Frauen frieren in Zügen und Großraumbüros, weil die Klimaanlage auf das Kälteempfinden von Männern ausgerichtet ist. Sie verbringen die gesamte Theaterpause (als Theaterbesuche noch möglich waren) in der Warteschlange, weil zu wenige Toiletten da sind. Was eher als eine Lästigkeit erscheinen mag, ist in vielen Ländern der Welt ein lebensbedrohliches Problem: das Fehlen von öffentlichen Toiletten für Frauen. In einigen Bundesstaaten Indiens haben Frauen keinen Zugang zu Toiletten und verschwenden wertvolle Lebenszeit damit, einen sicheren Ort zu suchen. Wenn sie ihn nicht finden, werden sie oft sexuell belästigt oder gar getötet.

Von städtischen Behörden werden die besonderen Bedürfnisse von Frauen nicht erfasst und daher auch nicht berücksichtigt. Doch das Problem ist umfassender. In sehr vielen Bereichen werden keine nach Geschlecht getrennten Daten erhoben: etwa in der medizinischen Forschung, die der Einfachheit halber meist auf Männer ausgerichtet ist. Oder bei der Verkehrsplanung, die dem überwiegend von Männern genutzten Auto den Vorzug gibt, obwohl die Mehrzahl der Frauen – global betrachtet – zu Fuß oder per Rad unterwegs ist. Wer kennt das nicht, wenn im Winter zuerst die Straßen geräumt werden, obwohl die meisten Unfälle auf Gehwegen passieren.

Die britische Autorin und Feministin Caroline Criado-Perez hat in ihrem Buch Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert auf knapp 500 Seiten massenweise Fakten und Daten aus allen Lebensbereichen, Kulturen und Erdteilen zusammengetragen. Criado-Perez zeigt die immense Datenlücke zum Nachteil von Frauen am Arbeitsplatz, beim Design von Gebrauchsgegenständen, in der Medizin und im öffentlichen Leben auf. Die allgegenwärtige Diskriminierung von Frauen wird mit nüchternen Zahlen untermauert. Und diese belegen, was man bisher nur vermutet hat: Die Welt ist nicht nur teilweise, sondern fast ausschließlich auf Männerbedürfnisse ausgerichtet. Sie nennt es „One-size-fits-men“.

Dass die Datenlücke so schwerwiegend ist, liegt auch daran, dass wir uns im digitalen Zeitalter befinden. Daten sind das Gold dieser Ära. Mit Daten kann man viel Geld verdienen und auf ihrer Basis werden jeden Tag weitreichende Entscheidungen gefällt. Deswegen macht es einen gewaltigen Unterschied, ob für einen Algorithmus Daten von Männern oder von Frauen herangezogen werden, und mit welchen Daten Künstliche Intelligenz gefüttert wird.

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob für einen Algorithmus Daten von Männern oder von Frauen herangezogen werden, und mit welchen Daten Künstliche Intelligenz gefüttert wird.

Criado-Perez bringt das Beispiel Einstellungstests. Man fand heraus, dass stets Männer den Zuschlag bekamen, wenn Bewerbungen nur von KI ausgewertet wurden, weil sich sowohl die Fragen als auch die Antworten auf männliche Sichtweisen bezogen. Ein anderes Beispiel: Als das New York Philharmonic Orchestra das „blinde Vorspielen“ einführte, stieg die Zahl der Musikerinnen von 0 auf 45 Prozent. Dasselbe Phänomen kann bei der Annahme von wissenschaftlichen Aufsätzen beobachtet werden: Wenn weder Autorin oder Autor noch Gutachterin bekannt sind, werden mehr Aufsätze von Akademikerinnen angenommen und auch besser bewertet.

Auch bei der Gesundheit werden Frauen meist übersehen. Sie werden zum Beispiel bei einem Herzinfarkt falsch behandelt, weil sie oft „untypische“, das heißt nicht-männliche, Symptome zeigen. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall zu sterben, ist bei Frauen 17 Prozent höher als bei Männern. Warum? Weil bei Crashtests fast nur männerartige Puppen zum Einsatz kommen. Geräte und Maschinen in der Landwirtschaft werden auch nur für Männer designt. Männer sind meist größer, haben größere Hände und mehr Kraft. Frauen, die jeden Tag diese nicht passenden Geräte oder Maschinen benutzen, bekommen gesundheitliche Probleme und haben leichter Unfälle. Der Mann ist das Maß aller Dinge. Oder warum werden bei einem Arbeitsessen die Kosten für das Essen und das Hotel als Spesen erstattet, aber die Kosten für die Fahrt und den Babysitter nicht? Criado-Perez hat sehr viele solcher Beispiele zusammengetragen.

Durch das Nichterheben von Daten von und über Frauen werden millionenfach falsche Entscheidungen getroffen– fast immer zum Nachteil und zum Schaden von Frauen.

Die frohe Botschaft ist: Der Schalter kann umgelegt werden.

Die frohe Botschaft ist: Der Schalter kann umgelegt werden. Wenn der Wille da ist, kostet es nicht mehr Geld, Daten von Frauen und über Frauen zu sammeln, um sie in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Es kostet nicht mehr Geld, weibliche statt männliche Probanden für die Forschung zu nehmen. Es wäre in vielen Bereichen wirtschaftlich sinnvoll, Frauen stärker zu berücksichtigen. Da in unserer kapitalistisch geprägten Welt Einsparungen ein hohes Gut sind, kann das Argument, mit einer stärker auf Frauen ausgerichteten Infrastruktur und Forschung nicht nur Frauen gleich zu behandeln, sondern auch Kosten zu sparen, die Umsetzung wahrscheinlicher machen.

Damit dies geschieht, bedarf es aber vieler Stimmen, die die Schließung der „Gender Data Gap“ fordern. Vielleicht sind darunter auch jene Männer, die das flüssig und unterhaltsam geschriebene Buch gelesen haben und sich davon haben überzeugen lassen, dass ihre Sicht auf die Welt nicht die einzig richtige ist.

Ein paar (eher symbolische) Erfolge hatte die Autorin selbst: Dank ihrer Beharrlichkeit ist auf dem britischen 10-Pfund-Geldschein das Konterfei von Jane Austen zu sehen. Neben dem Porträt der Queen ist sie die einzige Frau auf einem britischen Geldschein. Auch erreichte Criado-Perez, dass – neben hunderten männlicher Statuen im ganzen Land – auf dem Parliament Square in London nun die Statue einer Frauenrechtlerin steht.