Deutschland ist gespalten – so eine verbreitete Meinung. Unterschiedliche Ansichten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Spaltung des Landes hat in den letzten Jahren zugenommen. Wegen der hohen Energiepreise werde sich die Spaltung im Winter vertiefen. Es drohe ein Wutwinter.

Aber stimmt das Bild eines gespaltenen Landes?

Große Mehrheiten – 78 Prozent – ordneten sich 2021 in der politischen Mitte ein. Diese starke Orientierung auf die Mitte ist nichts Neues, sondern eine Konstante deutscher Politik. Seit 1976 – dem Beginn der Daten­­­­­­­erhebung – haben sich immer mehr als 70 Prozent in der politischen Mitte eingeordnet. Seit 2013 haben die politischen Ränder zwar mehr Zuspruch erhalten, aber dieser ist nur wenige Prozentpunkte höher als in den Jahren zuvor und bleibt schwächer als in den 1980er Jahren. Große Mehrheiten ziehen zudem Kompromisse der harten Durchsetzung eigener Positionen vor. Auch bei vielen gesellschaftlichen Fragen – etwa bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder den Rechten homosexueller Menschen – ist Deutschland über die Jahre toleranterer geworden.

In der Bundesrepublik gibt es 13 unterschiedliche Koalitionskombinationen.

Aber nicht nur Umfragen sprechen gegen das Bild eines gespaltenen Landes, sondern auch die politische Farbenlehre Deutschlands. In der Bundesrepublik gibt es 13 unterschiedliche Koalitionskombinationen. Ampel, Kenia, Jamaika oder Deutschland illustrieren einige Kombinationen. Mit Ausnahme der AfD koalieren alle großen Parteien miteinander. Linke, FDP oder CDU haben bisher keine Regierung gebildet. In einem gespaltenen Land wäre es kaum vorstellbar, dass fast alle Parteien Koalitionen bilden. In Deutschland gibt es den Vorwurf, Parteien seien zu gleich und nicht unterscheidbar – also nicht ausreichend polarisiert.

Gegen das Bild eines gespaltenen Landes spricht auch, dass Wechselwähler über die Jahre immer mehr wurden, Stammwähler aber immer weniger. Eine Spaltung hätte entweder stramme Zugehörigkeit zu einer Partei oder aber eine entschiedenere Abkehr von der jeweiligen alten Partei erwarten lassen. 
Wie erklärt sich dieses widersprüchliche Bild?

Spaltung und Spannungen machen Nachrichten – Konsens und Kompromiss nicht unbedingt.

Zuspitzungsinstinkte der Medien sind ein Grund. Spaltung und Spannungen machen Nachrichten, Konsens und Kompromiss nicht unbedingt. Soziale Medien sind ein weiterer Faktor. Aufregung, Gegensätze und Klicks sind dort die Währung. 
Es ist aber vor allem eine oft pauschale und undifferenzierte Debatte, die immer wieder das missverständliche Bild der „tiefen Spaltung“ bedient.

Der Begriff „Spaltung“ suggeriert eine Trennlinie, die mitten durch das Land läuft. Es stehen sich zwei etwa gleich große Lager gegenüber. Tatsächlich verläuft die Trennlinie in Deutschland aber vor allem zwischen der AfD und den übrigen Parteien. Mit ihrem grundsätzlichen Misstrauen gegen staatliche Institutionen, gegen viele Medien oder mit ihren Ressentiments gegen Minderheiten hat sich die AfD vom Grundkonsens der Mehrheit abgespalten. Aber dies ist keine Spaltung des Landes, sondern eine Abspaltung einer Minderheit.

Harte Auseinandersetzungen sind Teil der Demokratie. Manchmal fliegen die Fetzen. Aber nicht jede harte Auseinandersetzung ist eine Spaltung – sprich kaum überbrückbare Differenzen bei demokratischen Grundfragen. In der deutschen Debatte fällt es vielen schwer zu unterscheiden: Was ist eine harte Debatte und wann beginnt die Spaltung?

Proteste gegen Energiepolitik werden schnell und aufgeregt in die Nähe von Extremismus gerückt. 

Protest gegen hohe Energiepreise ist ein demokratisches Recht. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind Inflation und Lebenshaltungskosten zentrale Fragen, um die gerungen werden muss – auch auf der Straße. Aber Proteste gegen Energiepolitik werden schnell und aufgeregt in die Nähe von Extremismus gerückt. Anstatt das eigentliche Problem in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, verkehrt sich die Debatte so automatisch in eine Auseinandersetzung „wir gegen die“. Der Einsatz in der Debatte wird überhöht und grundsätzlicher. Es wird schwerer, der anderen Seite Gehör zu geben. Die Debatte wirkt spaltend.

Wie bei der Corona- und Ukrainedebatte ist es merkwürdigerweise auch die politische Mitte, die diese Gegensätzlichkeit bedient. Sie schmeißt Kritiker der Coronamaßnahmen, Querdenker, Nazis und andere Gruppen oft zusammen. Sie ist empört, dass der politische Rand Energiepreise und Inflation „für seine Zwecke nutzt“. Dies mag im Einzelfall problematisch sein, aber ist es nicht auch demokratische Normalität, dass alle politischen Gruppen – auch extreme – Krisen zur Mobilisierung nutzen?

In der Debatte wird außerdem oft von einer Spaltung der westlichen Demokratien gesprochen – der Sturm des Kapitols im Januar 2021 wurde hierfür das Sinnbild. Die erheblichen Unterschiede zwischen den Ländern werden damit unsichtbar.

Anders als in Deutschland sehen sich in Frankreich nur 36 Prozent der politischen Mitte zugehörig und 20 Prozent bezeichnen sich als „extrem“. Noch extremer ist die Spaltung in den USA. Dort stehen sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich gegenüber. Bei fundamentalen Fragen – wie etwa beim Ausgang von Wahlen, Vertrauen in staatliche Institutionen oder Medien – haben große Teile der Republikaner den demokratischen Grundkonsens aufgekündigt.

Es ist ein Problem für Demokratie, wenn Spaltung die öffentliche Wahrnehmung dominiert und Gemeinsamkeiten kaum wahrgenommen werden. 

In der deutschen Debatte wird schließlich kaum thematisiert, dass das politische System Deutschlands kaum eine politische Dividende auf Polarisierung und Spaltung auszahlt. Wegen des deutschen Verhältniswahlrechts sind absolute Mehrheiten sehr selten; Koalitionen sind die Regel. In diesem System ist es für fast alle Parteien politscher Selbstmord, nicht kompromissfähig zu sein. Der föderale Aufbau Deutschlands schafft weitere Anreize für Kompromisse. Das politische System ist also auf Kompromiss angelegt – anders als in den USA, wo parteiinterne Vorwahlen, Gerrymandering und das Electoral College extreme Positionen belohnen.

Dieses differenzierte Bild ist keine Entwarnung für Deutschland.

Es ist ein Problem für Demokratie, wenn Spaltung die öffentliche Wahrnehmung dominiert und Gemeinsamkeiten kaum wahrgenommen werden. Außerdem: Nichts ist ewig. Eine starke politische Mitte und schwache Ränder in der Vergangenheit sind keine Gewähr für die Zukunft. Mit einer zersplitterten Medienlandschaft ist Meinungsbildung fragmentierter als je zuvor – für Demokratie und Zusammenhalt eine große Herausforderung.

Eine differenziertere Debatte, die die Komplexität gesellschaftlichen Zusammenhalts in den Blick nimmt, kann helfen. Sie zeichnet ein genaueres Bild und hilft, Gefahren für Zusammenhalt und Demokratie zu erkennen und abzuwehren. Mehr Gelassenheit und Selbstvertrauen in die eigene Stärke im Umgang mit extremen Gruppen helfen auch – wie etwa Norwegen oder Finnland zeigen. Dort wurden Erfolge extremer Parteien nicht als Demokratiedämmerung verstanden.