Vor mehr als einem Jahr, im Februar 2020, trug ein wesentlicher Umstand zur raschen Verbreitung des neuartigen Coronavirus in Norditalien bei, der mittlerweile fast wieder in Vergessenheit geraten ist: Zehntausende chinesische Näherinnen und Näher ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die in den großen Modemetropolen des Landes unter teils menschenunwürdigen Bedingungen tätig waren, hatten weder Krankenversicherung noch Zugang zur Gesundheitsversorgung. Im Falle einer Infektion konnten sie sich weder kostenfrei testen lassen noch ausreichend isolieren.
Aus Angst vor Abschiebung und hohen Kosten blieb ihre Erkrankung unbehandelt, in den engen Behausungen und Arbeitsstätten wurde das Virus rasch weitergegeben. Das hatte, wie sich bald zeigte, dramatische Konsequenzen für die gesamte italienische Bevölkerung, nicht nur für die betroffene Gruppe von marginalisierten, undokumentierten Migrantinnen und Migranten.
Diese Anekdote vom Beginn der Coronakrise verdeutlicht, wie wichtig ein niederschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem für alle im Land lebenden Menschen ist, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. „Gesundheitsschutz beruht nicht nur auf einem gut funktionierenden Gesundheitssystem mit universeller Abdeckung, sondern auch auf sozialer Inklusion, Gerechtigkeit und Solidarität. [...] Spaltung und Angst vor Fremden führen zu schlechteren Ergebnissen für alle“, so der Tenor eines Artikels in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet zum Höhepunkt der ersten Covid-19-Welle.
Doch auch, wenn nicht gerade eine globale Pandemie herrscht, tun wir gut daran, im eigenen Interesse Ungleichheiten zu reduzieren und diejenigen ins „Wir“ aufzunehmen, die bisher davon ausgeschlossen waren. Dafür gibt es vielfache empirische Evidenz: Beenden wir Ausgrenzung und stärken die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, so stärken wir alle.
Beenden wir Ausgrenzung und stärken die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, so stärken wir alle.
Auf den ersten Blick mag das wie die abwegige Fantasie einer Sozialromantikerin wirken. Denn rein pragmatisch könnte man meinen, dass es einem als Mitglied der obersten Einkommensklasse reichlich egal sein könne, wie viel (oder wenig) die Mitbürgerinnen und Mitbürger verdienen, ob sie den gleichen Zugang zu Grundrechten genießen wie man selbst und ob sie mit denselben Chancen geboren werden – Hauptsache, man selbst hat seinen Pool, seine Villa, seine SUVs.
Wenn sich dieser Umstand aber darin äußert, dass man all diesen Luxus nur in seiner engen gated community genießen kann, wie es beispielsweise in Südafrika oder Teilen der USA der Fall ist, so stellt sich die Frage, was man denn davon hat, zum privilegierten Wir zu gehören, wenn so viele andere Menschen ganz offenkundig ausgeschlossen sind.
Denn tatsächlich belegen zahlreiche empirische Befunde, dass Länder mit einer größeren sozialen Ungleichheit eine höhere Kriminalitätsrate haben. Je höher der sogenannte Gini-Koeffizient, ein Index zur Messung der (Un-)Gleichheit in der Verteilung von Vermögen bzw. Einkommen innerhalb sowie zwischen einzelnen Ländern, desto höher sind auch die Mordraten. Diese einfache statistische Korrelation ist vielfach belegt, unter anderem im Rahmen umfassender Studien der Weltbank. Sie hängt damit zusammen, dass durch zunehmende Ungleichheit vor allem niedrig qualifizierte Männer bestimmte gesellschaftliche Statusmarker verlieren, darunter ein guter Job, ein gesichertes Einkommen und die Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren.
Arbeitslosigkeit und damit verbundener Statusverlust sind der ideale Nährboden für Delikte, die aus dem Gefühl entstehen, nicht „dazuzugehören“. Dazu zählen allen voran Mord und Totschlag, die häufig auf emotionaler Zurückweisung oder gekränktem Ehrgefühl basieren. Während Zahlen für Deutschland fehlen, zeigt eine Analyse des FBI für die Vereinigten Staaten, dass etwa die Hälfte aller Morde nicht einer vorhergehenden Tat (Drogenhandel, Raub, häusliche Gewalt oder finanzielle Auseinandersetzungen) zuzuschreiben ist, sondern dem sogenannten „other argument“ – der simplen Tatsache, dass sich der Mörder in seiner Ehre gekränkt gefühlt hat.
Arbeitslosigkeit und damit verbundener Statusverlust sind der ideale Nährboden für Delikte, die aus dem Gefühl entstehen, nicht „dazuzugehören“.
Waffenbesitz und die soziale Bedeutung von „Ehre“ steigen mit zunehmender sozialer Ungleichheit und sind damit mehr durch Ausgrenzung denn durch kulturelle oder religiöse Gründe bedingt. Nimmt man Menschen durch Ausgrenzung die Möglichkeit, sozialen Status und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen und persönlich wie beruflich voranzukommen, so greifen vor allem Männer aufgrund tiefsitzender patriarchaler Strukturen auf andere Möglichkeiten zurück, um sich Respekt zu verschaffen.
In den USA widmet sich mittlerweile ein eigener Forschungsbereich den systemischen Kosten von struktureller Diskriminierung und Ungleichheit, die alle Bürgerinnen und Bürger (nicht nur Schwarze) zahlen müssen. In der 250-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten gibt es zahllose drastische Beispiele. So wurden zum Beispiel im Rahmen der verfassungsrechtlich angeordneten desegregation in den späten 1950ern zahlreiche öffentlich finanzierte Anlagen, von Schwimmbädern bis Parks, geschlossen, anstatt sie, wie es eigentlich im Sinne der Gesetzgebung zur Beendigung der Rassentrennung gewesen wäre, für Schwarze zu öffnen.
Lieber nahmen es Stadtverantwortliche in Kauf, dass auch Weiße keine Erholungsflächen mehr hatten, als dass sie einer gemeinsamen Nutzung und damit dem vermehrten Kontakt von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zugestimmt hätten. Bis heute sind zahlreiche der damals geschlossenen Anlagen, darunter auch ganze Zoos und Freizeitparks, nicht wieder eröffnet oder neu errichtet worden. Dieses Vorgehen lässt sich weder wirtschaftlich noch rational erklären, sondern es zeigt, wie allgegenwärtig, durchdringend und nachhaltig struktureller Rassismus ist und welche tatsächlichen Kosten er für alle Menschen hat, selbst wenn manche auf der individuellen Ebene davon profitieren, weil sie weiß sind.
Von einem größeren, inklusiveren Wir profitieren also nicht nur die, die vormals davon ausgeschlossen waren.
Die Liste an negativen Auswirkungen von Ausgrenzung und Ungleichheit für alle Einwohner eines Landes, unabhängig von ihrer tatsächlichen Hautfarbe oder ihren konkreten Vermögens- und Besitzverhältnissen, ließe sich fast endlos fortsetzen. Ausgrenzung und Marginalisierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen lassen Vertrauen in Gesetze und Institutionen erodieren, schädigen die psychische und körperliche Gesundheit, steigern exzessiven Konsum, Drogenhandel und Übergewicht, wirken sich negativ auf Arbeitszeiten aus und führen zu mehr Gefängnisinsassen. Sie haben eine schlechtere Politikgestaltung und eine schlechtere Wirtschaftslage zur Folge.
Von einem größeren, inklusiveren Wir profitieren also nicht nur die, die vormals davon ausgeschlossen waren. Auch jene, die dank ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder anderer Merkmale immer schon Teil des Wir waren und damit einhergehende Privilegien genießen durften, ziehen unmittelbare Vorteile daraus, wenn die vormals „Anderen“ ins Wir aufgenommen werden.
Zugespitzt formuliert gilt es, nicht nur aus hehren Motiven der Zivilcourage und der Solidarität, sondern schon allein aus banalem Eigennutz für die radikale Öffnung und Erweiterung des Wirs einzutreten. Denn wie die oben genannten Beispiele verdeutlichen, lässt sich empirisch zweifelsfrei nachweisen, dass alle davon profitieren, wenn nicht nur privilegierte Gruppen, sondern jede und jeder Einzelne Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit hat. Eine gleichberechtigtere Welt ist nämlich auch eine sicherere, gesündere und lebenswertere Welt – für alle.