In Deutschland ist die Diskussion darüber, welche Rolle der Staat im Rahmen der Digitalisierung haben muss, noch wenig vom Fleck gekommen. Auch Konzepte zur Weiterentwicklung der Demokratie sind mit Ausnahme von Bürgerräten noch rar. Für die Digitalisierung sind bei uns Start-ups und Konzerne zuständig. Die Demokratie und Freiheitsrechte werden durch Regelungen etwa im Bereich des Datenschutzes zwar nicht unbedingt weiterentwickelt, aber doch zumindest geschützt.

Dass diese Sichtweise auf die Rolle des Staates immer unhaltbarer ist, wurde zuletzt in der Pandemie offensichtlich. Es gab zu Beginn der Krise durchaus ambitionierte – und vielleicht auch beunruhigende – Ansätze, etwa wie mithilfe der Technologie die Pandemie bekämpft werden sollte. Künstliche Intelligenz wurde hier als eine Art rückwärts und vorwärts analysierende Zeitmaschine angedacht, welche Infektionsketten aufdecken und zugleich Prognosen über neue Ausbrüche liefern sollte. Warum diese Konzepte nicht umgesetzt werden konnten, ist noch ungeklärt. Die Geschichte des Pandemiemanagements ist noch nicht geschrieben: Waren es Bedenken des Datenschutzes oder schlicht das Unvermögen der Verwaltung, derart komplexe Projekte umzusetzen?

Paradox ist aus deutscher Sicht, dass das schiere Ausmaß staatlicher Tätigkeiten ja bereits auf eine zentrale Rolle hinweisen müsste. Süffisant bemerkte der Philosoph Peter Sloterdijk zuletzt, dass Deutschland mit einer Staatsquote „von plus/minus 50 Prozent“ ja schon längst in einem „Semi-Sozialismus“ angekommen sei, obwohl die „Palaververhältnisse uns täglich einreden, die Übermacht liege beim Unternehmertum“. An dem zu geringen Anteil des Staates an der Volkswirtschaft kann es also nicht liegen. Oftmals unausgesprochen bei der Digitalisierung ist jedoch, dass der Staat jenseits der reinen Regulierung und Modernisierung der Verwaltungsaufgaben auch eine unternehmerische Rolle haben sollte: Sowohl in China als auch in den USA war die Verteidigungsindustrie der Motor technologischer Innovationen und der Staat griff beherzt in diese Branchen ein, wenn sie seinen Vorstellungen nicht entsprachen.

Roubini sprach sich gegen eine Zerschlagung amerikanischer Großkonzerne aus, da diese Teil des nationalen Sicherheitsindustriekomplexes werden sollen.

Hier ist allerdings auffällig, dass der Staat nicht mehr selbst in Aktion tritt, sondern Unternehmen oder Unternehmer „instrumentalisiert“. Auch Elon Musk wurde mit zig Milliarden öffentlicher Gelder gefördert, um seine Automobil- und Weltraumflugideen umzusetzen. Nicht unähnlich dürfte es wohl in China geschehen: Die Entscheidungen der großen Konzerne liegen in privaten Händen, welche aber mehr oder weniger den staatlichen Vorstellungen entsprechen.

Nun kommt es auch in Deutschland immer wieder zu Diskussionen mit der Wirtschaft (etwa mit der Automobilindustrie), allerdings ohne dass daraus eine nationale Strategie zu erwachsen scheint. Auf jeden Fall findet eine solche Strategie, wenn es sie geben sollte, noch keinen Eingang in ein wirtschafts- oder gesellschaftspolitisches Handeln.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich (vor allem amerikanische) global organisierte Unternehmen immer stärker in Themenbereichen positionieren, in denen sich der demokratische Staat aus verschiedensten Gründen nicht mehr effektiv zeigt beziehungsweise den Unternehmen hier den Vortritt lässt: digitales Lernen, Telehealth, Technologiestrategien, aber auch Umweltschutz und soziale Ungleichheit.

Zuletzt wurde dies in der Great-Reset-Strategie des World Economic Forum erkennbar, in deren Rahmen globale westliche Technologieunternehmen Lösungen für die genannten Themen entwickeln wollen. Wie stark sich der amerikanische Staat schon über „seine“ Unternehmen darstellt, zeigte zuletzt ein Interview mit dem Starökonomen Nouriel Roubini. Dieser sprach sich gegen eine Zerschlagung amerikanischer Großkonzerne aus, da diese „Teil des nationalen Sicherheitsindustriekomplexes werden“ und gegen die ebenfalls instrumentalisierten chinesischen Digitalkonzerne werden antreten müssen.

Noch gibt es kein Konzept dafür, wie die Unmengen an Daten, die private und staatliche Akteure sammeln, mit der Idee der Demokratie in Einklang gebracht werden können.

Aber nicht nur die Diskussion über die Rolle des Staates als vorauseilende Agentur für die Digitalisierung der Wirtschaft steckt noch in den Anfängen. Auch die Strategie zur Weiterentwicklung der Demokratie unter digitalen Vorzeichen ist noch unklar. Noch gibt es kein Konzept dafür, wie die Unmengen an Daten, welche private und staatliche Akteure sammeln, mit der Idee der Demokratie in Einklang gebracht werden können.

In den USA beginnen nun im Nachgang der von Jo Biden zuletzt geforderten „Techno-Demokratie“-Strategie und vielleicht mehr noch unter dem Eindruck der „faktenaversen“ Politik von Donald Trump erste Diskussionen, die Daten und Demokratie nicht mehr als Gegensätze verstehen. Vielmehr habe Demokratie ohne ausreichende Daten „viele blinde Flecken“. Gleichzeitig brauchen Daten die Demokratie, da sie sich sonst in einen „algorithmischen Albtraum“ verwandeln können.

Diese Diskussion ist deshalb so heikel, weil hier immer die Gefahr droht, dass mit Datenmengen Wahlen ausgehebelt, beeinflusst oder sogar überflüssig werden können. Denker wie Hiroki Azuma gehen schon weiter: Die aggregierten Daten unseres Konsumverhaltens, unserer Wünsche, Projekte, Interessen und Suchen im Netz sind als der „Allgemeine Wille“ im Sinne von Rousseaus „Volonté Générale“ zu betrachten: der „unverfälschte“ Ausdruck unserer Präferenzen, der nun mit den Methoden der Statistik errechnet werden kann. Verhandlungen, Diskussionen, Kompromisse sind hierzu nicht mehr unbedingt notwendig, wenngleich Azuma den politischen Diskurs nicht verdrängen, sondern durch diesen Allgemeinen Willen „einrahmen“ und flankieren möchte.

Eigene staatliche Plattformen können notwendig werden und private Plattformen müssen reguliert werden, um Missbrauch und Machtkonzentration zu verhindern.

Wie wichtig der Kampf um den „richtigen“ Umgang mit Daten beziehungsweise die Hoheit über diese ist, zeigen aber auch erste neuere Überlegungen zur Steuerung der Wirtschaft und Gesellschaft. Interessant ist hier, dass in einer Abwandlung von Sloterdijks Befürchtungen eher das private Unternehmertum eine Situation schaffen könnte, die man aus Sicht einiger Beobachter mit einer Techno-Planwirtschaft oder sogar „digitalem Sozialismus“ umschreiben kann: Auf Plattformen wie Amazon oder Alibaba werden Unmengen an Daten über unser Konsumverhalten gesammelt und stellen einen Ausdruck der gesellschaftlichen Präferenzen dar, wie Azuma bemerkte. Diese Daten werden dann extrapoliert und eine Vorhersage von ökonomischen Aktivitäten ist möglich. Letztlich fördern Plattformen heute schon die Prognostizierbarkeit unseres Konsumverhaltens. Neue, robuste Planungsmöglichkeiten entstehen, die das Unternehmerrisiko minimieren, die aber auch Konzentrationen fördern beziehungsweise Wettbewerb verzerren.

All dies zeigt: Eine staatliche Strategie zum Umgang mit Plattformen muss entwickelt werden. Eigene staatliche Plattformen können notwendig werden (etwa für politische Diskurse oder für das Management digitaler Identitäten) und private Plattformen müssen reguliert werden, um Missbrauch und Machtkonzentration zu verhindern.

Hier ist es bemerkenswert, dass in Deutschland zumindest eine zaghafte Diskussion darüber beginnt, ob nicht der Staat beziehungsweise öffentliche Aufgaben als eine Art Plattform organisiert werden sollten. In diesem Kontext lässt die zuletzt öffentlich angedachte Strategie „ARD 2030“ aufhorchen. Sie denkt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als eine „Open Source“-Plattform für „vertrauenswürdige und wertvolle journalistische Inhalte“ an, die auch von anderen Providern (Wissenschaft, Bildung, Kunst …) erstellt werden können. Und man könnte einen solchen „offenen“ Rundfunk durchaus weiterdenken als eine Plattform, die nicht nur sendet, sondern auch Möglichkeiten und Rahmen für politische Dialoge eröffnet.

Die Rolle des Staates als digitale Modernisierungsagentur ist für sich schon anspruchsvoll genug. Die Digitalisierung schafft aber zugleich die theoretische Möglichkeit für ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches tendenziell mit weniger politischer Deliberation und Wettbewerb auskommt: Präferenzen werden hier nicht verhandelt, sondern vermehrt errechnet, geplant, abgeleitet. Eine digitale Demokratie wird sich gerade dann bemühen müssen, individuelle Rechte zu wahren, indem private Plattformen reguliert und ihre Daten im Interesse der Bürger geschützt oder als öffentliches Gute deklariert werden. Zudem muss auch eine Strategie entstehen, die den Staat beziehungsweise relevante öffentliche Aufgaben selbst als integrative (und partizipative) Plattform definieren, um deren Funktionalität und Daten für das Gemeinwohl zu nutzen.