Die Lage in Frankreich ist ernst, sehr ernst. Denn das Land ist – pandemiegebeutelt und nur wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl – bedroht. Genauer gesagt: Die französische Sprache ist bedroht, und zwar von der politischen Korrektheit à l’américaine, dem #wokeisme (dt. Wokeismus). Man kennt das ja: Amerika exportiert in die ganze Welt, Filme, Musik, Anglizismen, und jetzt eben auch die Besessenheit mit geschlechtergerechter Sprache. Anders lässt sich nicht erklären, warum das Wörterbuch Le Petit Robert, so etwas wie der französische Duden, das geschlechtsneutrale Pronomen „ielin seine Onlineausgabe aufgenommen hat. Dieses „iel“ (gesprochen: jell) ist eine Kombination aus dem männlichen Pronomen „il“ und dem weiblichen Pronomen „elle“, und kann für die Bezeichnung von Personen verwendet werden, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren, oder deren Geschlecht unbekannt ist. Es sind drei kleine Buchstaben, die in Frankreich seit Wochen für Furore sorgen.

Nirgendwo lässt sich schöner über Sprache und ihre Zukunft streiten als in Frankreich!

Während Transgenderorganisationen die Entscheidung begrüßten, stieß sie anderswo auf wenig Begeisterung. First Lady Brigitte Macron erklärte, es gebe „zwei Pronomen: il und elle“, und auf Twitter sprach François Jolivet, Abgeordneter der Regierungspartei La République en Marche (LREM), dem Petit Robert empört seinen Status als „Referenz“ ab. In einem Schreiben an die Académie Française, oberste Hüterin der sprachlichen Integrität, forderte Jolivet diese dazu auf, die bevorstehende Zerstörung der französischen Sprache durch die „Woke-Ideologie“ zu verhindern. Beifall bekam er dafür von seinem Parteikollegen Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, der verkündete: „Die inklusive Schreibweise ist nicht die Zukunft der französischen Sprache.“

Ach, nirgendwo lässt sich schöner über Sprache und ihre Zukunft streiten als in Frankreich! Hier wacht die altehrwürdige Académie Française über die Einhaltung der Grammatik und hat allem, was zu anglizistisch oder neuzeitlich erscheint, den Kampf angesagt. Gleichzeitig versucht die literarische Gruppierung Oulipo, das Französische durch Schreibspiele zu modernisieren, zum Beispiel indem ein ganzes Buch ohne den Buchstaben „e“ geschrieben wird. Die Jugendsprache Verlan vertauscht fröhlich die Silben eines Wortes, um daraus etwas Neues zu schaffen. Und es wird seit Jahren darüber diskutiert, ob die französische Sprache sexistisch beziehungsweise „männlich“ ist, und wenn ja, wie sehr.

Unberechtigt ist diese Kritik nicht. Da wäre zum Beispiel die Regel, nach der im Französischen das Männliche immer über das Weibliche „siegt“. Erfunden wurde sie 1676 vom Jesuitenpriester Dominique Bouhours, der festlegte: „Wenn die zwei Geschlechter sich treffen, muss das vornehmere sich durchsetzen.“ Und vornehmer ist, na klar, das Männliche. Praktisch bedeutet dies, dass bei Angleichung des Adjektivs immer die männliche Form Vorrang hat. In einer Gruppe können sich also 99 Frauen und ein Mann befinden – grammatikalisch wäre diese Gruppe trotzdem männlich und es müsste die Pluralform „ils“ verwendet werden. Weil das Männliche über das Weibliche siegt. 

Momentan scheint die politische Korrektheit amerikanischer Art zu siegen.

Momentan aber scheint die politische Korrektheit amerikanischer Art zu siegen, die dreisterweise nicht einmal Halt macht vor der französischen Sprache und all ihren schönen jahrhundertealten Regeln. Allerdings: Nicht erst seit dem aktuellen „iel“-Drama gehört der sogenannte „wokeisme“ zu den Lieblingsfeinden der Konservativen. „Woke“, repräsentiert für sie linke Ideologie, Identitätspolitik und Opfermentalität. Es bedeutet, auf die – angeblich ungerechtfertigten – Partikularinteressen einzelner Gruppen einzugehen. Und das lässt sich so gar nicht mit dem französischen Universalismus vereinbaren, nach dem alle Menschen gleich sind, über die gleichen Rechte verfügen und deshalb auch exakt gleich behandelt werden sollten. Positive Diskriminierung? Quoten? Inklusive Sprache? Non, merci.

Wenn der Streit um „iel“ so hohe Wellen schlägt, dann auch deshalb, weil es dabei um mehr geht als Sprache. Denn Sprache in Frankreich, das ist immer auch Ausdruck französischer Werte, Ausdruck dessen, was diese Nation, diese Republik konstituiert. So erklärte Bildungsminister Blanquer bereits 2017: „Es gibt nur eine französische Sprache, eine Grammatik, eine Republik.“ Im Übrigen sei die Republik weiblich, genau wie ihr Wahrzeichen, die Marianne – für Blanquer offenbar Beweis genug für den inhärenten Feminismus des französischen Staates und seiner Sprache. Die arme Marianne dürfte es mittlerweile gewohnt sein, als feministisches Symbol für alles mögliche herhalten zu müssen.

Sprache in Frankreich, das ist immer auch Ausdruck französischer Werte.

Aber ja, es geht um mehr als Sprache – es geht um die Zukunft des Landes. Und wer kann dieses Land retten? Natürlich nur die Académie Française, deren Urteil zum „iel“-Streit mit Spannung erwartet wird. Wobei längst klar sein dürfte, wie die Académie zu Versuchen steht, die französische Sprache inklusiver und geschlechtergerechter zu machen: Im Mai veröffentlichte sie ein Statement, laut dem die inklusive Schreibweise „schädlich“ für die Praxis und Verständlichkeit der französischen Sprache sei.

Ganz unrecht hat die Académie nicht: Die inklusive Schreibweise macht Sprache – zumal eine binär geprägte romanische Sprache wie das Französische – schwerer zu schreiben, zu sprechen und zu verstehen. In Milieus, in denen nicht nur wichtig ist, was man sagt, sondern auch, wie man es sagt, mag das praktikabel sein. Im Rest der Bevölkerung eher nicht. Noch nicht. Denn Sprache ist lebendig, sie verändert sich ständig. Und: Sprache ist Gewohnheitssache. Je öfter man etwas sagt, desto leichter geht es von der Zunge. Die feministische Organisation Nous Toutes kommentiert: „Es sind weder die Minister noch die Autorinnen und Autoren von Wörterbüchern, die über die Zukunft einer Sprache entscheiden. Diejenigen, die die Sprache verändern, sind die Menschen, die sie sprechen: ihr, wir, alle.“

Vielleicht bedeuten drei kleine Buchstaben doch nicht das Ende der Republik.

Vielleicht sollte sich so mancher Politiker, bei dem drei kleine Buchstaben reichen, um Schnappatmung auszulösen, eine Scheibe von Charles Bimbenet abschneiden, dem Generaldirektor des Verlagshauses Le Robert. Der blieb angesichts des von ihm und seinem Team ausgelösten (Pseudo-)Dramas erstaunlich gelassen. In einer Stellungnahme schrieb er, zwar würde der Begriff „iel“ immer noch eher selten gebraucht, seine Verwendung nehme aber seit einigen Monaten stark zu, das hätten die hauseigenen Dokumentalisten festgestellt. Man habe es also für sinnvoll gehalten, die Bedeutung dieses Begriffs zu präzisieren, damit Menschen ihn verstehen und benutzen oder eben ablehnen könnten. Die Kontroverse um die französische Sprache, „ihre Entwicklung und ihren Gebrauch“ begrüßt Bimbenet, zeige diese immerhin, wie „lebendig“ das Französische sei.

Na, das lässt hoffen. Vielleicht bedeuten drei kleine Buchstaben doch nicht das Ende der Republik und die Lage in Frankreich ist besser als gedacht – zumindest sprachlich gesehen.