In der Debatte über die Gefährdung der Demokratie steht immer wieder die Herausforderung von Rechtsaußen im Fokus. Und sicher: In Zeiten, in denen sich ein abgewählter US-Präsident weigert, seine Wahlniederlage anzuerkennen, ist der Kampf freiheitlicher Kräfte gegen die Bedrohung von rechts unabdingbar. Doch auch in Teilen der Linken sind fragwürdige antifreiheitliche und antidemokratische Tendenzen zu beobachten, die in aufgeklärten Kreisen aber allzu oft ausgeblendet werden. Als „threat from the illiberal left“ bezeichnete der Economist vor einigen Wochen diese Bedrohung. Aber dort, wo es darauf ankommt, löste er damit bislang keinen Prozess der Selbstkritik aus, sondern eher Augenrollen und Entrüstung.

Das Abwenden von einem demokratischen Ideal auch und gerade in den fortschrittlichen Milieus westlicher Gesellschaften aber ist bedenklich. Denn es fällt in eine Zeit, in der die Demokratie ohnehin einer einzigartigen Bedrohung ausgesetzt ist. In einem perfekten Sturm aus Pandemie, Autoritarismus, Digitalisierung und Klimakrise finden sich heute neue und alte Feinde der Freiheit zusammen. Traditionelle Fürsprecher der Freiheit jedoch stemmen sich diesen Gefahren bislang nur reichlich selektiv entgegen. Allzu oft senken fortschrittliche Stimmen aus vermeintlich besten Gründen eher den Daumen über ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Ideal.

Auch in Teilen der Linken sind fragwürdige antifreiheitliche und antidemokratische Tendenzen zu beobachten, die in aufgeklärten Kreisen aber allzu oft ausgeblendet werden.

Die einzigartigen Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Pandemie in westlichen Demokratien etwa wurden von progressiver Seite nur höchst selten infrage gestellt. Statt Reflexion waren hier eher Reflexe zu beobachten. In dem Maße, in dem die Coronapolitikmuster von der extremen Rechten abgelehnt wurden, diskreditierten Teile des progressiven Lagers nahezu jede kritische Äußerung als politische Fahrlässigkeit. Im Resultat erfolgte eine Pandemiebekämpfung, die sich wesentlich am autoritären Vorbild Chinas orientierte, ohne dass dies von progressiven Stimmen im „Krieg gegen das Virus“ auch nur als sonderlich problematisch thematisiert wurde. „Follow the science“ lautet die Devise, als ob die Wissenschaft der Politik die Verantwortung abnehmen könnte.

Dabei aber wird übersehen: Am Ende der Technokratie der vermeintlich rationalen Alternativlosigkeit steht erfahrungsgemäß nicht eine sakrosankte Politik, sondern eine Öffentlichkeit, die die Technokratie als demokratischen Sündenfall erlebt. Wer wird den Kampf gegen die pauschalen, oft willkürlichen und blindwütigen Maßnahmen der Übergriffigkeit aufnehmen, denen stets eine Tendenz zur Verstetigung innewohnt? Ist es nicht bezeichnend, dass ausgerechnet die Milieus, die bis vor Kurzem noch das Vorzeigen von Reisepässen an Staatsgrenzen für eine anachronistische Zumutung hielten, nun das dauerhafte Präsentieren von Impfbescheinigungen bei jeder Alltagsbesorgung für alternativlos halten?

Bislang hat es nicht den Anschein, als ob Impulse zur Befreiung von einer überbordenden Pandemiebürokratie in besonderem Maße von progressiven Kräften ausgehen würden. Der Grundsatz „Sicher ist sicher“ aber ist eine denkbar ungeeignete Richtschnur zur Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung.

In einem perfekten Sturm aus Pandemie, Autoritarismus, Digitalisierung und Klimakrise finden sich heute neue und alte Feinde der Freiheit zusammen.

Auch in Bezug auf die aktuellen identitätspolitischen Kulturkämpfe ist in Teilen der aktivistischen Linken eine Hinnahme von ideologischen Versatzstücken zu beobachten, die emanzipatorischen Ansätzen zuwiderlaufen. Statt auf die freiheitliche Entfaltung des Individuums und das Ideal einer Gesellschaft ohne Diskriminierung setzen progressive Stimmen hier auf essentialistische Gruppenidentitäten und auf ergebnisgleiche Equity, die den Werten der Selbstbestimmung und der Gerechtigkeit zuwiderlaufen. Eine Abkehr vom Universalismus aber untergräbt Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität egal ob sie auf der Rechten oder der Linken betrieben wird. Doch während die Tücken rechtsidentitärer Ideologien zu Recht in aller Munde sind, werden die identitätspolitischen Ansätze des wokeism weiterhin reichlich selektiv problematisiert.

Kritik an politischer Korrektheit, cancel culture und wokeness müsse endlich aufhören, forderte zuletzt etwa Jan-Werner Müller und steht damit für viele. „Was ist mit einem Liberalismus los, der meint, in Zeiten, da in China, Indien und Brasilien Autoritäre stetig ihre Macht ausbauen, vor allem auf eine vermeintlich radikale linke Minderheit eindreschen zu müssen?“ Natürlich ist der Hinweis auf antifreiheitliche Tendenzen weltweit nur zu gerechtfertigt. Aber lautet nicht eine mindestens ebenso drängende Frage: Was ist eigentlich mit einem Liberalismus los, der auf Kritik nicht mit Selbstreflexion reagiert, sondern nur mit wütendem Fingerzeig auf andere? Gibt es mit „whataboutism“ auf Planet Woke nicht mittlerweile sogar einen eigenen Begriff für den Versuch, unbequeme Diskussionen auf andere Themenfelder zu lenken?

Umfragen in zahlreichen westlichen Staaten belegen, dass weite Teile der Öffentlichkeit mittlerweile davor zurückschrecken, politische Meinungen offen zu artikulieren.

Deutlich ist dies auch im Ringen um die Meinungsfreiheit zu beobachten. Umfragen in zahlreichen westlichen Staaten belegen, dass weite Teile der Öffentlichkeit mittlerweile davor zurückschrecken, politische Meinungen offen zu artikulieren. In den USA etwa belegt eine Umfrage von 2021 des libertären Cato Institute, dass 62 Prozent der Amerikaner „angesichts des herrschenden politischen Klimas“ darauf verzichten, ihre Meinung zu vertreten. Umfragen im Vereinigten Königreich aus dem Februar 2021 belegen, dass derzeit gerade einmal 12 Prozent der Menschen davon überzeugt sind, kontroverse Fragen zu Migration oder Transgender offen diskutieren zu können. Und auch in Deutschland sorgte eine Umfrage vom Juni 2021 für Aufsehen, wonach hier gerade noch 45 Prozent der Bürger der Auffassung sind, man könne seine Meinung frei sagen.

Auffällig ist dabei, dass Selbstbeschränkung der Meinungsäußerung auf der Rechten und auf der Linken nicht gleichermaßen zu Protokoll gegeben wird. Konservative Stimmen scheinen den Druck der öffentlichen Meinung viel stärker zu empfinden als Progressive. Mit Abstand am wenigsten Anpassungsdruck nehmen in Deutschland Anhänger der Grünen wahr. Und auch in den USA belegt die Umfrage des Cato Institute, dass einzig die Gruppe der „sehr Liberalen“ mehrheitlich der Auffassung ist, ihre Meinung jederzeit offen ausdrücken zu können. Ein vorurteilsfreier Blick auf solche Daten sollte progressiven Kräften zu denken geben. Denn wenn maßgebliche Teile des progressiven Lagers am Ideal der freien Meinung festhalten, sind sie augenscheinlich nicht besonders erfolgreich darin, die eigene Duldsamkeit gegenüber abweichenden Stimmen überzeugend zu kommunizieren.

Und die Klimakrise? Hier ist rasches Handeln angesichts eines desolaten Status quo zweifellos erforderlich. Doch auch hier sind in Teilen des progressiven Camps Tendenzen zu beobachten, die die demokratische Nachhaltigkeit des Klimaschutzes langfristig eher reduzieren als befördern. Freiheit wird hier nicht mehr als Trumpfkarte zur Mobilisierung von Innovation bewertet, sondern als endliches Gut und letztlich als politische Verantwortungslosigkeit. Demokratische Prozesse stehen im Verdacht, vor der Größe der Aufgabe zu kapitulieren. Notstände, das Umgehen parlamentarischer Arbeit über den Gerichtsweg und massive Einschränkungen von Freiheitsrechten sind hier zunehmend das Mittel der Wahl.

Freiheit wird nicht mehr als Trumpfkarte zur Mobilisierung von Innovation bewertet, sondern als endliches Gut und letztlich als politische Verantwortungslosigkeit.

Freiheit sei in Zeiten des Klimawandels „nun nicht mehr nur etwas, das man lebt und gegen den Staat geltend machen kann, Freiheit ist nun auch etwas, das man materiell und physisch verbrauchen kann. Und nicht darf“, jubelt etwa Bernd Ulrich in Bezug auf das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. Freiheit als Verbot: Das aber klingt indes weniger nach Aufbruch in eine verheißungsvolle Zukunft als vielmehr nach altbekannten totalitären Euphemismen, die auch Bernd Ulrich bekannt vorkommen müssten.

Corona-Ausnahmezustände, die Fesseln der Identitätspolitik, und die allgegenwärtig verkündeten Alternativlosigkeiten der Klimakrise: Das Abwenden von Teilen des progressiven Milieus vom Ideal der Freiheit könnte umfassender kaum ausfallen. Das aber ist so gefährlich wie tragisch, denn gerade auf der Linken kann Freiheit als wirklich allgemeiner Wert gedacht werden, der eben nicht auf die Stärkung von Sonderrechten für Eliten, identitäre Gruppen oder einen monolithisch begriffenen Volkskörper abzielt, sondern die Freiheit aller meint und in den Blick nimmt.

Gerade wenn die Freiheit in diesen Tagen der Krisen von falschen Freunden vereinnahmt und gefeiert wird, ist es die Pflicht der weltoffenen Stimmen, dieses gesellschaftliche Ideal nicht sang- und klanglos aufzugeben, sondern wiederzuentdecken. „Wir können allenfalls darauf hoffen, dass die Freiheit in einem politischen Sinn nicht wieder für Gott weiß wie viele Jahrhunderte von dieser Erde verschwindet“, beendet Hannah Arendt ihr großes Plädoyer „Die Freiheit, frei zu sein“. Wir aber sollten nicht nur hoffen, sondern engagiert für freiheitliche Prinzipien Position beziehen. Gerade als Stimmen, die sich für Demokratie, Gerechtigkeit und Zusammenhalt stark machen, fangen wir damit am besten an einem ganz bestimmten Ort an: vor der eigenen Haustür.

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Essay „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“, der im Oktober 2021 im Dietz-Verlag erscheinen wird.