Der Populist ist der Yeti der politischen Debatte – alle sprechen über ihn, aber wirklich gesehen hat ihn noch niemand. Für die einen ist ein Populist ein Mensch, der gegen Eliten und das Establishment ist. Der Populist stilisiert sich in diesem Fall als Vertreter des wahren Willens des Volkes – gegenüber einer korrupten Elite. Für andere ist Populismus vor allem ein polarisierender, emotionaler und simplifizierender Kommunikationsstil oder einfach nur eine Ideologie ohne inhaltlichen Kern. Politische Bewegungen zugeschnitten auf eine Führungsperson sind für viele ein weiterer Wesenszug des Populismus.
Diese Definitionsversuche haben eines gemeinsam: Sie sagen praktisch nichts aus. Träfen sie zu, dann wären fast alle Politikerinnen und Politiker Populisten. Elitenkritik ist Teil von Demokratie. Die Behauptung, Interessensvertreter des Volkes zu sein, gehört in das Standardrepertoire der politischen Auseinandersetzung. Vereinfachung ist ein notwendiges Stilmittel, um komplexe Sachverhalte zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Emotionen gehören genauso zur Politik wie das rationale Argument. Die Beliebigkeit des Populismusbegriffs ist aber nicht nur ein akademischer Lapsus, sondern ein handfestes Problem – für die Demokratie und den politischen Diskurs. Obwohl es ihn nicht gibt, richtet dieser Yeti ernsten Schaden an.
Der Begriff Populismus verschleiert Angriffe auf die Demokratie. Bei Donald Trump – gemeinhin der Prototyp eines Populisten – ist es weniger ein Problem, dass er vereinfacht, sich als Vertreter der stillen Mehrheit stilisiert oder polarisiert. Das Problem ist, dass er die Demokratie angreift. Er erkennt das Ergebnis demokratischer Wahlen nicht an, diskreditiert Medien, verunglimpft Gerichte und würdigt Minderheiten herab. Dies sind Frontalangriffe auf den Kernbestand der US-amerikanischen Demokratie, die aber hinter der Einordnung Trumps als Populisten verschwimmen. Die Bezeichnung „Populist“ suggeriert, dass Trump etwas Populäres oder Volksnahes tut – nicht etwas Antidemokratisches.
Der Begriff „Populismus“ verschleiert Angriffe auf die Demokratie.
Ähnlich verhält es sich bei Viktor Orbán – einem anderen Populisten aus dem Lehrbuch. Auch hier ist es das kleinere Problem, dass er sich als Verteidiger Ungarns, seiner Kultur, des Glaubens oder von Traditionen geriert. Das eigentliche Problem ist, dass er demokratische Wahlen unterläuft, der Opposition Chancengleichheit verwehrt, Referenden für seine Zwecke missbraucht, den Handlungsspielraum für Zivilgesellschaft einschränkt oder die Unabhängigkeit von Gerichten unterminiert.
Der Begriff Populismus verharmlost aber nicht nur Angriffe auf Demokratie, er spaltet auch und schwächt damit die Demokratie. Es ist der Hauptzweck des Populismusvorwurfs, die andere Seite zu diskreditieren. Der Vorwurf soll die andere Seite etwa als wissenschaftsfremd, anfällig für einfache Botschaften, undemokratisch oder irgendwie unappetitlich abwerten. Er suggeriert einen Gegensatz zwischen dem vernünftigen und liberalen Teil der Gesellschaft und einem frustrierten und emotionalisierten Teil. Diese „Achse von Populismus und Anti-Populismus“ ist mittlerweile eine der großen Trennlinien in westlichen Demokratien.
Ironischerweise pflegt auch der liberale Teil des politischen Spektrums diese Trennlinie. Der Begriff Populismus ist hier weitverbreitet. Übliche Reaktionen auf Populismus sind Formulierungen wie „die Bürger müssen abgeholt werden“ oder „ihre Ängste und Sorgen müssen ernst genommen werden“ –, was in der Regel den unausgesprochenen Subtext beinhaltet, dass diese Sorgen eigentlich unbegründet oder gar fehlgeleitet seien. Dieser pädagogische Politikstil baut keine Brücken, sondern er trennt.
Eine andere Form dieses Paternalismus sind politische Strategien, die maßgeschneidert auf populistische Herausforderungen reagieren sollen. Mit ihrem pädagogischen Blick auf Mitbürger vertiefen auch sie Trennlinien und erschweren offene Debatten auf Augenhöhe. Sie laden dazu ein, über die andere Seite zu sprechen, aber nicht mit ihr. Sie helfen damit ausgerechnet denen, die eine offene Sachdebatte meiden und von den schrillen Gegensätzen der Populismusdebatte leben.
Der Populismusbegriff ist aber nicht nur schädlich, sondern auch überflüssig.
Es ist ein weiteres Problem des Populismusbegriffs, dass er sehr unterschiedliche Gruppen unter einer Überschrift zusammenschnürt. Parteien so unterschiedlich wie etwa die FPÖ in Österreich, die AfD hierzulande, die PiS in Polen, Griechenlands Syriza, oder die italienische Fünf-Sterne Bewegung werden als Populisten bezeichnet. Wenn die Zerschlagung des Establishments einen Populisten definiert, dann wäre Macron einer der erfolgreichsten seiner Generation. Er hat die französische Parteienlandschaft durcheinandergewirbelt. Wenn aber fast überall Populisten lauern, dann erscheint Demokratie von allen Seiten auf diffuse Weise angegriffen. Das verunsichert und macht orientierungslos.
Schließlich untergräbt der Populismus einen Pfeiler von Demokratie: Pluralismus. Der Begriff Populismus suggeriert, dass eine Meinung außerhalb des demokratischen Spektrums steht. Demokratie ist aber ein großes Zelt, in dem sehr viele Meinungen Platz haben. Nur extremistische Positionen, die etwa Hetze gegen Minderheiten oder die Ablehnung demokratischer Institutionen beinhalten, sind undemokratisch und befinden sich deshalb außerhalb des Zeltes. Nationale Gesetze, das Völkerrecht und Resolutionen der UN-Generalversammlung definieren die Grenzen des demokratischen Spektrums auf ziemlich zuverlässige Weise. In seiner Pauschalität und Diffusität geht der Populismusvorwurf aber weit über diese Grenzen hinaus. Damit verengt er das Spektrum zulässiger demokratischer Meinungen und unterläuft Pluralismus.
Der Populismusbegriff ist aber nicht nur schädlich, sondern auch überflüssig. Für die Eigenschaften, die Populisten vorgeworfen werden, gibt es präzisere und politisch schlagkräftigere Begriffe. So ist Antipluralismus die deutlich bessere Bezeichnung, wenn es darum geht, den Alleinvertretungsanspruch des Volkswillens zu beschreiben. Völkisch und identitär sind die richtigen Begriffe, wenn es um einen angeblich homogenen Volkskörper geht. Autoritär passt besser, wenn der Führungskult einer Bewegung kritisiert wird.
Die vielen Probleme des Populismusbegriffs sind beschrieben, aber es werden nur selten Konsequenzen aus diesen Einsichten gezogen. Der Begriff wird weiterhin genutzt, das Problem bleibt also ungelöst. Das Einzige, was hilft, ist, den Begriff in der politischen Debatte nicht mehr zu verwenden. Populismus sollte also zum P-Wort des politischen Diskurses werden. Leserinnen und Leser von Harry Potter würden sagen, dass das P-Wort der Begriff sei, dessen Name nicht genannt werden darf. In der politischen Debatte muss deutlicher zwischen denjenigen Meinungen unterschieden werden, die politisch nicht geteilt werden, und solchen, die undemokratisch sind.