in sinnstiftende Erzählungen übersetzt werden, die in möglichst vielen Klassen, Lagern und Lebenswelten anschlussfähig sind. Die Leitfrage bei der Konstruktion dieser Narrative ist dabei nicht nur: „Sind die politischen Interventionen ambitioniert genug, um die Ursachen der Krisen an der Wurzel zu packen?“, sondern auch, „Wie muss eine Plattform aussehen, auf der sich möglichst viele gesellschaftliche Kräfte versammeln können, um die notwendigen Pfadwechsel gemeinsam zu erkämpfen?“. Die Plattformen der transformativen Allianzen müssen also zwei gegenläufige Kriterien erfüllen. Einerseits müssen sie ambitioniert sein, können es also nicht allen recht machen. Andererseits müssen sie breit anschlussfähig sein, dürfen also kein überambitioniertes Wünsch-Dir-Was sein.
Durch die Rückkehr des schützenden und fürsorgenden Staates in die Fläche wird den Verunsicherten signalisiert, dass sie nicht im Stich gelassen werden.
Wie eine solche transformative Plattform aussehen kann, zeigt der Green New Deal. Der klimaneutrale Umbau wird Kosten verursachen. Was droht, wenn die Rechnung für die „Klimarevolution“ ohne den Wirt gemacht wird, haben die Proteste der französischen Gelbwesten gezeigt. Um die Menschen für die sozial-ökologische Transformation zu begeistern, wird ein schmales Bündnis zwischen Kapital und Klimaschützern nicht ausreichen. Nur ein echter Green New Deal, der die Verlierer des Strukturwandels entschädigt, kann die Plattform sein, auf der sich ein breites gesellschaftliches Bündnis versammeln kann.
Die Coronakrise hat gezeigt, dass das Verhältnis zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft neu austariert werden muss. In einer pluralen Gesellschaft kann weder ein bevormundender Obrigkeitsstaat noch ein neoliberaler Marktstaat funktionieren. Breite gesellschaftliche Mehrheiten befürworten dagegen eine vorausschauende Steuer- und Industriepolitik, welche die sozial-ökologisch-digitale Transformation vorantreibt, aber auch demokratiefeindliche Monopolstellungen aufbricht. Im digitalen Kapitalismus sollte sich der Staat als Gärtner verstehen: sähen, wässern, aufziehen, schützen und zurechtstutzen.
Um den Kampf gegen Rechts zu gewinnen, muss der Politik der Spaltung eine Politik des sozialen Zusammenhalts entgegengesetzt werden. Durch die Rückkehr des schützenden und fürsorgenden Staates in die Fläche wird den Verunsicherten signalisiert, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Die lebenswerten Heimaten erkennen das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Halt im Taumel des Wandels an. Fern von jeder Deutschtümelei sind sie weltoffene Orte mitten in Europa.
Die Große Transformation wird nur gelingen, wenn wir die Mitte der Gesellschaft mitnehmen. Das kann nicht über einen kompromisslosen Avantgardismus funktionieren, sondern nur auf einer breiten programmatischen Plattform, die Kompromisse zwischen den Lebenswelten aushandelt. Das ist die Formel des Transformativen Realismus.